- Medizinische Versorgung von Gefangenen: Herausforderungen und Verantwortlichkeiten für Hausärzte und Grundversorger
Einführung
Im Jahr 2023 waren 6445 Personen in der Schweiz inhaftiert (1). Die medizinische Versorgung von Gefangenen ist ein komplexes Feld, das durch spezifische gesetzliche Rahmenbedingungen und ethische Herausforderungen geprägt ist. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die rechtlichen Grundlagen, die besonderen Bedingungen der medizinischen Praxis im Gefängnis und diskutiert ethische Dilemmata, mit denen Ärzte konfrontiert sind. Das Ziel besteht darin, Hausärzte und Grundversorger in ihrer Rolle als medizinische Betreuer von Inhaftierten zu unterstützen. Eine sehr gute und vertiefte Übersicht findet sich in einem Dokument der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) (2).
Gesetzliche Rahmenbedingungen
Die gesetzliche Regelung der medizinischen Versorgung von Gefangenen in der Schweiz wird durch eine Kombination aus nationalen Gesetzen und internationalen Normen bestimmt. Ein zentrales Element stellt die Schweizerische Bundesverfassung dar, deren Artikel 10 das Recht auf Leben und persönliche Freiheit garantiert und jegliche Form von Folter sowie grausamer oder erniedrigender Behandlung oder Strafe verbietet. Das Strafgesetzbuch (StGB) trägt ebenfalls wesentlich zur Regelung bei. Artikel 75 StGB verankert das Äquivalenzprinzip, welches eine möglichst weitgehende Übereinstimmung des Strafvollzugs mit den allgemeinen Lebensverhältnissen fordert. Artikel 74 StGB schützt die Menschenwürde der Gefangenen und legt fest, dass ihre Rechte nur im erforderlichen Umfang eingeschränkt werden dürfen.
In Ergänzung dazu beinhaltet das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) wichtige Bestimmungen über die Handlungsfähigkeit und den Schutz von Personen, was insbesondere für die Einwilligung und Vertretung in medizinischen Angelegenheiten relevant ist. Das Epidemiengesetz (EpG) spielt eine besondere Rolle in den Gefängnissen, da es Regelungen zur Prävention und Kontrolle von ansteckenden Krankheiten beinhaltet, was in der dichten und oft geschlossenen Umgebung von Gefängnissen von grosser Bedeutung ist.
Auf internationaler Ebene gewährleistet die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), insbesondere Artikel 3, die Freiheit von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. Die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung von Gefangenen, auch bekannt als Nelson-Mandela-Regeln, setzen zudem globale Standards, die unter anderem den Zugang zu medizinischer Versorgung einschliessen.
Die Gesetzgebung zu Gesundheitsfragen kann auch auf kantonaler Ebene variieren, was bedeutet, dass die spezifischen Bedingungen und Standards der Gesundheitsversorgung von Kanton zu Kanton unterschiedlich sein können. Die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) bieten hier zusätzliche, konkrete Empfehlungen für die medizinische Praxis im Strafvollzug. Die Richtlinien betonen die Notwendigkeit, dass die medizinische Versorgung von Gefangenen den ausserhalb der Gefängnisse üblichen medizinischen Standards entsprechen sollte, um eine gleichwertige Behandlung zu gewährleisten.
Herausforderungen für medizinisches Personal und spezifische medizinische und psychologische Bedingungen
Die Rolle des Arztes ist häufig mit einem Spannungsfeld zwischen der Funktion als Gutachter und der als behandelnder Arzt konfrontiert. Dies führt in der Praxis zu ethischen und praktischen Schwierigkeiten, insbesondere im Kontext der ärztlichen Schweigepflicht.
Gefängnisinsassen weisen eine höhere Prävalenz von psychischen und physischen Erkrankungen auf. Die geschlossene Umgebung und das stressige Zusammenleben erhöhen das Risiko für die Übertragung von ansteckenden Krankheiten. Projekte wie BIG (Bekämpfung von Infektionskrankheiten im Gefängnis) zielen darauf ab, die Risiken zu mindern und das Äquivalenzprinzip besser umzusetzen.
Verantwortung über das Wohlergehen der gefangenen Patienten in Extremsituationen
Zwangsüberführungen psychisch oder körperlich kranker Gefangener
Bei der Überführung psychisch oder körperlich kranker Gefangener stehen medizinische Fachkräfte vor der Herausforderung, Transportmittel, Transportdauer sowie Sicherheits- und Ruhigstellungsmassnahmen adäquat zu beurteilen. Ärzte müssen dabei das Wohl des Patienten in den Vordergrund stellen und gegebenenfalls auch gegen Behördenentscheidungen Einspruch erheben, um die Gesundheit und Sicherheit des Patienten zu gewährleisten. Die genannten Situationen erfordern von den medizinischen Fachkräften eine sorgfältige Abwägung zwischen den rechtlichen Anforderungen und der medizinischen Ethik.
