- Hoch über den hundert Tälern

Diese Wanderung bietet prächtige Ausblicke in die Ebene des Pedemonte, die Centovalli und darüber hinaus in die italienische Valle Vigezzo. Wir fahren mit dem Bummelzug von Intragna zur Stazione Verdasio. Man beachte, dass der mit Domodossola angeschriebene Zug nicht an allen Stationen hält, so auch nicht in Verdasio! Natürlich lockt die Luftseilbahn zum Monte di Comino hinauf. Wer diese Variante wählt, erspart sich zwar zwei Stunden Aufstieg, verpasst dafür aber einen herrlichen Saumweg.
Wir steigen vom Bahnhof zur Kantonsstrasse hinauf und stossen kurz vor der Brücke über den Ri della Segna bergseitig auf den alten Zugangsweg nach Verdasio. Jenseits des Baches liegt die Talstation der besagten Bahn zum Monte di Comino hinauf. Unser Pfad führt uns am Westrand des Weilers Verguno vorbei und quert nordwestlich der Talstrasse den besagten Bach. Wir gelangen zur Fahrstrasse nach Verdasio und folgen dieser bis zum Dorfeingang. Dort zweigt der breite und grossteils befestigte Saumweg zu den weit verstreuten Häusergruppen des Monte di Comino ab. Über weite Kehren im Wald gewinnt er allmählich an Höhe und bietet immer wieder herrliche Ausblicke in das viel gegliederte Tal mit seinen Dörfern, Maiensässen und Alpen (Abb. 1). Prächtig ist das Farbenspiel der herbstlichen Wälder. Zwei Wegkapellen säumen den Weg bis zur Wallfahrtskapelle von Madonna della Segna (Abb. 2), wobei nur in der oberen der Beiden noch Teile von Fresken erhalten geblieben sind. Auf Monte di Comino halten wir kurze Rast im Ecohotel Alla Capanna, das auch die Möglichkeit zur Übernachtung bietet.
Ein kleiner Pfad gleich bergwärts des Hotels leitet zum Höhenweg nach Dröi hinauf. Dieser Pfad ist gut befestigt und führt zum Teil etwas luftig durch den Südosthang der Aula. In einer Wegkapelle an markanter Stelle findet sich eine für Bildstöcke seltene Darstellung von Adam und Eva mit dem Apfelbaum und der Schlange. Auf Dröi folgt unser Weg dem nordwestlichen Rand der Lichtung und umrundet dann wieder im Wald den Nordostgrat der Aula. Nach kurzer Zeit stossen wir auf einen Weg, der Monte Comino mit Mètri und Calascio verbindet. Beim verlassenen Maiensäss Mètri entspringt der Riale di Mulitt, durch dessen Tal wir von Calascio aus nach Intragna zurückkehren werden. Immer wieder erhaschen wir einen Blick ins Val Onsernone, insbesondere vom breiten Wiesenrücken in Calascio aus. Hier stehen erneut eine kleine Kirche mit schmuckem Vordach und ein deutlich älterer, mit Fresken ausgemalter Bildstock. Das Hauptbild stellt die Rosenkranzmadonna dar. Gerade in den Centovalli ist aber die Darstellung der Madonna di Re besonders verbreitet. Der Legende nach stand im Dorf Re in der Valle Vigezzo ein Bildstock neben einer Bocciabahn. Ein über sein verlorenes Spiel erzürnter Spieler warf der Madonna voller Wut eine der Holzkugeln an den Kopf. Daraufhin soll diese aus der Stirn zu bluten begonnen haben. Zur Erinnerung an dieses Wunder wurde in Re um die ehemalige Kapelle herum eine riesige, völlig überladene Wallfahrtskirche errichtet. Es findet sich überall die gleiche Darstellung der blutenden Muttergottes mit dem Jesuskind auf dem einen Arm. In der freien Hand hält sie drei Rosen. Auf einem Schriftband steht geschrieben: In gremio matris sedet sapientia patris: Im Schoss der Mutter gründet die Weisheit des Vaters.
Auf befestigtem Weg steigen wir über Ursöld zu den unteren Häusern von Cremaso ab. Hinunter nach Pila kommen wir an einer ersten grösseren Kapelle mit Vordach vorbei, die der Madonna di Re geweiht ist. In Pila selbst und nach Intragna hinunter treffen wir noch auf mehrere Bildstöcke in dieser Bauart (Abb. 3). Ihre Häufigkeit weist auf die auch religiöse Bedeutung des von uns begangenen Weges hin, der früher vermutlich für Prozessionen und Bittgänge rege benutzt wurde. Das Vordach, im Dialekt Sprügh genannt, bot Schutz vor Unbill der Witterung, sollte aber natürlich auch zum Gebet und zur inneren Einkehr einladen.
In Intragna, dem Dorf mit dem höchsten Campanile des Tessins, beenden wir unsere Wanderung (Abb. 4). Es mag sein, dass die gut erhaltene Pflästerung der Wege dem Einen oder Anderen in die Beine fährt und ermüdet, weil sie gerade mit festem Schuhwerk nicht allzu bequem zu begehen ist. Die Wegbefestigungen waren der regen Benutzung durch Mensch und Vieh wegen sowie zur Überwindung exponierter Passagen unentbehrlich. Ihre kunstvolle und für eine Ewigkeit geschaffene Anlage erheischt noch heute Bewunderung. Früher bewältigte man diese Wege oft barfuss, trotz der schweren Lasten, die man tragen musste. Dass auf solchen Pfaden, dem üblichen Klischee der Fremden aus dem Norden zum Trotz, keine Zoccoli getragen wurden, dürfte spätestens nach dieser Wanderung Jedem einleuchten.
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