- Ein Fall von Diabetes mellitus
Fallvorstellung
79-jährige Patientin stellt sich in Ihrer Hausarztpraxis wegen Müdigkeit, Appetitreduktion, trockenem Mund und vermehrtem Durstgefühl vor. Die rüstige Rentnerin fühlt sich nicht mehr fähig den Haushalt zu machen, weil sie seit etwa einer Woche so schwach auf den Beinen ist. Wegen dem vermehrten Durstgefühl meint sie selber, dass sie einen Diabetes mellitus haben könnte, weil sie das von ihrer Grossmutter und Tante so kennt. Auf Nachfragen hat sie in den letzten 10 Jahren ungewollt ca. 10 kg an Gewicht verloren. Weil sie sich quasi nie bei Ihnen meldet, war das bis anhin unbemerkt. Sie ist immer obstipiert und kann das mit «Hausmitteln» und Bulboid-Zäpfchen (Glycerin) kontrollieren. Durchfall-Episoden, Fettstühle oder Oberbauchschmerzen hat sie nie. Alkohol trinkt sie nur selten an speziellen Anlässen.
Persönliche Anamnese
Hysterektomie und Appendektomie vor vielen Jahren, sonst gesund.
Medikation
Bulboid Supp bei Bedarf
Kytta Rheumasalbe bei Bedarf
Venostasin Salbe bei Bedarf
Status:
BD 140/68 mmHg, Puls 92 regelmässig, SO2 97%,
Temperatur 36.8°C,
Gewicht 55 kg,
Grösse 153 cm, BMI 23kg/m2
Herz-, Lungen- und Abdomenuntersuchung bland.
Labor:
HbA1c 12.3%, Plasmaglucose 17 mmol/l, Kreatinin 58 µmol/l, eGFR CKD-EPI 96ml/min
HDL-C 1.3 mM, TG: 1.1 mM, LDL-C 1.8 mM, TC 3.0 mM
Ketokörper im Urin: ++
Ferritin und Transferrinsättigung normwertig
normale Pankreas-1-Elastase im Stuhl.
Fragen:
1. Was wäre die beste Therapieoption?
A. Metformin
B. DPP4-Hemmer
C. SGLT2-Hemmer
D. Insulin
E. GLP1-Rezeptor Agonist
Richtige Antworten: C, D (Insulin ist nie falsch), E (Bei GLP-1 Rezeptor Agonist braucht es einen BMI > 28kg/m2)
2. Ist die Gabe eines SGLT-2 Hemmers wirklich das beste Vorgehen?
A. Nein, damit die Kassen bezahlen, muss der SGLT-2 Hemmer mit Metformin kombiniert werden.
B. Vor Einleitung der Therapie ist die erste und wichtigste Frage: Braucht die Patientin Insulin?
C. Bei einer so guten Nierenfunktion braucht es keinen SGLT-2 Hemmer, ein DPP-4 Hemmer wäre besser.
D. Therapie mit Metformin für 3-6 Monate. Nur wenn sich das HbA1c nicht senken lässt, Zugabe eines weiteren Medikamentes.
Beste Antwort B, A ist allerdings auch richtig. Nach neusten Empfehlungen ist eine frühe Kombinationstherapie von SGLT-2 Hemmern und GLP-1 RA mit Metformin empfohlen.
3. Welche Aussagen treffen zu (mehrere richtige Antworten möglich)
A. Normwertige Anti-GAD sind nicht vereinbar mit einem Diabetes mellitus Typ 1.
B. Erhöhte Ketonkörper im Urin sind beweisend für eine Ketoazidose.
C. Ein fehlendes metabolisches Syndrom mit Fehlen von viszeraler Adipositas, normalen Triglyzeriden und normalem HDL-C und Fehlen einer arteriellen Hypertonie spricht gegen einen Typ 2 Diabetes.
D. Ein Gewichtsverlust und ein hohes HbA1c ist typisch bei Insulinmangel.
E. Ein nüchtern gemessenes C-Peptid von 250 pmol/l spricht gegen einen absoluten Insulinmangel und gegen einen Typ 1 Diabetes.
