Kinder- und Jugendschutz

Kinderschutz

Kinderschutz und Kenntnisse über die verschiedenen Aspekte von Kindsmisshandlungen sind ein wichtiger Bestandteil der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Die Erkennung – auch von subtilen Zeichen einer Misshandlung, ist wesentlich, denn nur so können notwendige Schritte zum Schutz des Kindes eingeleitet werden.



Grundversorger spielen darüber hinaus eine wesentliche Rolle in der Erfassung von möglichen Risikofaktoren und Problemen, die eine Familie belasten. Das frühzeitige Ansprechen und die Einleitung von verschiedenen Unterstützungsmassnahmen ist ein wesentlicher Aspekt in der Prävention von Misshandlungen.
In der Schweiz erfasst die Fachgruppe Kinderschutz der schweizerischen Kinderkliniken seit 2009 Kinder, die wegen möglicher oder sicherer Kindsmisshandlung im Spital ambulant oder stationär behandelt werden. Im Jahr 2017 wurden insgesamt 1730 Fälle gemeldet, was im Vergleich zum Vorjahr einer Zunahme von knapp 10% entspricht (Tab. 1) (1).
Die Geschlechterverteilung ist mit 44% Knaben und 56% Mädchen relativ ausgeglichen. Die grosse Mehrheit der Misshandlungen findet im häuslichen Rahmen statt (Ausnahme sexuelle Misshandlung). Knapp zwei von fünf misshandelten Kindern sind von psychischer Misshandlung betroffen. Darunter fallen auch viele Kinder, die häusliche Gewalt zwischen den Eltern miterleben. Jedes 6. misshandelte Kind ist jünger als ein Jahr alt, 46% der misshandelten Kinder sind jünger als sechs Jahre.
Kinderschutzfälle, die von anderen Institutionen oder Fachstellen betreut werden, sind in dieser Statistik nicht enthalten, d. h. die Anzahl der Kinderschutzfälle ist deutlich höher.
Die Zahlen unterstreichen die Tatsache, dass Kindsmisshandlung in all seinen Formen ein häufiges Problem im medizinischen Alltag darstellt. Die frühe Erkennung ist für die Prognose entscheidend. Kinderschutz gehört somit in den Verantwortungsbereich aller Institutionen und Fachpersonen, die beruflich mit Kindern zu tun haben. Kinderschutz sollte eine im medizinischen Alltag integrierte Denkweise in Hinblick auf Sensibilisierung, Wahrnehmung und bewusste Beobachtung sein (2).

Die Rolle der Grundversorger

Den Grundversorgern − Kinder- und Hausärzten − kommt im Kinderschutz eine wichtige Rolle zuteil. Einerseits in der Prävention, anderseits in der Erkennung von Misshandlungen.
Durch die langjährige Betreuung der Familie besteht ein Vertrauensverhältnis mit Kenntnissen über die familiäre Situation sowie möglichen soziofamiliären Belastungen. Das bewusste Ansprechen auf Belastungen, schwierige Situationen sowie vorhandene Ressourcen ist ein wichtiger Bestandteil der hausärztlichen Aufgaben. Es ist dabei wesentlich, dass Belastungen ernst genommen werden. Von Vorteil ist dabei auch die gute Vernetzung der Grundversorger mit z. B. der Mütter- und Väterberatung, der Schule und sonstig involvierten Therapeuten und Fachstellen. Einerseits als Informationsquelle, anderseits zur Unterstützung der Familie. Zusätzlich sollten Eltern an die entsprechenden Beratungsstellen wie Sozialdienst, Fachstellen, Elternnotruf, Frauenhaus, etc. verwiesen werden. Dies kann in verschiedenen Situationen zu einer Stabilisierung führen und präventiv wirken.
Da ein erheblicher Anteil der misshandelten Kinder unter 1 bzw. 6 Jahre (46%) alt ist, kommt den frühen ärztlichen Kontrollen und Vorsorgeuntersuchungen eine wichtige Rolle zuteil. Oft sind es die einzigen Kontakte, die Kleinkinder und deren Familien mit Fachpersonen haben. Es ist deshalb notwendig, dass Grundversorger über Kenntnisse verfügen, Zeichen einer Misshandlung zu erkennen. Denn das frühzeitige Erkennen von Risikosituationen und Misshandlungen ist wesentlich. Wobei sich die Situationen unklar darstellen können und Unsicherheiten bezüglich Einschätzung und Vorgehen auslösen. Die Möglichkeit eines niederschwelligen Austausches mit Fachpersonen zur Einschätzung der Gefährdungssituation und des weiteren Vorgehens ist wichtig. Hierfür stehen einerseits die Kinderschutzgruppen der Kinderspitäler, regionale Kinderschutzgruppen oder sonstige Fachstellen zur Verfügung.
Insbesondere bei jüngeren Kindern sind Kenntnisse über subtile Misshandlungszeichen wichtig. Es handelt sich dabei um keine schweren Verletzungen, deren Vorkommen jedoch als Alarmzeichen gewertet werden müssen. Es ist wichtig, diese sogenannten «sentinel injuries» zu erkennen.

