- Mikrobiom interdisziplinär: Adipositas, metabolisches Syndrom, Darminfektionen, Psychosen
Der Hype um das Thema «Mikrobiom» ist ungebrochen. Und es mehren sich die wissenschaftlichen Daten, die zeigen, dass an der kausalen Bedeutung der Darmflora nicht nur bei Darminfektionen, sondern auch bei metabolischen Störungen und zentralnervösen Erkrankungen etwas dran sein könnte.
Die Schleimhäute des Menschen sind mit Bakterien besiedelt, wobei das Kolon die höchste Bakteriendichte aufweist. Insgesamt besteht das intestinale Mikrobiom aus bis zu 100 Trillionen (1014) Organsimen aus 300 - 1000 Spezies. Bis vor einigen Jahren war kaum etwas darüber bekannt, um welche Bakterienstämme es sich handelt und welche Funktionen diese wahrnehmen. «Wir wissen heute, dass das Mikrobiom eine wichtige Rolle für unsere Gesundheit spielt», so Professor Michael Scharl, Zürich. Es entfalte metabolische, strukturelle und metabolische Funktionen.
Neue molekularbiologische Methoden erlauben heute die detaillierte Analyse der Bakterienspezies und ihrer Funktionen, auch solcher Bakterien, die kaum kultivierbar sind. Auch ist unbestritten, dass eine Modulation des Mikrobioms durch Ernährung, Prä- und Probiotika oder Stuhltransplantation positive Wirkungen zeigt. Grundsätzlich scheint eine Abnahme der Bakterienstämme, also eine geringere Diversität für Alles ungünstig zu sein. Dieser neue Angriffspunkt für therapeutische Massnahmen wird die medizinische Therapie der Zukunft verändern. Darüber sind sich die Experten einig.
Eine ursächliche Bedeutung bei Darmerkrankungen
Eine wichtige Schlüsselfunktion des Mikrobioms ist die Unterstützung der mukosalen Immunabwehr. Eine Dysbiose im Bereich des Darmmikrobioms führt in tierexperimentellen Untersuchungen zu Störungen im Bereich des intestinalen Immunsystems. Folgen sind vermehrte Darminfektionen, Entzündungen und Diarrhöen. Und auch der Reizdarm ist mit Veränderungen des Mikrobioms assoziiert. Dasselbe gilt für intestinale Tumorerkrankungen; denn sie treten bei Dysbiose häufiger auf. Sollten sich diese Ergebnisse beim Menschen reproduzieren lassen, so könnten daraus neue Behandlungskonzepte zur Prävention und Therapie von Darmentzündungen und -tumoren entwickelt werden. Schon heute ist die fäkale Microbiota Transfer (FMT) eine etablierte Therapie bei der refraktären Clostridium difficile-Infektion. «Und erste randomisierte Studien belegen eine gewisse Wirksamkeit bei Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen», so Scharl. Auch könne der FMT ein neuer Ansatz bei der Checkpoint-Inhibitor-Kolitis und auch beim Reizdarm sein. Erste Studienergebnisse sprechen dafür, dass die mikrobielle Stuhlanalyse beim Kolonkarzinom als prognostischer Marker und als Screening-Test Verwendung finden könnte.
Darm und Psyche
Schon in Volksweisheiten wird eine Verbindung zwischen Darm und Psyche beschrieben: «Stress schlägt auf den Magen». «Nach neueren Forschungsergebnissen können Veränderungen des Mikrobioms, also eine Dysbiose, wesentliche Körperfunktionen auch im ZNS verändern», so Dr. Patrick Pasi, Zürich. Das Mikrobiom sei entscheidend für die Entwicklung einer gesunden Stressreaktion. Auch können Bakterien wichtige Botenstoffe wie Serotonin und Dopamin produzieren. In der Tat scheinen Zusammenhänge zwischen dem Mikrobiom und neurologisch-psychiatrischen Krankheitsbildern wie Autismus und Depression, aber auch Anorexia nervosa, M. Parkinson, MS, Abhängigkeiten und M. Alzheimer zu bestehen. Doch die diesen Beobachtungen zugrundeliegenden Mechanismen der «Darm-Hirn-Achse» sind bisher nicht vollständig verstanden. Auch hier besteht Hoffnung auf neue Therapieansätze z. B. mit Probiotika. «Bakterien können vielleicht helfen, die Stimmung zu verbessern», so Pasi.
Veränderungen des Metabolismus führen zur Adipositas
Unbestritten ist auch, dass Darmbakterien z.B. bei Kälteexposition die Energieaufnahme optimieren, indem die Mikrobiom-Funktionen angepasst werden und die Darmoberfläche vergrössert wird. Doch was bei Kälte und Hunger vorteilhaft ist, kann bei einem Überfluss an Nahrung und Kälte von Nachteil sein. Zwischen Normal- und Übergewichtigen gibt es Unterschiede im Darmmikrobiom. Dies könnte erklären, warum Menschen bei gleicher Ernährung einen unterschiedlichen Gewichtsverlauf zeigen. Man hofft, daraus neue Ansätze für die Prävention der Adipositas und damit auch der kardio-metabolischen Folgeerkrankungen entwickeln zu können.
Die Hyperalimentation, insbesondere von Zuckern und Fetten, kann zu Störungen der Darmbarriere führen und die Translokation von Bakterien oder Bakterienbestandteilen wie Lipopolysacchariden begünstigen. Folge ist eine subklinische Entzündung, eine Leberverfettung und metabolische Veränderungen. So ist der Darm neben dem Fettgewebe und dem Immunsystem an der Entstehung des metabolischen Syndroms bei Adipositas beteiligt und bietet somit eine Chance, solche metabolischen Störungen gezielt zu verhindern. Dass dies funktioniert, konnte bereits in tierexperimentellen Studien gezeigt werden.
Quelle: Prof. Michael Scharl, Prof. Christian Matter, Dr. Patrick Pasi, MediDays 2020, 3.9.2020