- Fachwissen, Fallstudien und Philosophie
Das alljährliche Hausarzt-Symposium der Spitalregion Fürstenland-Toggenburg (SRFT) in Wil ist im Fortbildungskalender der praktizierenden Ärzte der Ostschweiz zu einem fest eingeplanten Bestandteil geworden. Es fand am 28. November bereits zum 14. Mal statt und zog wieder eine beträchtliche Zahl von Hausärzten an. Das ausgeschriebene Programm (Motto «Fortbildung und Austausch») mit vier Vorträgen im Plenarsaal und vier Workshops in Gruppenräumen scheint sich also zu bewähren, besonders da die Liste der Referenten wiederum ein hohes Niveau der Fortbildung versprach. Die Veranstaltung stand auch diesmal unter der bewährten Gesamtleitung von Dr. Markus Rütti, Chefarzt Medizin Spital Wil.
Der erste Haupt-Vortrag gab ein willkommenes Update in der Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2.
Dr. Tilman Drescher, Leitender Arzt Endokrinologie (KSp St. Gallen) erinnerte anhand eines instruktiven Falles mit plötzlicher extremer Hyperglykämie daran, dass Kohlehydrat-Restriktion (hier täglich 5 Liter Süssgetränke) und die Therapie mit einem GLP-1-Rezeptor-Agonisten den Blutzucker praktisch normalisieren kann. Der Keton-Test im Urin kann schwierig zu interpretieren sein, wenn nur schon 1 Tag ganz gefastet wird. Der Stellenwert von Metformin ist zwar in den letzten Jahren stark gesunken, besonders bei verminderter Nierenfunktion. DPP4-Hemmer (Gliptine), häufig in Kombination mit Metformin, werden aber oft angewendet. Zahlreiche Guidelines und Medikamenten-Übersichten orientieren über die Vielzahl an neuen Antidiabetika (besonders die GLP-1-Hemmer und die SGLT2-Blocker und ihre vielen Generika). Neu sind Wegovy (Semaglutid) und Mounjaro (Tirzepatid, ein GIP = glucose-abhängiges insulinotropes Peptid), welche auch zur Gewichtsreduktion verwendet werden. Vielfach ist die Kassenzulässigkeit ein Problem, vor allem ist die Kombination eines GLP-1- und eines SGLT2-Hemmers nicht zulässig.
Im Vortrag «Update Kolon-Carcinom» sprach Dr. Irene Peter, OAz Onkologie St. Gallen/Wil zuerst über die erschreckende Zahl von Dickdarm-Krebsfällen, davon 75 % im Colon, 25 % im Rectum. 15–30 % haben bereits bei der ersten Diagnosestellung metastasiert. In 20 % liegt eine genetische Belastung vor. Die Restriktion von Rauchen, Alkohol und Übergewicht verringert die Fallzahlen deutlich. Die Prävention mit Aspirin wird nicht generell empfohlen. Ein regelmässiges Screening – Koloskopie mindestens alle 10 Jahre, besser alle 5 Jahre –, und der Fecal Occult Blood Test sind nachweislich sehr nützlich. Der CEA-Wert und das CEA 19-9 sind unspezifische Tumormarker. Das therapeutische Vorgehen beim Colon-Carcinom hängt vom Stadium (bei der Koloskopie) ab. Im Stadium III wird eine adjuvante Chemotherapie durchgeführt, meist mit XELOX = Capecitabin + Oxaliplatin, oder mit FOLFOX = Folinsäure, Fluorouracil + Oxaliplatin; sie verringern die Zahl der Mikrometastasen, und die Überlebenszeit wird erhöht. Im Stadium IV (mit Fernmetastasen) entscheidet das Tumorboard über das weitere Vorgehen (multinodale Therapie, kurativ, palliativ).
Der Psychiater und Psychotherapeut Dipl. med. Thomas Pauli (Wil) sprach im 3. Hauptvortrag über das «Erkennen und Behandeln von Angststörungen». Angst ist an sich nichts Negatives, ja «es sichert Leben». Die pathologische Angst hingegen manifestiert sich in Panikattacken, die generalisierte Angststörung und verschiedene Formen von phobischer Angst, wie Agoraphobie, soziale Phobien und verschiedenen isolierte Phobien (Höhenangst, Spinnenphobie, Klaustrophobie, Angst vor Erröten etc.). Es ist eigentlich eine «Angst vor der Angst», man verliert die Selbstkontrolle und fühlt sich in die Enge getrieben. Oft sind Angststörungen auch mit Depression verbunden, oft besteht zusätzlich eine Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit (besonders Benzodiazepine!). In 45 % werden Angststörungen in der Primärversorgung nicht erkannt. Der Patient gibt vielmehr somatische Beschwerden, wie Herzrasen, Schwitzen, Zittern, Atemnot, Schmerzen sowie Schlafstörungen an. Die Therapie ist vielfach schwierig und der Patient muss dazu motiviert sein und in das Behandlungskonzept einbezogen werden. Offenbar kann die Hypnose in bestimmten Fällen unterstützend wirken. Von den vier angebotenen Workshops im kleineren Rahmen konnten vom Berichterstatter leider nur drei besucht werden.
