- Gewalt in der Praxis – Jeder Fall ist einer zu viel
Wie häufig gewalttätige Übergriffe in schweizerischen Arztpraxen und Notfallstationen tatsächlich vorkommen, ist statistisch nicht bekannt. Aber jedes Ereignis ist für die Betroffenen psychisch und potenziell körperlich traumatisch, so dass es für alle im Gesundheitswesen Tätigen sinnvoll ist, sich Strategien zur Vorbeugung und zum Verhalten im Notfall zurecht zu legen und zu verinnerlichen, um im Überraschungsfall zielführend handeln zu können.
HKS: Herr Thomas Herzing, Sie sind Spezialist für Gewalt in der Praxis – was qualifiziert Sie dazu?
Als Polizist war ich Fachbereichsleiter für Sicherheit und Einsatztaktik an der Interkantonalen Polizeischule in Hitzkirch. Zuvor war ich bei der Polizei Personenschützer und als Leiter für Konflikt- und Kommunikationstrainings tätig. So war ich auch massgeblich an der Ausarbeitung des bayerischen polizeilichen Amokkonzepts beteiligt, welches sich im Jahr 2016 in München bewährte.
Seit fast 5 Jahren biete ich mit anderen Fachleuten spezielle Präventionsschulungen für den medizinischen Bereich wie Notaufnahme in Spitälern, Rettungsdiensten und in Arztpraxen an. Oberstes Ziel dabei ist die körperliche Unversehrtheit von Ärzten, Angestellten und natürlich auch der Patienten. Wesentlicher Unterschied zu Selbstverteidigungskursen besteht darin, dass wir einen körperlichen Kontakt mit Störern vermeiden möchten. Dies erreichen wir durch praxisnahes Verhaltenstraining, bei dem die Teilnehmer lernen, Störer auf Distanz zu halten.
Bei geplanten Aktionen haben Täter eine Idee, wie deren Handeln mit einem Happy End abschliesst. Hier sprechen wir von Täterphantasie. Lohnenswerte Ziele werden ausspioniert, es werden Opfer gesucht, bei welchen man leichtes Spiel hat. Umgekehrt verursacht alles, was das Happy End gefährdet, für den Täter Stress und führt in aller Regel dazu, dass auf ein anderes Ziel ausgewichen wird, bei dem man leichteres «Spiel» hat. Dies wäre ein voller Erfolg und das Ergebnis einer erfolgreichen Präventionsarbeit.
Bei spontanen Aktionen, welche meist durch Männer, sei es als Patienten oder Angehörige ausgeübt wird, sind die Auslöser sehr facettenreich. So erlebte ich bei einem Coaching einen Arzt, welcher sich seiner ausgesendeten Körpersignale nicht bewusst war. Kurz vor einer Diagnose, welche mit Spannung von einer Patientin erwartet wurde, telefonierte der Arzt mit seiner Frau. Hier erfuhr er, dass sein Kind in der Schule schlechte Noten erhielt. Es gelang ihm nicht seine private Enttäuschung von seiner medizinischen Tätigkeit zu trennen. Sichtlich genervt von dieser Nachricht eröffnete er der Patientin den eigentlich erfreulichen Befund. Durch die ausgestrahlte Mimik und Gestik hatte die Patientin und deren Ehemann jedoch das Gefühl, dass es extrem schlecht um die Frau bestellt sei. Da das gesprochene Wort nur etwa zu 7% Bedeutung hat und der überwiegende Teil der Informationsübermittlung nonverbal stattfindet, drangen die Worte des Arztes nicht durch. Anschliessend bedurfte es vieler Erklärungen, um dem Paar «Entwarnung» zu geben.
Solche Situationen oder die hochemotionale Überbringung einer Todesnachricht können Gewalttätigkeiten auslösen. Betäubt vom Schmerz wird ein Schuldiger gesucht, Vorwürfe erhoben, der Arzt persönlich verantwortlich gemacht, nicht genug getan zu haben,.Grenzen der modernen Medizin werden ausgeblendet!