Der Respekt vor dem Willen des Patienten steht im Vordergrund, jedoch muss der Arzt in Situationen von Bewusstlosigkeit oder Urteilsunfähigkeit sowie bei fehlender klarer Patientenverfügung ethische Entscheidungen treffen, die unter Umständen eine Zwangsernährung medizinisch indizieren, insbesondere wenn der Verzicht auf künstliche Ernährung lebensbedrohlich ist.
In diesem Kontext ist es von entscheidender Bedeutung, den Respekt vor dem Patientenwillen mit dem Schutz des Patienten vor Schaden abzuwägen. Dabei ist es essenziell, sich nicht instrumentalisieren zu lassen und eine strenge neutrale Haltung zu wahren. Die tägliche Verantwortung des Arztes umfasst die Gewährleistung, dass dem Patienten regelmässig Nahrung angeboten wird, auch wenn dieser zunächst ablehnt.
Ausschaffungshaft
Die Aufgabe des Begleitarztes in der Ausschaffungshaft besteht in der Bewertung der Transportfähigkeit des Häftlings. Diese Beurteilung wird durch Fesselungen und die damit verbundene erschwerte klinische Untersuchung kompliziert. Zudem wird in der Ausschaffungshaft häufig nur Nothilfe vergütet, was die Möglichkeiten der medizinischen Versorgung weiter einschränkt.
Die Behandlung von Suchterkrankungen im Gefängnis stellt eine weitere Herausforderung dar, da der Entzug oft schwer vom System zu tragen ist. Therapien sollten auf freiwilliger Basis erfolgen und nicht erzwungen werden. Ohne adäquate Unterstützung besteht ein hohes Risiko für Rückfälle, was die Notwendigkeit einer umsichtigen medizinischen und psychologischen Betreuung unterstreicht.
Das Spannungsfeld zwischen ärztlicher Schweigepflicht und dem nötigen Informationsaustausch mit den als Pflegepersonal fungierenden Angestellten des Gefängnisses ist besonders komplex. Ärzte sind dabei verpflichtet, die Vertraulichkeit von Patienteninformationen zu wahren, gleichzeitig jedoch sicherzustellen, dass notwendige Informationen zur Gewährleistung der Patientensicherheit, wie beispielsweise die Medikamentengabe und die Überwachung des Gesundheitszustandes, kommuniziert werden.
Zwischenfazit
Die medizinische Versorgung von Gefangenen in Extremsituationen erfordert nicht nur medizinisches Fachwissen, sondern auch eine hohe ethische Sensibilität und die Fähigkeit, unter Druck komplizierte Entscheidungen zu treffen. Die Balance zwischen medizinischer Ethik, Patientenautonomie und gesetzlichen Vorgaben zu halten, stellt eine der grössten Herausforderungen für Mediziner im Strafvollzug dar.
Organisatorische und systemische Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung von Gefangenen
Ungereimtheiten in der Krankenversicherung von Häftlingen
Die Regelungen zur Krankenversicherung von Gefangenen in der Schweiz sind komplex und uneinheitlich, was grösstenteils auf die unterschiedlichen Bestimmungen der kantonalen Konkordate zurückzuführen ist. Diese Uneinheitlichkeit führt zu signifikanten Unterschieden in der Handhabung und Finanzierung der medizinischen Versorgung.
Im Ostschweizer Strafvollzugskonkordat existiert kein vertraglich festgelegter Rahmen, sondern lediglich ein Merkblatt, welches die Richtlinien vorgibt. Die Einweisungsbehörde muss entscheiden, ob sie die Kosten für die medizinische Versorgung des Häftlings übernimmt oder ob diese an einen anderen interkantonalen Kostenträger weitergeleitet werden.
Im Konkordat der lateinischen Schweiz werden die Kosten für die medizinische Versorgung generell vom Urteilskanton oder dem verantwortlichen Kanton getragen.
Im Strafvollzugskonkordat der Nordwest- und Innerschweiz übernimmt die Vollzugseinrichtung selbst die Kosten für die medizinische Versorgung.
Die divergierenden Regelungen resultieren in einer Entscheidung über die medizinische Behandlung durch Behörden, die möglicherweise nicht über die erforderlichen medizinischen Kompetenzen verfügen und deren Entscheidungen durch finanzielle Erwägungen beeinflusst sein könnten.
Empfehlungen zur Verbesserung
Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter hat die Einführung einer obligatorischen Krankenversicherungspflicht für alle Häftlinge empfohlen. Dies würde eine Vereinheitlichung der Versorgungsstandards ermöglichen und sicherstellen, dass alle Gefangenen unabhängig vom Kanton oder der Vollzugseinrichtung denselben Zugang zu medizinischen Leistungen haben.
Unterschiede in der Gesundheitsversorgung
Die Gesundheitsversorgung variiert erheblich zwischen verschiedenen Kantonen und Vollzugseinrichtungen. Diese Unterschiede ergeben sich aus den verschiedenen gesetzlichen Regelungen jedes Konkordats und jedes Kantons. Darüber hinaus beeinflusst die Anzahl der Insassen in den jeweiligen Einrichtungen die Verfügbarkeit und Qualität der medizinischen Dienstleistungen. Grössere Einrichtungen sind möglicherweise in der Lage, ein breiteres Spektrum an Gesundheitsdiensten anzubieten, während kleinere Einrichtungen mit begrenzten Ressourcen zu kämpfen haben.
