Im Fokus

Vitamin D und Immunität

Einfluss des Vitamin-D-Status auf das Immunsystem

Der Zusammenhang zwischen Vitamin D und dem Schweregrad von COVID-19 ist Gegenstand zahlreicher Publikationen und wird derzeit intensiv diskutiert. Ein Symposium zu diesem Thema wurde von OM Pharma Schweiz auf dem FOMF Update Refresher in Lausanne mit Dr. Pierre Olivier Lang (MPH, PhD) als Experte und Referent organisiert.



Es ist bekannt, dass die Pathogenese von COVID-19 aus einem systemischen akuten Entzündungssyndrom, dem Auftreten einer Pneumonie und einer möglichen Organdekompensation mit Sepsis und einem akuten Atemnotsyndrom resultiert, das durch mögliche Komorbiditäten wie Herzinsuffizienz, Diabetes, Hypertonie oder Adipositas und insbesondere mit zunehmendem Alter verschlimmert wird, sagte Dr. med. Pierre Olivier Lang, Clinique de Genolier, Lausanne, in seiner Einleitung. Die SARS-CoV2-Infektion führt zu einer Störung des Immunsystems in Verbindung mit einer erhöhten Produktion von proinflammatorischen Zytokinen (Zytokin-Burst). Es wird vermutet, dass diese Kaskadendekompensation zu einem Multiorganversagen mit hoher Letalität führen kann. Die Überaktivierung von Effektorzellen des angeborenen und des adaptiven Immunsystems könnte eine COVID-Pneumonie durch die Bildung von alveolären Läsionen oder Alveolitis verursachen, die durch die anfänglichen lokalen Entzündungsreaktionen erklärt werden.

Vitamin D und Immunität

Bereits im letzten Jahrhundert seien zwei Nobelpreise im Zusammenhang mit Vitamin D vergeben worden, so der Referent, nämlich an Thomas Mann für sein Werk «Der Zauberberg» und an Adolf Otto Windaus für die Entdeckung von Vitamin D, seiner Synthese und dem Einfluss von UV-Strahlung auf seine Produktion. Die heilende Kraft des Davoser Sanatoriums auf die Gesundheit der Tuberkulosepatienten bei Thomas Mann ist nach heutigem Stand der Wissenschaft weniger auf die gute Luft der Schweizer Alpen zurückzuführen als auf die mit der Höhe zunehmende ultraviolette Strahlung und deren Wirkung auf die Vitamin-D-Produktion.
Neben der bekannten Wirkung von Vitamin D auf die Skelettgesundheit gibt es Hinweise für pleiotrope Wirkungen von Vitamin D ausserhalb der Knochengesundheit. Es hat sich gezeigt, dass der Vitamin-D-Rezeptor (VDR) und das Vitamin-D-aktivierende Enzym 1-α-Hydroxylase (CYP27B1) in mehreren Zellen ausserhalb von Knochen und Niere exprimiert werden (1). Mehrere Zellen, die an der Immunfunktion beteiligt sind, exprimieren VDR und CYP27B1. Diese Beobachtung lässt vermuten, dass die aktive Form von Vitamin D, 1,25(OH)2D3, die Immunfunktion auf verschiedenen Ebenen steuern kann. Entsprechende Übersichtsarbeiten über die Rolle von Vitamin D bei der Regulierung des Immunsystems wurden in den letzten Jahren veröffentlicht (2, 3).
Die Fähigkeit von Vitamin D, die Immunantwort zu beeinflussen, scheint in hohem Masse vom 25(OH)D-Status des Individuums abhängig zu sein und kann im Falle eines Mangels zu einer abnormalen Reaktion auf Infektionen oder sogar zu Autoimmunität führen (4).
Die meisten Immunzellen exprimieren nukleäre Calcitriol-Rezeptoren, aber auch 25(OH)D-Rezeptoren und besitzen 1-α-Hydroxylase zur Bildung der aktiven Form von Vitamin D (4).
In jüngster Zeit hat man erkannt, dass bei der Produktion von Vitamin D in der Haut und der Hydroxylierung in der Niere auch andere Metaboliten entstehen, deren Rolle noch wenig verstanden ist. Sie besitzen auch spezifische Rezeptoren. Dies deutet darauf hin, dass es noch andere Wege gibt, auf denen Vitamin D in unserem Körper wirkt (5).
Insgesamt trägt Vitamin D dazu bei, überschüssige Immunreaktionen, sowohl angeborene als auch adaptive, zu reduzieren. Es reduziert die Produktion von pro-inflammatorischen Zytokinen, indem es die Produktion von anti-inflammatorischen Zytokinen und die Produktion von antimikrobiellen Peptiden (Cathelicidin und β-Defensine) begünstigt. Es fördert also eine koordinierte, kontrollierte und effiziente Immunantwort, die das Gegenteil von dem ist, was bei COVID-19 beobachtet wird.