Im ersten behandelte der Allgemein-Internist und Leiter des med. Ambi KSp St. Gallen Georg Hafer das schwierige Thema von Long Covid bzw. Post Covid. Die pathophysiologischen Erklärungsversuche sind alle noch nicht durch grosse Studien belegt und die Behandlungsansätze nicht evidenzbasiert. (Psycho)-Somatische Beschwerden wie Stechen, Schwindel, Schüttelfrost und vor allem das vielfältige Post-virale Fatigue-Syndrom und PEM (post exertional malaise) werden fast immer geschildert, sind aber durch keine fundierten Tests messbar. Der Leidensdruck der Patienten ist oft sehr gross und geht bis zur Erwägung einer EXIT-Lösung. Der Verkehr mit der IV und den Krankenkassen kann zusätzlich sehr schwierig sein. Die Behandlungsversuche beinhalten aktivierende Ergo- und Physiotherapie, das Energie-/Pausen-Management (Pacing!), gezielte Schlafhygiene, Medikamente (meist off-label!) wie SSRI, Low dose Naltrexon, Aripipazol, Ivabradin und andere. Es besteht die Gefahr der Polypragmasie.
Dr. Danny Anthony, Leiter der Akutgeriatrie Spital Wil, behandelte das Problem «Frailty» von wechselnder Perspektive her. Im sehr interaktiven Gespräch diskutierten die Teilnehmenden anhand von drei gleichaltrigen, aber unterschiedlich mobilen Patienten, Fragen der Hospitalisation, Operationsfähigkeit, Verlegung auf die Intensiv-Medizin, Prophylaxe von Osteoporose und Hyperlipidämie und Zielwerten von Laborresultaten. Das Resultat war die Forderung, die Wunschvorstellungen und Ressourcen des Patienten, der Angehörigen und auch des Pflegepersonals zu berücksichtigen. Auf die Wichtigkeit einer Patientenverfügung und einmal mehr des «Runden Tisches» wurde hingewiesen.
Ein weiterer Workshop wurde vom Pneumologen Dr. Gabriel Thomas, LA Spital Wil, geleitet. Sein erster Fall (28j., postgrippaler Infekt, Dyspnoe) war zuerst unklar, das Röntgenbild und die übliche Spirometrie (ausser einer reduzierten Vitalkapazität) vorerst unauffällig. Erst die ergänzende Bodyplethysmographie ergab ein viel zu hohes Residualvolumen. Der Patient litt unter einer obstruktiven Ventilationsstörung mit Pseudorestriktion. Diese spezielle Asthma-br.-Form sprach dann sehr rasch auf Cortison peroral an. Vor Ventolin-Spray allein wurde gewarnt. Asthma bronchiale sollte fast immer mit inhalativen Kortisteroiden /LABA behandelt werden.
Der 2. Fall (dyspnoisch, ohne Sputum) liess im Röntgen an einen typischen Pneumothorax bei massivem Lungenemphysem denken. Dem Patienten wurde mit einer operativen Lungen-Volumen-Reduktion geholfen, eine Drainage wäre hier gefährlich gewesen.
Der 3. Fall (Landwirt, Nichtraucher, mit Gewichtsverlust und Nachtschweiss) verschlechterte sich sehr rasch. Das Röntgenbild ergab eine posterolaterale «Raumforderung» rechts und die Zytologie «Nekrotisches Material und epitheloid-histiocytäre Reaktion» Erst die nochmalige Anamneseerhebung ergab einen Mäusebiss kurz vor der Erstkonsultation. Der Patient war an einer Tularämie («Hasenpest») erkrankt. Der Erreger ist Francisella tularensis. Die Inkubationszeit kann sehr kurz sein, die antibiotische Behandlung hilft relativ rasch (Aminoglycoside, Doxycyclin, Ciprofloxacin).
Der 4. Workshop konnte vom Berichterstatter nicht besucht werden, er behandelte ein «Update Handchirurgie» (Leiter Dr. Dominik Hoigné, St. Gallen) und sei durch praktisches Üben bereichert worden.
Wie schon in früheren Jahren stellten auch diesmal zwei Kollegen, beide aktive Praktiker aus Wil, ganz speziell eindrückliche Fälle aus ihrer Praxis vor.
Dr. Maurilio Bruni berichtete über einen Patienten (56j, Raucher, mit Nykturie, Flankenschmerz, St.n. Burnout, arbeitslos), bei welchem die Abklärung eine Raumforderung suprahilär rechts ergab. Kein Sputum, und die Bronchoskopie war unauffällig! Erst die Oberlappen-Wedge-Resektion konnte säurefeste Stäbchen nachweisen und der Patient musste sich einer antituberkulösen Behandlung unterziehen. Auch in der Schweiz ist noch Tuberkulose möglich.
Dr. Alois Haller referierte über einen schweren akuten Fall einer SGLT-2-induzierten Ketoazidose nach Jardiance. Die Komplikation kann lebensgefährlich sein. Davon zu unterscheiden ist die Lactat-Azidose bei Biguaniden.
Ein besonderes Highlight am Wiler Hausarzt-Symposium ist alljährlich der Schlussvortrag – diesmal unter dem Titel «Wie viel Glück braucht es, dass es uns gibt» von Frau Prof. em. Dr. Kathrin Altwegg (Astrophysikerin, Bern). Auf beeindruckende Art verstand es die Wissenschaftlerin, dieses naturwissenschaftliche, physikalische aber auch philosophische Thema mit vielen klärenden Bildern darzustellen. Die Referentin berichtete über die ganze Geschichte des Universums (ca. 13 Milliarden Jahre seit dem Urknall bis in alle Ewigkeit …. Da ist der Mensch höchstens «ein Staubkorn in der Wüste»). An den Anfang stellte sie die Aussage von Albert Einstein: «Gott würfelt nicht». Und was braucht es, damit intelligentes Leben entsteht? Antwort: Ein Planet, weder zu gross noch zu klein, flüssiges Wasser, Atmosphäre, langzeit-stabile Verhältnisse, etwas, aber nicht zu viel kosmische Strahlung (für die Evolution). Resultat: Einfach unvorstellbar, aber sehr eindrücklich.
Die Vorträge sind im Original unter www.wiler-symposium.ch abrufbar.
Küsnacht