KRANKHEITEN UND TOD HISTORISCHER BERÜHMTHEITEN

Friedrich Nietzsche: «Wer von seinem Tag nicht zwei Drittel für sich selbst hat, ist ein Sklave»

Der deutsche klassische Philologe und Philosoph Friedrich Wilhelm Nietzsche gehört zu den umstrittensten Persönlichkeiten der deutschen Philosophie. Bezeichnet als Genie, hochintelligenter Philosoph, aber auch als Irrer und Vordenker des Rassen- und Züchtungswahns wurde er bewundert und zugleich heftig kritisiert.



Patient: Friedrich Nietzsche
Geboren: 15. Oktober 1844, Röcken, Sachsen D
Gestorben: 25. August 1900, Weimar, Thüringen D

Friedrich Nietzsches Vater war evangelischer Pfarrer, die Mutter Pfarrerstochter. Nietzsche war stets Klassenprimus und mit 24 Jahren bereits Professor an der Universität Basel. Zu seiner Tätigkeit gehörte auch der Unterricht am traditionsreichen Basler Gymnasium am Münsterplatz. 1879, nach Jahren, legte er aus gesundheitlichen Gründen die Professur nieder. Bereits seit seiner Kindheit hatte Nietzsche an gesundheitlichen Problemen gelitten, unter anderem an Migräne, Depressionen, Schlafstörungen und Kurzsichtigkeit. Nietzsches Symptomatik wurde nie komplett aufgeklärt.

Nietzsche konsultierte zahlreiche Ärzte. Sie vermuteten unter anderem Syphilis, Chloralhydrat-Vergiftung, geistige Überarbeitung, Schizophrenie, Epilepsie, präsenile Demenz, Manie, Depression. Am gesichertsten schien lange die Diagnose seiner Ärzte einer «progressiven Paralyse» als Folge einer damals unbehandelbaren Neurosyphilis von 1889. Neuerdings wird dies wieder bezweifelt und eher ein Hirntumor, ein CADASIL-Symptom vermutet (Tenyi, 2012).

Getrieben von seinen Krankheiten, suchte Nietzsche ständig nach für ihn optimalen Klimabedingungen. Im Sommer hielt er sich meist in Sils-Maria GR auf, im Winter vorwiegend in Italien und Südfrankreich. Er lebte von seiner kleinen Pension und Spenden von Gönnern. Es folgten lange produktive Schaffensperioden, in denen seine Hauptwerke entstanden. Sie erschienen meist in Kleinstauflagen von ein paar Dutzend Exemplaren als Privatdrucke.

1888, im Alter von 44 Jahren, schien Nietzsche wahnsinnig zu werden. Er lebte in Turin, wo er in den letzten Dezembertagen ein Droschkenpferd umarmte und bitterlich weinte. Was war passiert? Der Kutscher hatte sein Pferd getreten. Nietzsche hing dem Tier am Hals und schluchzte jämmerlich. Zwei Carabinieri befreiten das Pferd schliesslich aus den Armen des tränenüberströmten Fremden. Signor Davide Fino, der in der Nähe einen Zeitungsstand betrieb, erkannte, dass der zitternde Fremde zwischen den Carabinieri sein Mieter war: der von ihm und seiner Familie hoch geachtete Professor Friedrich Nietzsche. Er übernahm ihn, stützte ihn, führte ihn nach Hause und steckte ihn ins Bett. Er schickte nach einem Arzt und setzte sich zum Kranken, der im Wachschlaf vor sich hindämmerte.

Nietzsche in der psychiatrischen Klinik «Friedmatt»

Zu dieser Zeit begann Nietzsche «Wahnsinnsbriefe» zu versenden. Am Sonntag, 6. Januar 1889 erhielt ein guter Freund von Nietzsche, Franz Overbeck, Professor für Kirchengeschichte in Basel, unverhofften Besuch des bekannten Historikers Jacob Burckhardt. Dieser hielt einen Brief von Nietzsche in der Hand: «Meinem verehrungswürdigen Jacob Burckhardt. Das war der kleine Scherz, dessentwegen ich mir die Langeweile, eine Welt geschaffen zu haben, nachsehe. Nun sind Sie – bist du – unser grosser, grösster Lehrer, den ich, zusammen mit Ariadne, haben nur das goldene Gleichgewicht aller Dinge zu sein, wir haben in jedem Stücke Solche, die über uns sind…» gezeichnet: Dionysos. Ein paar Tage später erhielt auch Overbeck einen Brief von Nietzsche: «Eine letzte Botschaft: Ich lasse alle Antisemiten erschiessen… Dionysos.»

Overbeck war alarmiert. Er besprach sich mit Professor Ludwig Wille, dem Leiter der erst drei Jahre vorher gegründeten psychiatrischen Anstalt «Friedmatt». Wille riet Overbeck dringend, Nietzsche aus Turin in die Basler Klinik zu holen. Gleichentags stieg Overbeck in den Zug nach Turin, wo er nach 18 Stunden Fahrt erschöpft ankam. Mit Mühe fand er die kleine Pension, wo Nietzsche im 4. Stock grau und verfallen in einer Sofaecke kauerte. Als er seinen Freund Overbeck aus Basel erkannte, stürzte er auf ihn zu, umarmte ihn, schluchzte und brach dann stöhnend und wimmernd zusammen. Die Finos, die Vermieter, kannten das, sie pflegten ihn seit Tagen, flössten ihm Bromwasser ein, das Nietzsche beruhigte.