Richtige Antworten: C und D
Diskussion:
Die Anamnese vom Gewichtsverlust, Polyurie und Polydipsie ist typisch für einen Insulinmangel. Bei der schlanken Patientin spricht das für ein absolutes Insulinsekretionsdefizit, weil keine periphere Insulinresistenz zu erwarten ist. Die erhöhten Ketonkörper im Urin repräsentieren das katabole Zustandsbild. Sie sind nicht spezifisch für eine Ketoazidose und können in allen Mangelernährungssituationen, auch bei kurzfristigem Fasten, erhöht sein wie in der aktuellen Situation. Das Fehlen eines metabolischen Syndroms (normale Lipide, normales Gewicht, normaler Blutdruck), der Gewichtsverlust und das hohe HbA1c sprechen für einen Typ 1 Diabetes. Eine Insulintherapie ist in dieser Situation die einzig richtige Option. Die Therapie mit einem SGLT-2-Hemmer in diesem Fall kann zu einer, typischerweise euglykämen, Ketoazidose führen.
Bezüglich dem Diabetes Typ besteht bei normalem Ferritin/Transferrinsättigung kein Hinweis auf eine Hämochromatose. Ohne Dyslipidämie ist eine periphere Insulinresistenz im Rahmen eines Diabetes mellitus Typ 2 unwahrscheinlich. Ohne gastrointestinale Symptome (Diarrhoe, Fettstühle etc.) und bei normwertiger Pankreas-1-Elastase im Stuhl ist ein pankreatopriver Diabetes ebenfalls unplausibel.
Zum biochemischen Nachweis eines Insulinmangels kann nüchtern ein C-Peptid zusammen mit der Glukose gemessen werden. Bei Werten < 0.3 nmol/l ist ein Mangel wahrscheinlich und bei einem Wert > 0.6 nmol/l eher ausgeschlossen. Bei einem HbA1c > 7.5% kann das C-Peptid erst nach Rekompensation beurteilt werden, weil hohe Plasmaglukosewerte zu glukotoxischer Hemmung der Insulinsekretion führen und dann falsch tiefe C-Peptid-Werte gemessen werden. Im geschilderten Fall wurde nach 3 Tagen Therapie mit Basis-Bolusinsulin-Therapie ein C-Peptid von < 0.1 nmol/l gemessen.
Zusammenfassend spricht alles für eine Neudiagnose eines Diabetes mellitus Typ 1, welcher in jedem Alter auftreten kann. Die im Verlauf deutlich erhöhten Anti-GAD-Antikörper beweisen die Diagnose. Normwertige Anti-GAD und übrige Diabetes mellitus Typ 1-Antikörper (Anti-IA2, Anti-ZnT8) schliessen einen Diabetes mellitus Typ 1 nicht aus, weil es auch Fälle von Typ 1 Diabetes gibt, welche keine positiven Antikörper haben (ca. 10%).
UniversitätsSpital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zurich
Roger.Lehmann@usz.ch
USZ Zürich
matthias.ernst@usz.ch
RL: Teilnahme an Advisory Boards und Referentenhonorare von Novo
Nordisk, Sanofi, MSD, Boehringer Ingelheim, Servier und Astra Zeneca.
ME: Reise- und Kongressspesen von Novo Nordisk, Eli Lilly und Ipsen.
Die erste Frage hinsichtlich Therapie eines neu diagnostizierten Diabetes mellitus: Benötigt der Patient Insulin? Bei schlanken Patienten mit Gewichtsverlust, Polyurie und Polydipsie und bei einem HbA1c >10% ist Insulin die Therapie der ersten Wahl. Grundsätzlich ist Insulin als erster therapeutischer Schritt nie falsch. Danach besteht genug Zeit für die Abklärung des Diabetestyps und entsprechend optimal angepasste Therapie.
der informierte @rzt
- Vol. 9
- Ausgabe 12
- Dezember 2019