- Längere Verjährungsfrist für Arztpraxen
Seit dem 1. Januar 2020 gilt für die Arztpraxen und Privatspitäler in der Schweiz eine Verjährungsfrist von 20 Jahren. Die FMH empfiehlt neu, die Krankengeschichten während 20 Jahren aufzubewahren und Haftpflicht-Versicherungspolicen mit einer 20-jährigen Nachdeckung abzuschliessen.
Wer eine Versicherungspolice hat, die nur eine fünf- oder zehnjährige Deckungsfrist übernimmt, sollte seinen Versicherer kontaktieren. Diese Empfehlung gilt auch für Ärztinnen und Ärzte, die ihre Praxis nach dem 1.1.2010 geschlossen oder übergeben haben, namentlich wenn sie Implantate oder ionisierende Strahlen mit dem Risiko von Spätschäden eingesetzt haben.
Revisionsprojekte: im EJPD schubladisiert, im Parlament praktisch schon versenkt
1973 beauftragte Bundesrat Furgler einen jungen Juristen namens Pierre Wiedmer mit dem Projekt einer Revision des Haftpflichtrechts. Danach blieb es lange still.
Der Reaktorunfall in Tschernobyl und der Grossbrand von Sandoz in Schweizerhalle führten zum Neustart. Zwischen 1988 und 1991 erarbeitete eine Studienkommission des EJPD einen Bericht für eine Gesamtrevision des Haftpflichtrechts. Gestützt darauf verfassten die Professoren Pierre Wiedmer (der ehemalige junge Mitarbeiter von Kurt Furgler) und Pierre Wessner 1999 einen Vorentwurf zu einem Bundesgesetz, der in Vernehmlassung ging. Bundesrat Blocher schubladisierte das Projekt.
Vierzehn Jahre und einige Bundesräte später wurde die Vorlage im November 2013 ins Parlament gegeben (1). In den Räten folgte «ein dramatisches Differenzbereinigungsverfahren zwischen National- und Ständerat, in welchem das Revisionsprojekt praktisch schon versenkt war» (2).
Kehrtwende mit dem Asbest-Urteil aus «Strassburg»
Dann kam das Asbest-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Schweiz vom März 2014 (3): «Strassburg» rügte die Schweiz, weil die kurzen Verjährungsfristen im Schweizer Recht systematisch dazu führten, dass die Asbestopfer leer ausgingen.
Am 15. Juni 2018 hat das Parlament das neue Verjährungsrecht verabschiedet. Niemand hat das Referendum ergriffen.
Neu: 20-jährige absolute Verjährungsfrist und 3-jährige Frist seit Kenntnis
Seit 1.1.2020 gilt nun für Personenschäden auch in Arztpraxen eine von 10 auf 20 Jahre verlängerte absolute Verjährungsfrist (Art. 60 Abs. 1bis und 128a Obligationenrecht).
Neu gilt dabei für den Patienten eine dreijährige relative Verjährungsfrist seit Kenntnis des Schadens und des Schädigers.
Die Einführung der Dreijahresfrist seit Kenntnis des Schadens und des Schädigers bedeutet, dass die Revision nur für die Patienten mit medizinischen Spätschäden vorteilhaft ist. Denn die meisten Medizinschadenfälle werden lange vor Ablauf der Zehnjahresfrist erkennbar, und diese Patienten hatten bisher keine Dreijahresfrist seit Kenntnis zu beachten, sondern mussten nur die zehnjährige absolute Verjährungsfrist im Auge behalten.
Typische Spätschäden: Asbest, ionisierende Strahlen und Medizinprodukte
Im Zentrum der Diskussion standen die durch Asbest verursachten Personenschäden. Allerdings werden gerade die Asbestopfer nun nicht dank der geänderten Verjährungsfrist, sondern durch eine Fonds-Lösung entschädigt.