Vitamin D und Infektionskrankheiten

Es besteht ein kurvenförmiger Zusammenhang zwischen dem Vitamin-D-Spiegel im Blut und dem Risiko von Infektionskrankheiten. Vitamin-D-Mangel ist mit einer erhöhten Vulnerabilität verbunden (6). Vitamin D hat antiinfektiöse Eigenschaften aufgrund seiner Fähigkeit, die Produktion von antimikrobiellen Proteinen wie Cathelicidin und Defensinen zu favorisieren und durch Hemmung der Produktion von Zytokinen (7, 8). Ebenso hemmt es die Reaktion von Helfer-T-Lymphozyten (TH1) und fördert die Produktion von Suppressor-Lymphozyten (TH2) (9).
Es ist bekannt, dass die Anfälligkeit für Infektionskrankheiten umso mehr zunimmt, je niedriger der Vitamin-D-Spiegel ist, und dass diese Anfälligkeit umso mehr reduziert wird, je mehr der Vitamin-D-Spiegel korrigiert wird. Es scheint einen Plateaueffekt ab einem bestimmten Serumspiegel zu geben (optimale Werte für die Immunität sind wahrscheinlich höher als der für Osteoporose definierte), ohne jedoch den Effekt auf die Immunität zu kennen, z.B. Blutspiegel > 200 nmol/L. Hat dies eine schützende Wirkung oder wirkt es sich nachteilig aus?
Diese Rolle von Vitamin D in der antiinfektiösen Abwehr ist für bakterielle Infektionen wie Tuberkulose, H. pylori-Infektion, bakterielle Lungenentzündung, aber auch für parasitäre und auch virale Infektionen einschliesslich Atemwegsinfektionen nachgewiesen (10). Ein optimaler Vitamin-D-Status würde sich auch günstig auf die Reaktion auf eine Impfung auswirken. Vitamin D sollte jedoch nicht als Behandlung von Infektionen betrachtet werden, sondern als Ergänzung zur Aufrechterhaltung eines normal funktionierenden Immunsystems.

Vitamin D und COVID-19

Vitamin D scheint über immunmodulatorische Effekte hinaus auch eine direktere Rolle in der Pathogenese zu spielen. Vitamin  D hat antivirale Aktivität durch die Induktion der Synthese von CXCL10 und INF γ im respiratorischen Epithel und unterstützt die Bildung von CD8+ T-Lymphozyten. Dies fördert die Rekrutierung von Immunzellen am Infektionsort und begünstigt die Zerstörung der Lipidhülle des Virus durch LL-35 und die Proliferation von CD4+ T-Lymphozyten.
Darüber hinaus beinhaltet die Pathogenese der akuten Lungenverletzung während COVID-19 die Produktion von Renin, ACE, Angiotensin II und Angiotensin-II-Typ-1-Rezeptor (AT1R) und umgekehrt die Hemmung der Synthese von ACE2, einem weiteren membranumwandelnden Enzym mit starker Ähnlichkeit zu ACE. Sars-CoV2 gelangt über ACE2 in unsere Zellen (11). ACE2 ist eine Exopeptidase, die Angiotensin I in Angiotensin 1-9, ein inaktives Nonapeptid, umwandelt. ACE2 wird im Epithel der Atemwege, den Pneumozyten und der Mundschleimhaut exprimiert, die die bevorzugten Eintrittsstellen für das Virus sind. Es wird angenommen, dass Vitamin D dazu beiträgt, die akute Lungenverletzung zu lindern, indem es die Expression von ACE2 und Angiotensin 1-7 induziert und gleichzeitig die Reninsekretion und die ACE/Angiotensin II/AT1R-Kaskade hemmt. Während die Bindung von Angiotensin II an AT1R arterielle Vasokonstriktion, akute Entzündung und Apoptose induziert, ist Angiotensin 1-7 antagonistisch zu diesen Effekten. Es übt entzündungshemmende und gefässerweiternde Effekte aus und wirkt dem vaskulären Remodeling entgegen. Das Verhältnis von Angiotensin II zu Angiotensin 1-7 wird durch das Gleichgewicht zwischen den Spiegeln von ACE und ACE2 bestimmt. Eine Überexpression von ACE2 und des Vitamin-D-Rezeptors wäre schützend gegen Alveolitis. Mit anderen Worten: Vitamin D hemmt die Reninsekretion und überexprimiert ACE2, was zu einer Unterdrückung der Aktivität des Renin-Angiotensin-Systems und damit zu einer Normalisierung des Blutdrucks und zu einer Abnahme des systemischen Gefässwiderstands führt, um einer Vasokonstriktion entgegenzuwirken.

