Editorial

Gastroenterologie durch die Brille der Geriatrie gesehen



Die aktuelle Ausgabe von «der informierte arzt» widmet sich schwerpunktmässig dem Thema Gastroenterologie. Das ist ein spannendes Gebiet, das etliche Schnittmengen mit der Altersmedizin bildet. Gehen wir also auf eine kurze Reise vom oberen bis in den unteren Magen-Darmtrakt und beleuchten einige Aspekte aus geriatrischer Sicht. Derzeit stellt sich beispielsweise die Frage, inwieweit die orale Gesundheit zur Gebrechlichkeit beiträgt und neuere Studien untersuchen die Hypothese, ob es eine «Sarkopenie» der glatten Muskulatur des Ösophagus gibt, die zu Schluckstörungen führen kann. Eine häufige Diagnose im Alter ist hingegen die Fehl- und Mangelernährung, mit einer hohen Prävalenz in Langzeitinstitutionen, im Akutspital aber auch zuhause. Hier ist derzeit offen, inwieweit Makro- und Mikro­nährstoffe in höheren Lebensdekaden vom alternden Magen-Darmsystem anders resorbiert werden und so zur Malnutrition beitragen. Ähnliches trifft übrigens auch auf die Resorption von Medikamenten bei alten Menschen zu.

Aus geriatrischer Sicht beschäftigt uns die «pandemieartige» und meist selten wirklich indizierte Verabreichung von Protonenpumpenblockern. Hierzu haben die internationalen Geriatriegesellschaften eine klare «choosing wisely» bzw. «smarter medicine» Richtlinie herausgegeben: nämlich keine PPI ohne Indikation lebenslang und ohne regelmässige Versuche, das Medikament auszuschleichen. Andererseits sehen wir im oberen Gastrointestinaltrakt immer wieder Blutungen, teils ausgelöst durch Medikamente, die solche Nebenwirkungen eigentlich sehr selten haben müssten (zum Beispiel Xa Hemmer). Hier könnten vor allem Angiodysplasien, die im Alter zunehmen, eine relevante Ursache sein.

Chronische Erkrankungen von Leber und Pankreas beschäftigen uns altersmedizinisch eher selten. Es besteht der erfreuliche Eindruck, dass Personen mit den neuen Therapieoptionen länger leben.

Hingegen leiden besonders viele Menschen unter einer Obstipation, die zumindest in den Spitälern durch Immobilität und vor allem durch opiathaltige Analgetika aggraviert wird. Auch die Geriatrische Klinik St. Gallen verbraucht jährlich Laxantien in grösseren Mengen. Im Jahr 2021 waren das total 15 Liter Lactulose, 870 Flaschen Natrium-Picosulfat und 10 000 Beutel Macrogol. Während sich die Altersmedizin mit der Obstipation beschäftigt, ist das Thema Reizdarm mit all seinen Facetten sicher und gut in der Grundversorgung zu verorten. Auch hier spielt das Wissen um Laxantien eine Rolle, denn: selbst wir ertappen uns gelegentlich bei der Kombination zweier Substanzen mit identischem Wirkmechanismus (zB. 2x osmotisch). Relativ Neues gibt es auch zur Behandlung der akuten unkom-plizierten Divertikulitis. Wenig ausgeprägte Verläufe kann man gemäss neueren Studien auch ohne Antibiotika behandeln. Allerdings gilt höheres Alter über 75 Jahre als Behandlungskriterium, was bei der hohen Prävalenz der Divertikulitis bei betagten Personen stets zur Empfehlung für eine Antibiotika-therapie führt. Derzeit ist mir keine Studie bekannt, die bei Menschen im Alter über 75 Jahre randomisiert Antibiotika versus kein Antibiotikum verglichen hat.

Die derzeit trendige und komplexe Thematik des Gastrointestinaltraktes als zweites Gehirn (wir haben ungefähr so viele Neuronen im Bauch, wie ein Hund im Kopf) wurde in den letzten Jahren um weitere Erkenntnis bereichert, nämlich unsere ständigen Gäste, das Mikrobiom. Mittlerweile wurden über das Mikrobiom einige faszinierende Arbeiten publiziert, die mittelfristig sicher neue Behandlungsmöglichkeiten bieten. Was weiss man über das Mikrobiom im Alter? Es gibt Bakterienstämme, die mit dem klinischen Bild der Gebrechlichkeit assoziiert werden. Wenn eine alte Person von zuhause in eine Langzeitinstitution eintritt, verändert sich deren Mikrobiom über einige Monate und passt sich dem dort vorherrschenden Mikrobiom an. Bezüglich Altern unterscheidet man nun auch Bakterienstämme nach ihrer Lokalisation und Funktion für den Körper in «einzigartige», solche die gemeinsam mit dem Darm an der Biosynthese arbeiten und solche die Stoffwechselschritte im Darm modifizieren. Einige Kombinationen sind mit Langlebigkeit assoziiert. Was wird uns in Zukunft beschäftigen? Da neue Studien zeigen konnten, dass das Ansprechen von Chemotherapeutika bei Mäusen mit Tumoren stark vom jeweiligen vorherrschenden Mikrobiom abhängt, kann man sich hier zukünftig eine «adjuvante Modifikation» des Mikrobioms vorstellen. Auch im Zusammenhang mit der Behandlung klassischer Stoffwechselkrankheiten wie Adipositas und Typ 2 Diabetes werden Manipulationen am Mikrobiom vermutlich bald eine eine Rolle spielen. Ob man aber je eines Tages ein wirksames Anti-Aging-Joghurt kaufen kann bleibt abzuwarten.

PD Dr. med. Thomas Münzer, Geriatrische Klinik St. Gallen AG
thomas.muenzer@geriatrie-sg.ch

PD Dr. med. Thomas Münzer

Geriatrische Klinik St. Gallen AG
Rorschacher Strasse 94
9000 St. Gallen

thomas.muenzer@geriatrie-sg.ch

der informierte @rzt

  • Vol. 12
  • Ausgabe 2
  • Februar 2022