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SGAIM-Frühjahrskongress 2024

Integrative Medizin: Die «Extended toolbox» für Klinik und Praxis macht beachtliche Fortschritte

«Integrative Medizin» war am SGAIM Frühjahrskongress 2024 in Basel Gegenstand sowohl einer Keynote Lecture (Brent Bauer von der Mayo Clinic, Rochester, NY) als auch einer interaktiven «Beyond Guidelines»-Session (Pierre-Yves Rodondi, Fribourg & Brent Bauer). Das perfekt zum Kongressmotto «Creative Medicine: Renew & transmit» passende Thema stiess beim Publikum auf viel Resonanz, und die Fülle der präsentierten Studiendaten und Erfahrungen war beeindruckend. Genau der Anspruch der Evidenz ist es, die die Integrative Medizin begrifflich von der komplementären und alternativen Medizin abgrenzt, auch wenn viele ihrer therapeutischen Zusatzangebote genau in diesen Bereichen angesiedelt sind.



Prof. Brent Bauer von der Mayo Clinic, Rochester (NY) berichtete am Freitagmorgen vor vollem Plenarsaal über das vor über 30 Jahren ins Leben gerufene «Integrative Medicine Program» der Mayo Clinic. Das Forschungsprogramm basiert auf einer evidenzbasierten Methodik, die wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse aus der Schulmedizin mit den besten verfügbaren Daten aus der komplementären und alternativen Medizin kombiniert.

So definiert das Academic Consortium for Integrative Medicine & Health (ACIMH) zur Förderung integrativer Medizin die integrative Medizin als „die Praxis der Medizin, die die Bedeutung der Beziehung zwischen Arzt und Patient bekräftigt, den ganzen Menschen in den Mittelpunkt stellt, sich auf Evidenz stützt und alle geeigneten therapeutischen Ansätze, Gesundheitsfachleute und Disziplinen einsetzt, um optimale Gesundheit und Heilung zu erreichen“ (1).

Laut Brent Bauer wurden im Rahmen des Integrative Medicine-Programms der Mayo Clinic bis heute 175 klinische Studien mit Patienten, gesunden Probanden und Angehörigen von Gesundheitsberufen durchgeführt und mehr als 400 peer-reviewte Publikationen im Bereich integrative Medizin veröffentlicht: zur Wirkung von Akupunktur, von Mind-Body-Verfahren, von Phytotherapie und natürlichen Nahrungsergänzungsmitten, tiergestützten Therapien, Yoga oder medizinischen Massagen bei Krebs-, Schmerz oder kardiologischen Patienten. Ein aktuelles Pilotprojekt befasst sich mit Roboter- und KI-gestützter Tuina-Massage bei Rückenschmerzen.

Ansätze der integrativen Medizin neu in Onkologie-Leitlinien

Der Einsatz von Integrativen Therapien während und nach der Brustkrebsbehandlung hat mit Unterstützung der ASCO mittlerweile auch Einzug in die in Praxis-Leitlinien der Gesellschaft für Integrative Onkologie (SIO) für das Management von Brustkrebs oder das Schmerzmanagement bei Krebspatienten gehalten (2, 3). So werden beispielsweise Musiktherapie, Meditation, Stressmanagement und Yoga Massage zum Abbau von Angst- und Stresszuständen empfohlen, Meditation, Entspannungsübungen, Yoga, Massagen und Musiktherapie oder gegen Depression und Stimmungsstörungen. Auch zeigen sich Effekte bei der Milderung von Nebenwirkungen von Krebstherapien wie Müdigkeit, Schmerz und Übelkeit.
Im Alltag kommen Methoden der integrativen Medizin als erweitertes Instrumentarium an den verschiedenen Standorten der Mayo Clinic mittlerweile bei jährlich mehr als 100‘000 Patienten pro Jahr zum Einsatz. Auch Pflegehunde sind Teil des Engagements für die Heilung von Körper, Geist und Seele. Die gut ausgebildeten Tiere werden zum Beispiel eingesetzt, um Patienten mit Depressionen durch Erfahrung von Wärme und bedingungsloser Liebe von einem Tier Mut zu machen. Wie Prof. Pierre-Yves Rodondi in der interaktiven Session berichtete, sollen Therapiehunde ab 2025 auch am CHUV eingeführt werden.