Vitamin D und Supplementierung

Ein Vitamin-D-Mangel sollte immer vermieden werden. Dies gilt insbesondere für Menschen mit einem hohen Risiko für einen Vitamin-D-Mangel (12).
Nur wenige Lebensmittel enthalten nennenswerte Mengen an Vitamin D. Fetter Fisch (Hering, Aal oder Lachs), Milchprodukte und Eier sind die wichtigsten. Die Zufuhr von Vitamin D über die Nahrung ist aber meist unzureichend, weshalb es in den meisten Fällen ergänzt werden muss. Zur Aufrechterhaltung optimaler Serumspiegel für die Immunmodulation sind je nach Alter und Gesundheitszustand zwischen 400 und 2000 IU/Tag erforderlich (11). Diese Dosen können mit der gleichen Wirksamkeit täglich oder als kumulative Dosis 1x/Woche oder sogar 1x/Monat gegeben werden (12). Ein längerer Abstand zwischen den Dosen wird nicht empfohlen.

Fazit

Die Gewissheiten

  • Die Beweislage bestätigt die immunmodulatorische Rolle von Vitamin D und seine Rolle bei der Antiinfektionsabwehr.
  • Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen einem Mangel an Vitamin D und der Anfälligkeit für verschiedene Krankheitserreger, einschliesslich COVID-19.
  • Die Aufrechterhaltung eines Serumspiegels von ≥75nmol/L ist erforderlich, um ein starkes und funktionierendes Immunsystem zu fördern und die individuelle Anfälligkeit für Infektionen zu begrenzen. Hierfür hat man die Wahl der Ergänzung: Tägliche, wöchentliche oder monatliche Einnahme.
  • Vitamin D ist keine präventive oder kurative Behandlung von COVID-19.

Die Unwägbarkeiten

  • Die Nützlichkeit von Vitamin D als Mittel zur Infektionskontrolle erfordert noch das Verständnis der alternativen Aktivierungspfade sowie das Verständnis der möglichen Wechselwirkungen zwischen Vitamin D und Nicht-Vitamin-D-Rezeptoren.
  • Die individuelle Reaktion auf die Supplementierung ist dynamischer als die Kontrolle des Serumspiegels allein. Die epigenetische Reaktion auf Umweltveränderungen und Lebens- oder Gesundheitsbedingungen induziert eine grössere Variation in der Reaktion als der genetische Polymorphismus des Vitamin-D-Rezeptors.

Quelle: FOMF Update Refresher Allgemeine Innere Medizin, Lausanne, 12.02.2021.

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

1. Szymcak I, Pawliczak R. The active metabolite of vitamin D3 as a potential immunomodulator. Scand J Immunol 2016;83:83-91.
2. 4. Wei R., Christakos S. Mechanisms Underlying the regulation of innate and adaptive immunity by vitamin D. Nutrients. 2015;7:8251–8260.
3. 5. Altieri B., Muscogiuri G., Barrea L., Mathieu C., Vallone C.V., Mascitelli L., Bizzaro G., Altieri V.M., Tirabassi G., Balercia G., et al. Does vitamin D play a role in autoimmune endocrine? A proof of concept. Rev. Endocr. Metab. Disord. 2013;18:335–346.
4. Prietl B et al. Vitamin D and immune function. Nutrients 2013;5: 2502-2521.
5. Sassi F et al. Vitamin D : Nutrient, hormone and immunomodulator. Nutrients 2018 ;10 :1656-1669.
6. Lang PO et al. Vitamin D status and the host resistance to infections. What it is currently (not) understood. Clin. Ther. 2017;39: 930-045.
7. Kearns MD et al. The impact of vitamin D on infectious disease : a systematic review of controlled trials. Am J Med 2015 ;349 :245-262.
8. Müller K et al. 1,25-Dihydroxyvitamin D3 inhibits cytokine production by human blood monocytes at the post-transcriptional level. Cytokine. 1992;4:506-12.
9. Lemire JM Immunosuppressive actions of 1,25-dihydroxyvitamin D3: preferential inhibition of Th1 functions. J Nutr. 1995;125:1704-1708.
10. Laaksi I: Vitamin D and respiratory infection in adults . Proc. Nutr Soc 2012 ;71 : 90-97.
11. Ghavideldarestani M et al. Role of vitamin D in pathogenesis and severity of Covid-19 infection. Arch Physiol Biochem 2020:1-7.
12. Bericht einer Expertengruppe im Auftrag der Eidg. Ernährungskommission und des Bundesamts für Gesundheit 2012. Vitamin D deficiency: Evidence, safety, and recommendations for the Swiss population.

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  • Vol. 11
  • Ausgabe 2
  • Februar 2021