Zwischenfazit
Die derzeitige Vielfalt und Komplexität der Regelungen zur medizinischen Versorgung von Gefangenen in der Schweiz führt zu einer ungleichen Gesundheitsversorgung, die sowohl ethische als auch praktische Herausforderungen mit sich bringt. Eine landesweite Standardisierung der Gesundheitsversorgung und der Krankenversicherung für Gefangene würde nicht nur die Fairness und Gleichheit der medizinischen Behandlung verbessern, sondern auch die Transparenz und Effizienz des Systems erhöhen. Es ist von essentieller Bedeutung, dass künftige Reformen die medizinische Versorgung von Gefangenen als integralen Bestandteil der öffentlichen Gesundheits- und Menschenrechtspolitik betrachten.
Unterschiede zur Gesundheitsversorgung in Freiheit: Herausforderungen und ethische Überlegungen
Die Gesundheitsversorgung im Gefängnis unterscheidet sich signifikant von jener in Freiheit und bringt eine Reihe von Nachteilen und Ungerechtigkeiten mit sich.
Dies steht in starkem Kontrast zu der Wahlmöglichkeit, die Menschen in Freiheit normalerweise haben. Zudem ist das Risiko für psychische und physische Krankheiten in Gefängnissen deutlich erhöht, was teilweise auf die hohe Konzentration von Personen in oft beengten Verhältnissen zurückzuführen ist. Das Risiko für Infektionskrankheiten war beispielsweise im Jahr 2008 in Gefängnissen signifikant höher als in der Allgemeinbevölkerung.
Das Projekt BIG wurde ins Leben gerufen, um die Prinzipien der Gleichwertigkeit der medizinischen Versorgung in Gefängnissen zu stärken und das Risiko von Ansteckungen zu senken. Trotz solcher Initiativen bleibt die Isolationshaft ein kritisches Thema, da sie mit einer bis zu zehnfach erhöhter Sterblichkeitsrate verbunden ist.
Unterschiede in den gesetzlichen Regelungen
Die Unterschiede in den gesetzlichen Regelungen zwischen den Konkordaten führen zu einer ungleichen Behandlung von Gefangenen in verschiedenen Kantonen. Dies beeinträchtigt die Einheitlichkeit und Gerechtigkeit der medizinischen Versorgung. Die Aufgaben dieser Ärzte sind aussergewöhnlich und liegen oft ausserhalb des üblichen medizinethischen Rahmens. Viele Standardtherapiemöglichkeiten, die ausserhalb des Gefängnisses verfügbar sind, fallen weg, was die Behandlungsoptionen einschränkt.
Gemeinsamkeiten in der Behandlungsqualität und ärztlichen Pflichten
Trotz der genannten Unterschiede muss die Qualität der Behandlungen im Gefängnis die gleichen Standards erfüllen wie ausserhalb. Das freie Einverständnis des Patienten nach ausreichender Aufklärung ist auch im Gefängnis erforderlich. Bei Unzurechnungsfähigkeit oder akuter Gefährdung darf von diesem Grundsatz abgewichen werden. Die ärztliche Schweigepflicht gilt unverändert, auch unter den erschwerten Bedingungen des Gefängnisses.
Zwischenfazit
Die Gesundheitsversorgung in Gefängnissen stellt aufgrund struktureller und organisatorischer Besonderheiten sowie ethischer Herausforderungen ein einzigartiges medizinisches Umfeld dar. Es sind kontinuierliche Anstrengungen und Reformen erforderlich, um die Gerechtigkeit, Qualität und Sicherheit der medizinischen Versorgung für diese vulnerablen Gruppen zu verbessern und den Standards der freien Gesellschaft anzugleichen.
Schlussfolgerung und Vorschläge für die Praxis
Für eine effektive medizinische Versorgung von Gefangenen ist es essenziell, dass medizinisches Personal regelmässig in ethischen Fragen und den spezifischen Bedingungen des Gefängnisumfeldes geschult wird. Zudem sollte die ärztliche Unabhängigkeit stets gewahrt bleiben, um eine medizinische Versorgung frei von administrativen und sicherheitsrelevanten Einschränkungen zu gewährleisten.
Die medizinische Versorgung von Gefangenen erfordert nicht nur ein hohes Mass an medizinischer Kompetenz, sondern auch ein tiefes Verständnis für die rechtlichen und ethischen Rahmenbedingungen. Hausärzte und Grundversorger spielen eine entscheidende Rolle in der Gewährleistung einer adäquaten und gerechten medizinischen Betreuung dieser vulnerablen Bevölkerungsgruppe.
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Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
1. Anzahl der Gefängnisinsassen in der Schweiz von 2003 bis 2023
[Internet]. Verfügbar unter: https://de.statista.com/statistik/daten/
studie/294714/umfrage/gefaengnisinsassen-in-der-schweiz/
2. SAMW [Internet]. [zitiert 6. Mai 2024]. Medizin im Strafvollzug.
Verfügbar unter: https://www.samw.ch
der informierte @rzt
- Vol. 14
- Ausgabe 9
- September 2024