Selbst unspektakuläre Situationen, wie z.B. das Gefühl, zu lange auf die Behandlung warten zu müssen, Privatpatienten würden bevorzugt behandelt, das Gefühl Patient 2. Klasse zu sein, können zu Frustration und folglich zu gefährlichen Situationen führen.
Haben Sie konkrete Zahlen zum Gefahrenpotenzial in Schweizer Praxen?
Nein, solche Statistiken werden in der Schweiz nicht geführt. In Österreich und Deutschland ist die Gewalt gegen Rettungskräfte und Ärzte leider mittlerweile trauriger Alltag. Dennoch berichten Schweizer Medien auch immer häufiger von Bedrohungen und Gewalt in Arztpraxen und Spitälern. Z.B. kürzlich über die Sicherheitslage bei Einsätzen der Zürcher Sanitäter, welche sich so sehr verschlechtert hat, dass die 370 Angestellten von Schutz und Rettung Zürich nun kugelsichere Schutzwesten erhalten haben. Wie vorgängig schon erwähnt, Patienten oder Angehörige echauffieren sich, äussern lautstark ihren Frust, Wartezeit bis zur Behandlung des Patienten oder von Angehörigen dauerten zu lange, so nach dem Motto: «jetzt kommt schon wieder ein anderer dran, und bei uns wäre doch eine schnelle Behandlung viel wichtiger». Dies ist besonders tragisch, wenn Folgeschäden aus Patientensicht vermeidbar gewesen wären. (z.B. nach erfolgloser Reanimation). «Jetzt habe ich Ihnen vertraut und geglaubt, ich sei bei Ihnen an der richtigen Stelle, und jetzt diese Enttäuschung».
Ein zunehmendes Problem ist Stalking und dessen Auswirkungen. Die Betroffenen (meist Mitarbeiter) werden einem regelrechten Psychoterror ausgesetzt und dadurch in ihrer Lebensqualität massiv eingeschränkt, und erkranken. Aus diesen Gründen erfüllen Mobbinghandlungen i.d.R. den Straftatbestand der Körperverletzung. Ein Ausweg ohne professionelle Hilfe ist sehr schwierig, da die Opfer meist das Gefühl haben, dass sie überreagieren.
Wie verhält man sich nun in solchen Situationen?
Wirkungsvolle Prävention schreckt Täter ab und lässt diese idealerweise nicht, oder nicht vollumfänglich zur Entfaltung kommen. In unseren Trainings lernen die Teilnehmer, sich selbst wirkungsvoll zu schützen und andere dabei zu unterstützen, um gesund aus brenzligen Situationen rauszukommen.
Gerne komme ich nochmals auf die Täterphantasie zu sprechen. Hatten wir beide vor unserem Treffen nicht auch einen gedachten Verlauf? Pünktlichkeit, gegenseitiger respektvoller Umgang waren unsere unausgesprochenen Erwartungen. Wie würden Sie reagieren, wenn diese Erwartungen meinerseits nicht erfüllt würden und ich mich aggressiv verhalte? Welchen Plan hätten Sie nach der ersten Schrecksekunde? Haben Sie Erfahrungen, auf welche Sie zurückgreifen könnten?
Häufig bekommen wir zu hören: «Ich würde mich halt so verhalten, wie ich mich verhalten würde, das kann man nicht trainieren». Wir möchten dann gerne wissen, ob diese Erfahrungen aus irgendwelchen Keilereien mit den Geschwistern stammten. Genau hier setzen wir an. Unsere Kursteilnehmer empfinden es sehr gewinnbringend, dass sie im geschützten Bereich eigene Erfahrungen machen können. Die hier erworbenen Kompetenzen sind die Grundlage für den erfolgreichen Gefahrenumgang.
Unsere Trainings sind praxiserprobt, pragmatisch und können sofort im Alltag integriert und umgesetzt werden. Wahrnehmung und deren Verzerrungen sind wichtige Inhalte unserer Trainings. Wenn Menschen mit Ausnahmesituationen konfrontiert werden, haben sie Stress, welcher zu einer Wahrnehmungsverengung führt. Wir sprechen dann vom «Tunnelblick». Wichtige Informationen werden ausgeblendet und schränken ein, das in der Situation Richtige zu tun.