Ein deutscher Dentist war bereit, die Reise von Overbeck und Nietzsche nach Basel mitzumachen. Overbeck ging auf Nietzsches Grössenwahn ein und erklärte ihm, er sei ein Fürst, er werde im Triumphzug in die Schweiz einreisen. Unten am Wagen bat Nietzsche Signor Fino um seine Mütze. Er sagte, er brauche sie für den Triumphzug, als Krone.

Overbeck, der den Freund in die Klinik begleitete, war höchst erstaunt, wie Nietzsche in der verbindlichsten Manier seiner besten Tage und mit würdiger Haltung Wille begrüsste: «Ich glaube, dass ich Sie schon früher gesehen habe… Sie sind Irrenarzt. Ich habe vor einigen Jahren ein Gespräch mit Ihnen über religiösen Wahnsinn gehabt…» Was Overbeck besonders erschütterte, war, dass Nietzsche diese Erinnerungen nicht in die geringste Beziehung zu seiner eigenen augenblicklichen Lage brachte und dass kein Zeichen verriet, dass ihn der Psychiater etwas anging. «Ruhig lässt er sich dem eintretenden Assistenzarzt übergeben und verlässt mit ihm, auf erhaltene Aufforderung, ihm zu folgen ohne weiteres das Zimmer…», notierte Overbeck.

Der Befund des aufnehmenden Arztes in der «Friedmatt»:
«Pupillen different, rechte grösser als die linke, sehr träge reagierend. Strabismus convergens. Starke Myopie. Zunge stark belegt. Keine Deviation, kein Tremor. Facialisinnervation wenig gestört. Fühlt sich ungemein wohl und gehoben. Gibt an, dass er seit acht Tagen krank sei und öfters an heftigen Kopfschmerzen gelitten habe. Er habe auch einige Anfälle gehabt, während derselben habe sich Pat. ungemein wohl und gehoben gefühlt und hätte am liebsten alle Leute auf der Strasse umarmt und geküsst, wäre am liebsten an den Mauern in die Höhe geklettert.» Als Diagnose wurde notiert: progressive Paralyse.

Mutter holt Nietzsche nach Hause

Gegen alle Widerstände setzte die nach Basel angereiste Mutter Nietzsches durch, dass ihr Sohn in die nächstgelegene Klinik seiner Heimatstadt Naumburg nach Jena verlegt wurde. Der damalige Klinikleiter von Jena, Professor Otto Binswanger, hatte sich wissenschaftlich intensiv mit der progressiven Paralyse beschäftigt. Bei der Aufnahme in Jena wurde bei der Erhebung der somatischen Befunde unter anderem eine leicht unregelmässig verzogene Pupille diagnostiziert.

In den nächsten Monaten beherrschen Wahnideen mit starken Erregungszuständen das klinische Bild. Im Oktober 1889 kam es zu einer inneren und äusseren Beruhigung, die als deutliche Remission interpretiert wurde. Wiederum gegen alle Widerstände nahm ihn die Mutter im März 1890 mit nach Hause. Im Herbst 1890 verschlechterte sich sein Geisteszustand rapide. «Es scheint nun, als ob der Wahnsinn zum Blödsinn umzuschlagen Miene macht», schreibt ein Jugendfreund Nietzsches im Februar 1891 an Overbeck.

Ab 1893 entwickelte sich zusätzlich eine Tabes dorsalis, die als eine quartäre Manifestation der Syphilis gesehen wurde: Nietzsche erkannte alte Freunde nicht mehr, ab Herbst nur noch die Mutter, die Schwester und die Hausgehilfin. Nach dem Tod der Mutter 1897, auf den Nietzsche in keiner erkennbaren Weise mehr reagierte, übernahm die Schwester die Pflege. Sie erwarb die Rechte an den bisher wenig beachteten Schriften des Bruders und machte sie bekannt. In der Nacht vom 24. auf den 25. August starb Nietzsche an einem Gehirnschlag. Eine Obduktion fand nicht statt.

Jörg Weber

1. Hemelsoet D, Hemelsoet K, Devreese D. The neurological illness of Friedrich Nietzsche. Acta Neurol Belg. 2008 Mar;108(1):9-16. PMID: 18575181

Weitere Quellen:
– Tényi, T.: The madness of Dionysus – six hypotheses on the illness of Nietzsche, Psychiatria Hungaria 27/2012
– Gschwend, G.: Pathogramm von Nietzsche aus neurologischer Sicht. Schweizerische Ärztezeitung 81/2000
– Volz, P.D.: Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung. Königshausen + Neumann, Würzburg, 1990

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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  • Vol. 14
  • Ausgabe 9
  • September 2024