Bekannt sind auch Spätschäden durch ionisierende Strahlen (1). Im Parlament wurden zudem Schäden durch fehlerhafte Medizinprodukte genannt: «In jüngerer Zeit häuften sich solche Fälle; ich erinnere an die ASR-Hüftprothesen mit giftigen Metallabrieben, an die Brustimplantate, die im Verdacht stehen, Krebs zu erregen, an die Nanopartikel, die schon an vielen Orten, sogar in gewissen Zahnpasten, eingesetzt werden […]» (4)
FMH: Krankengeschichten 20 Jahre aufbewahren
Die Gesetzesrevision selbst enthält keine Bestimmungen über die Aktenaufbewahrungspflicht. Nach der Botschaft steht es damit Ärztin und Arzt «frei, Unterlagen zu vernichten, zu deren Aufbewahrung sie rechtlich (nicht) mehr verpflichtet sind» (1).
Doch die FMH verweist zu Recht auf die Aufklärungsproblematik: Die Ärztin muss «im Streitfall beweisen, dass sie genügend aufgeklärt hat, was ihr nur gelingen kann, wenn sie die entsprechenden Eintragungen der Krankengeschichte zur Verfügung hat» (5). Deshalb empfiehlt die FMH, die Krankengeschichten während 20 Jahren aufzubewahren, wenn die letzte Behandlung nach dem 31.12. 2009 stattgefunden hat (5). Aus haftpflichtrechtlicher Sicht ist zu empfehlen, wenigstens diejenigen Unterlagen aufzubewahren, die dem Nachweis der Patientenaufklärung dienen.
Haftpflichtversicherung: Nachdeckung/Nachrisikodeckung für 20 Jahre oder ohne Angabe einer zeitlichen Limite vereinbaren
Die FMH empfiehlt, Haftpflicht-Versicherungspolicen mit einer 20-jährigen Nachdeckung abzuschliessen (6). Gleichwertig sind Vertragstexte, die für die während des Vertrags verursachten Schäden eine Deckung nach Ablauf der Vertragsdauer ohne Angabe einer zeitlichen Limite gewährleisten (7, 8).
Policen mit Nachdeckung für 5- oder 10-Jahre: Versicherer kontaktieren
Wenn die Versicherungspolice nur eine fünf- oder zehnjährige Nachdeckung übernimmt, sollte die Ärztin oder der Arzt den Versicherer kontaktieren.
Diese Empfehlung gilt auch für diejenigen Ärztinnen und Ärzte, die die Praxis nach dem 1.1.2010 geschlossen oder übergeben haben und aufgrund ihrer Praxisausrichtung damit rechnen müssen, dass sie medizinische Spätschäden verursacht haben könnten – zu denken ist gemäss Parlament bzw. Botschaft an das Risiko von Spätschäden durch Implantate oder ionisierende Strahlen. Denn die Behandlungsschäden, die nach dem 1.1.2010 verursacht wurden, verjähren nun erst nach 20 Jahren (müssen aber innert 3 Jahren seit Kenntnis eingeklagt werden).
Kuriosum 1:
unveränderte Verjährungsfrist für Medizinprodukte
Für Produkte bleibt es bei der bisherigen 10-jährigen Verjährungsfrist, denn der Gesetzgeber wollte beim Produktehaftpflichtgesetz «die Übereinstimmung mit dem EU-Recht nicht aufgeben» (1). Das hat möglicherweise Folgen für Patient und Arzt: Wenn ein Patient zum Beispiel elf Jahre nach der Behandlung einen Schaden wegen eines fehlerhaften Implantats geltend machen will, ist er damit zu spät mit der Klage gegen den Hersteller, aber rechtzeitig mit der Klage gegen den Arzt.
Im Verfahren zwischen Patienten und Arzt kommt es darauf an, ob der Arzt das Implantat damals lege artis verwendet hat, und ob er nach dem damaligen Stand des Wissens richtig aufgeklärt hat.