Hämatome

Hämatome sind ein ausgesprochen häufiger Befund bei der Untersuchung von Kindern. Die Anzahl nimmt zu, je älter und je mobiler ein Kind wird. Zudem können Hämatome im Rahmen von verschiedenen Erkrankungen auftreten (z. B. Gerinnungsstörungen, Leukämien, Infekte, Bindegewebserkrankungen, etc.). Aber Hämatome sind auch oft das einzige oder das erste Zeichen einer Kindsmisshandlung. Im Verlauf kann es zu einer Eskalation der Gewalt kommen mit in der Folge schwerer Kindsmisshandlung. In einer im 2013 im Pediatrics publizierten Studie (3) konnten bei insgesamt 27,5% der Kinder, die eine sichere Misshandlung erlitten hatten, kleinere Verletzungen im Vorfeld nachgewiesen werden. In 80% handelte es sich dabei um Hämatome, in 11% um orale Verletzungen. Die Mehrzahl dieser Kinder war jünger als 7 Monate, davon waren 2/3 jünger als 3 Monate. Das Vorkommen war in 41,9% der Fälle medizinischen Fachpersonen aufgefallen, ohne dass weitere Massnahmen oder Abklärungen eingeleitet wurden. In einer weiteren Studie (4) mit Kindern zwischen 3-14.5 Monaten, die ein nicht akzidentelles Schädel-Hirn-Trauma erlitten, zeigten 11.7% der Kinder Hämatome im Vorfeld.
Dies zeigt, wie wichtig die Erkennung von Hämatomen ist als Hinweis für eine stattgefundene Kindsmisshandlung und für die Vermeidung nachfolgender, womöglich eskalierender und lebensbedrohlicher Gewalt. Insbesondere bei Säuglingen und jungen Kleinkindern.
Im 2017 publizierte das Royal College of Paediatrics and Child Health eine Review-Studie (7) über Hämatome mit dem Ziel, Merkmale zu erfassen, die eine Unterscheidung von Unfall versus Misshandlung ermöglichen sollen. Verschiedene andere Studien (5-10) haben diese Thematik ebenfalls aufgenommen. Folgende Kriterien sind wesentlich:

Akzidentelle Hämatome

  • je älter die Kinder und je mobiler, umso häufiger treten Hämatome auf
  • am häufigsten sind die exponierten Stellen an der Vorderseite des Körpers betroffen, über knöchernen Vorsprüngen (Abb. 1)

Alarmzeichen, die hinweisend für eine Misshandlung sein können

  • Hämatome bei nicht mobilen Kindern, insbesondere bei Babies
    • those who don’t cruise, rarely bruise!
  • Unübliche Lokalisationen
  • Hämatome entfernt von exponierten Stellen
  • Hämatome bei den Ohren, Gesicht, Hals, Stamm und Gesäss /Genitale (Abb. 2)
  • Hämatome in Gruppen oder von gleicher Form
  • Aussehen der Hämatome
    • Abdrücke von Gegenständen
    • Handabdrücke sowie Kneif-, Griffmarken (Abb. 3)
    • petechiale Veränderungen

Orale und dentale Verletzungen

In mehr als 50 % der körperlichen Misshandlungen sind der Kopf- und Halsbereich betroffen. Oft ist dabei auch der Mundbereich betroffen, so zeigen sich z. B. Lippen-, Frenulum-, Zungen- und andere intraorale Verletzungen, inklusive Zahnverletzungen. Hervorgerufen werden diese entweder durch ein direktes Trauma oder z. B. durch das Hineindrücken oder Herausreissen von Schoppenflaschen, Nuggies oder anderen Gegenständen. Manchmal auch durch heisse Flüssigkeiten / Speisen (12-16). Am häufigsten werden Lippen-und Frenulumverletzungen beschrieben (Abb. 4-6).
Die sorgfältige Untersuchung des Mundbereichs ist deshalb notwendig. Bei Unklarheiten bezüglich Unfallmechanismus oder sonstigen Auffälligkeiten ist eine weiterführende Abklärung bezüglich möglicher Misshandlung indiziert. In einer Studie (11) konnte ausserdem gezeigt werden, dass Kinder, welche aufgrund einer misshandlungsbedingten oralen Verletzung abgeklärt wurden, oft okkulte Verletzungen aufwiesen (z. B. Frakturen, SHT, etc.). Und wie bei den Hämatomen kann es sich um einen ersten, aber ernst zu nehmenden Hinweis für eine Misshandlung sein.