Ja man will das natürlich auch nicht wahrhaben, man glaubt gar nicht, dass das möglich sei bis es passiert.
Erfahrungsgemäss befassen wir Menschen uns lieber mit Dingen, welche uns Freude und Leichtigkeit vermitteln. Gleichzeitig sind wir täglich Gefahren ausgesetzt. Heutzutage diskutiert niemand mehr über Sinn- oder Unsinn des Anlegens eines Sicherheitsgurtes im Strassenverkehr. Wie bereits erwähnt, kann durch professionelles Training die Eintrittswahrscheinlichkeit unangenehmer Ereignisse verringert, bzw. deren negative Auswirkung eingedämmt werden.
Das sind für mich sehr eindrückliche Aussagen, ich denke an meine Praxis, und meine, dass ich vieles deutlich besser hätte machen können. Wie kann man sich wirkungsvoll schützen? Welches Vorgehen raten sie, wenn ich eine schwere Nachricht überbringen muss, einem Patienten, von dem ich weiss, dass er ohnehin nicht gut dran ist, wie kann ich vermeiden, dass er tobt?
Wenn Sie Ihr bisheriges Verhalten bereits jetzt kritisch hinterfragen, dann sehen Sie, dass Sie «nur» durch unser kurzes Gespräch Situationen neu bewerten und sich anders verhalten würden.
Eine allgemein gültige Antwort gibt es nicht. Ähnlich der Medizin, müssen mehrere Faktoren berücksichtigt werden. Unsere Handlungsempfehlungen bieten für die allermeisten Fälle einen wirkungsvollen Schutz. Um auf Ihre Frage zurückzukommen. Wenn Sie im Vorfeld wissen, dass die Situation eskalieren könnte, dann sollten Sie sich auf dieses Gespräch auch im Sinne der Eigensicherung vorbereiten. Dies bedeutet, dass Sie sich mental vorbereiten, einen geeigneten Ort auswählen, Kollegen informieren und im Falle von verbalen Entgleisungen auch weiterhin respektvoll mit dem Störer umgehen und Grenzen einfordern. Die eigenen Gefühle kontrollieren, das richtige Einschätzen von Mimik und Gestik, Distanzwahl und Kennen der Eskalationsspirale, um nur einige Beispiele zu nennen.
Wenn das Gegenüber die eigene Amtsautorität als Arzt und Fachmann, welche zudem das Hausrecht ausübt, ignoriert, kann das wie ein Brandbeschleuniger wirken und zu Überreaktionen führen. Diesen Mechanismus zu erkennen und ihm entgegenzuwirken, sind wichtige Kursinhalte.
Die Teilnehmer lernen Kommunikation als wirkungsvolles Mittel der Eigensicherung zu nutzen. Dieses EIKO (Eigensicherung durch Kommunikation) wurde von Polizeipsychologen entwickelt und hat sich sehr bewährt. Das Prinzip der «bedingten Freundlichkeit» unterstützt dabei, Grenzen zu setzen, Konsequenzen aufzuzeigen.
Und was ist jetzt in dieser Situation ein adäquates Stoppsignal?
Zu sagen «Stopp, halten Sie bitte Distanz». Bei Ausdrücken wie «Ich möchte das nicht» oder «kommen Sie mir nicht zu nahe» muss man an den einen weissen Elefanten denken: das Wort «nicht» wird gerade in Stresssituationen wie ausgeblendet. Vielmehr muss immer das gewünschte Verhalten positiv vorgebracht werden, also «Bitte halten sie Distanz» oder «ich möchte hier Abstand, ich möchte meine Ruhe». Und dazu natürlich ganz klare Körpersprache, welche auch international verstanden wird. Der nächste Schritt könnte sein, dass man aufsteht und versucht, andere betroffen zu machen, nur das ist sehr dünnes Eis, da heute Zivilcourage nicht mehr oft angetroffen wird.
Die Thomas Herzing GmbH bietet Kurse für Personal im Gesundheitswesen an.
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