Kuriosum 2:
unveränderte Verjährungsfrist für öffentliche Spitäler
Die Verjährungsfristen für öffentliche Spitäler werden in den kantonalen Haftungs- oder Spitalgesetzen geregelt. Diese wurden nicht gleichzeitig revidiert. Deshalb gelten nun für den Patienten im Schadenfall unterschiedliche Klagefristen, je nachdem wo er behandelt wurde. Denkbar ist, dass einzelne Kantone in den nächsten Jahren nachziehen werden.
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Advokaturbüro Hanspeter Kuhn
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Keine. Hanspeter Kuhn war 1990-2018 Leiter des FMH-Rechtsdiensts und von 1992 an stv. Generalsekretär der FMH. Von 1990-2004 war er zuständig für die rechtliche Betreuung der FMH-Gutachterstelle.
- Die Verjährungsfrist für Haftpflichtfälle in Arztpraxen beträgt neu 20 statt 10 Jahre.
- Die FMH empfiehlt, die Krankengeschichten 20 Jahre aufzubewahren, wenn die letzte Behandlung nach dem 31.12.209 stattfand.
- Wer eine Versicherungspolice hat, die die «Nachdeckung im Rahmen der gesetzlichen Haftpflichtbestimmungen und Verjährungsfristen» übernimmt, muss nichts unternehmen.
- Wer eine Versicherungspolice hat, die nur eine fünf- oder zehnjährige Deckungsfrist übernimmt, sollte seinen Versicherer kontaktieren. Diese Empfehlung gilt auch für Ärztinnen und Ärzte, die ihre Praxis nach dem 1.1.2010 geschlossen oder übergeben haben, namentlich wenn sie Implantate oder ionisierende Strahlen mit dem Risiko von Spätschäden eingesetzt haben.
1. Botschaft vom 29. November 2013 zur Änderung des Obligationenrechts (Verjährungsrecht), Bundesblatt (BBl) 2014 S. 235ff; der zitierte Hinweis zur Vernichtung der Unterlagen steht auf S. 254, zu den ionisierenden Strahlen auf S. 241, zur Nichtrevision des Produktehaftpflichtgesetzes auf S. 265.
2. Krauskopf Frédéric / Märki Raphael, Wir haben ein neues Verjährungsrecht!, in: Jusletter 2. Juli 2018
3. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EGMR, Urteil vom 11. März 2014 in der Sache Howald Moor et autres c. Suisse, Nr. 52067/10 und 41072/11 («Asbest-Urteil»)
4. Nationalrätin Heim Bea im Nationalrat 25.09.2014 (parlament.ch curia vista Geschäft 13.100 – Amtl. Bulletin Nationalrat 25.9.2014).
5. Pally Hofmann Ursina, Salathé Michelle, Thiébaud Nori Anne-Sylvie, Rechtliche Grundlagen im medizinischen Alltag, Ein Leitfaden für die Praxis, FMH /SAMW, Bern /Basel 2020, S. 36. S. 169ff, und S. 173.
6. Pally Hofmann Ursina, Neues Verjährungsrecht, Schweiz. Ärztezeitung 2018;99 (51–52):1825–1826.
7. «Bei Wegfall des Versicherungsvertrages infolge Berufs- bzw. Geschäftsaufgabe oder Tod gewährt Zurich […] Versicherungsschutz für Schadenersatzansprüche, die nach Ablauf der Vertragsdauer innert der gesetzlichen Verjährungsfrist geltend gemacht werden.» [ohne zeitliche Befristung] steht z.B. in Ziff. 3.1. und 8.2.4. der AVB der Zurich-Versicherung.
8. «Wird der Vertrag aufgehoben, weil das versicherte Unternehmen aufgegeben wird – ausser bei Konkurs – oder weil der Versicherungsnehmer stirbt, besteht auch für Ansprüche aus Schäden Versicherungsschutz, die vor Vertragsende verursacht wurden, aber erst nach Vertragsende eintreten…» [ohne zeitliche Befristung] steht z.B. in B2.7.1 der AVB der AXA von 2018.
der informierte @rzt
- Vol. 10
- Ausgabe 10
- Oktober 2020