Mögliche Verletzungen

  • Hämatome oder Abrasion / Lazeration der Zunge, Lippen, Mucosa, Gaumen, Gingiva, Frenulum (Abb. 4– 6)
  • Zahnfrakturen, Zahndislokation, Zahnavulsion
  • Fraktur Mandibula, Maxilla

Grundsätzliche Überlegungen, die bei jeder Verletzung erfolgen sollten

  • Passt die Verletzung zum beschriebenen Unfallhergang?
  • Verletzung zu schwer – zu viele – unübliches Muster
  • Passt die motorische Entwicklung des Kindes zum beschriebenen Unfallhergang?
  • Ist der beschriebene Unfallhergang glaubhaft?
  • Wird die Schilderung geändert: bei erneuter Nachfrage oder nach Aussage des Kindes?
  • Verhalten der Eltern, verzögertes Aufsuchen des Arztes? Verhalten des Kindes?
  • Werden medizinische Abklärungen abgelehnt?
  • Hinweise für Grunderkrankung, andere Erkrankung?
  • Wiederholte Verletzungen / Aufnahmen?
Dr. med. Tamara Guidi Margaris

Stv. Chefärztin, Leiterin Kinderschutzgruppe
Ostschweizer Kinderspital Claudiusstrasse 6
9006 St. Gallen

tamara.guidi@kispisg.ch

Die Autorin hat keine Interessenskonflikte im ­Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

  • Grundversorger spielen eine wichtige Rolle in der Erkennung von Misshandlungen und in der Prävention
  • Kenntnisse über mögliche Verletzungsmuster bei der körperlichen Misshandlung sowie über subtile Zeichen als erste Hinweise für eine Misshandlung sind wesentlich
  • Der Austausch und die Vernetzung mit Fachstellen kann in der Beurteilung hilfreich sein

Literatur:
1 Wopmann M für die Fachgruppe Kinderschutz an schweizerischen Kinderkliniken. Nationale Kinderschutzstatistik 2017. www.Kinderschutz.ch und www.swiss-paediatrics.org.
2 Kinderschutzarbeit an schweizerischen Kinderkliniken. Schweiz Ärzteztg; 2000; 81(28):1576
3 Sheets LK et al. Sentinel Injuries in Infants Evaluated for Child Physical Abuse. Pediatrics; April 2013; Volume 131, Issue 4
4 Letson MM et al. Prior opportunities to identify abuse in children with abusive head trauma. Child abuse and neglect; October 2016; 60: 36-45
5 The Royal College of Paediatrics and Child Health (RCPCH). Child Protection Evidence Systematic review on Bruising. Published: July 2017
6 Sugar NFS et al. Bruises in infants and toddlers—those who don’ t cruise rarely bruise. Arch Pediatr Adolesc Med; 1999; 153: 399–403
7 Mortimer PE et al. Are facial bruises in babies ever accidental? Arch Dis Child; 1983; 58: 75–6
8 Tlyyagura G. et al. Nonaccidental Injury in Pediatric Patients: Detection, Evaluation, and Treatment. Pediatric Emergency medicine Practice; July 2017; Volume 14, Number 7
9 Petska HW. Sentinel injuries: subtle findings of physical abuse. The Pediatric clinics of North America; 2014; Volume: 61 – Issue: 5; 923-935
10 Pierce M. Bruising characteristics from unintentional injuries in children: the „green flag“study. Arch Dis child; December 2017; Volume 102, Issue 12
11 Dorfman MV et al. Oral injuries and occult harm in children evaluated for abuse. Arch Dis Child; 2018; 103:747-752
12 Fisher-Owens SA et al. Oral and dental aspects of child abuse and neglect. Pediatrics; 2017; 140: e20171487
13 American Academy of Pediatrics. Oral and Dental Aspects of Child Abuse and Neglect. Pediatrics; August 2017; Volume 140, Issue 2
14 American Academy of Pediatric Dentistry. Clinical guideline on oral and dental aspects of child abuse and neglect. Pediatric Dent; 2004, 26 (7 Suppl.): 63-6

der informierte @rzt

  • Vol. 8
  • Ausgabe 10
  • Oktober 2018