Brent Bauer hob in seinem Vortrag auch die Bedeutung des am Institut für komplementäre und integrative Medizin des Universitätsspitals Zürich und der Universität Zürich ansässigen Schweizer Cochrane-Satelliten „Cochrane Complementary Medicine“ hervor. Dessen Ziel ist es, zu systematischen Übersichten über komplementär- und integrativmedizinische Therapien beizutragen und einen evidenzbasierten Ansatz in der Komplementär- und Integrativmedizin zu fördern (4).

Nutzung komplementärer Medizin und SARS-CoV-2-Impfung

Die ebenfalls erwähnte CoviCare-Studie der von Mayssam Nehme, Olivia Braillard, Pierre-Yves Rodondi und Idris Guessous (5) zeige nicht nur, dass ein signifikanter Anteil der Schweizer Bevölkerung komplementäre und alternative Medizin (CAM) während der Pandemie nutzte, sondern dass Teilnehmer/-innen, die komplementäre Medizin nutzten, eine höhere Bereitschaft zur SARS-CoV-2-Impfung aufwiesen – vermutlich aufgrund eines höheren Gesundheitsbewusstseins. Die longitudinale Studie ist ein bedeutender Beitrag zur Forschung im Bereich der integrativen Medizin und zeigt, wie alternative Ansätze die öffentliche Gesundheit und das individuelle Gesundheitsverhalten positiv beeinflussen können.

Das SGAIM-Kongress-Komitee lag recht in der Annahme, dass das Integrative Medicine Program der Mayo Clinic Vorbild und Inspirationsquelle sein könnte, wie eine Kombination aus traditionellen und komplementären Therapien zur Optimierung des Wohlbefindens vieler Patient/-innen beitragen könne. Das Interesse der Teilnehmer in der von Pierre-Yves Rodondi und Brent Bauer gestalteten interaktiven Session war aufgrund des Plenarvortrags am Morgen so gross, dass aufgrund der vielen Fragen an die beiden Referenten nur einer von den vier geplanten Patientenfällen besprochen werden konnte.

In der Schweiz integrieren Ärztinnen und Ärzte Komplementärmedizin in ihre Facharztausbildung, und es gibt zunehmend stationäre Abteilungen für integrative Medizin. Trotz wachsender Angebote übersteigt die Nachfrage nach komplementärmedizinischen Behandlungen das verfügbare Angebot erheblich. Auch die Kostenübernahme der Leistungen der integrativen Medizin ist ein offener Punkt.

Fest steht jedoch, dass alle gefragt sind, im Sinne der Patientinnen und Patienten auch dieses Feld der Gesundheitsversorgung aus ärztlicher bzw. allgemeininternistischer Sicht mit zu gestalten. Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang, die entsprechenden Wünsche der Patient/-innen ernstzunehmen.

Dr. sc. nat. Winfried Suske

1. Academic Consortium for Integrative Medicine and Health, https://imconsortium.org/
2. Lyman GH, et al. Integrative Therapies During and After Breast Cancer Treatment: ASCO Endorsement of the SIO Clinical Practice Guideline. J Clin Oncol. 2018 Sep 1;36(25):2647-2655. doi: 10.1200/JCO.2018.79.2721. Epub 2018 Jun 11.
3. Mao JJ, et al. Integrative Medicine for Pain Management in Oncology: Society for Integrative Oncology-ASCO Guideline Summary and Q&A. JCO Oncol Pract. 2023 Jan;19(1):45-48. doi: 10.1200/OP.22.00622. Epub 2022 Oct 19.
4. Institut für komplementäre und integrative Medizin, Universitätsspital Zürich, https://www.usz.ch/en/department/complementary-and-integrative-medicine/research/
5. Nehme M, et al. Use of complementary medicine and its association with SARS-CoV-2 vaccination during the COVID-19 pandemic: a longitudinal cohort study. Swiss Med Wkly. 2023 Dec 18;153:3505. doi: 10.57187/s.3505

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  • Vol. 14
  • Ausgabe 6
  • Juni 2024