- Nebenwirkungen von somatischen Medikamenten auf die Psyche
Psychiatrische Symptome können als Nebenwirkungen von Medikamenten auftreten, welche zur Behandlung somatischer Erkrankungen eingesetzt werden; sie bringen teils erhebliche Beeinträchtigungen und Folgen für die Patienten und deren Behandlung mit sich. Dieser Artikel beleuchtet, wie psychiatrische Nebenwirkungen unter somatischer pharmakologischer Therapie auftreten können, wie sie zu diagnostizieren sind und wie hiermit therapeutisch umgegangen werden sollte.
Psychiatrische Symptome können als Nebenwirkungen von Medikamenten auftreten, welche zur Behandlung somatischer Erkrankungen eingesetzt werden. Diese sind klinisch kaum zu unterscheiden von psychiatrischen Symptomen als Ausdruck von psychiatrischen Erkrankungen im engeren Sinne und stellen eine grosse diagnostische und therapeutische Herausforderung für den Behandler dar.
Zahlreiche Veröffentlichungen befassen sich mit dem «umgekehrten» Fall, dem Nebenwirkungsmanagement von somatischen Nebenwirkungen unter psychopharmakologischer Therapie; beispielsweise dem erhöhten Risiko von Gewichtszunahme unter Neuroleptika oder der QTc-Zeit-Verlängerung unter zahlreichen Psychopharmaka (1).
Wie psychiatrische Nebenwirkungen unter somatischer pharmakologischer Therapie auftreten, wie sie zu diagnostizieren sind und wie therapeutisch hiermit umgegangen werden soll, ist jedoch ein in der Literatur eher vernachlässigtes Thema.
Folgen von psychiatrischen Nebenwirkungen somatischer Medikamente
Das Auftreten psychiatrischer Nebenwirkungen von primär nicht-psychotropen Medikamenten kann bedeutsame schädliche Folgen haben: Zunächst einmal können diese erhebliches Leid für den Patienten verursachen. Das Auftreten von psychiatrischen Nebenwirkungen erhöht zudem das Risiko für Morbidität und Mortalität (2). In ausgeprägten Fällen können auch Selbst- oder Fremdgefährdung resultieren, wenn beispielsweise Suizidalität aus einem depressiven Syndrom oder eine reduzierte Impulskontrolle als Nebenwirkung auftreten. Darüber hinaus sind psychiatrische Symptome langfristig korreliert mit reduzierter Therapieadhärenz (3). Versorgungsrelevant ist zudem, dass stationäre Patienten mit relevanten psychiatrischen Nebenwirkungen länger hospitalisiert sind und ambulante Patienten mit psychiatrischen Nebenwirkungen häufiger das Gesundheitssystem in Anspruch nehmen (4).
Praktische Herausforderung: Wie identifiziert man psychiatrische Nebenwirkungen?
Das Identifizieren von psychiatrischen Nebenwirkungen stellt in der Praxis eine grosse Herausforderung für den Arzt dar: Klinisch zeigt sich nämlich eine sehr heterogene Gruppe von Symptomen, welche von affektiver Symptomatik mit einem depressiven oder manischen Syndrom bis zu kognitiver Beeinträchtigung oder Agitation reichen können.
Die psychiatrischen Nebenwirkungen sind aus den klinischen Zulassungsstudien der Medikamente zudem oft nicht ableitbar, da sie insgesamt seltene Ereignisse darstellen, sich oft erst in der längeren Anwendung zeigen und zudem noch methodologisch schwer zu erfassen sind. Meist werden sie erst nach der Zulassung in der klinischen Anwendung identifiziert (5).
Wie etabliert man den kausalen Zusammenhang zwischen psychiatrischer Symptomatik und dem potenziellen pharmakologischen Agens?
Es stellt sich das Problem, dass das Etablieren eines Zusammenhangs zwischen der psychiatrischen Symptomatik und der Medikamentengabe herausfordernd und komplex ist. Wenn ein Patient, welcher medikamentös für ein metabolisches Syndrom mit drei verschiedenen Medikamenten behandelt wird, klinisch depressive Symptome entwickelt, sind mehrere Zusammenhänge denkbar: z.B. könnte es sich um ein rein zufälliges gemeinsames Auftreten von depressiven Symptomen und der Grunderkrankung und deren Therapie handeln. Es könnte sein, dass sich ein zunächst nicht klinisch entdecktes, «unterschwellig» vorhandenes depressives Syndrom unter der Therapie verstärkt hat. Es ist weiterhin denkbar, dass eine neue somatische Erkrankung aufgetreten ist, welche die psychiatrischen Symptome bedingt, zum Beispiel eine Hypothyreose. Oder aber es besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen der pharmakologischen Therapie und der depressiven Symptomatik.
Ein kausaler Zusammenhang zwischen einer somatischen pharmakologischen Therapie und psychiatrischen Nebenwirkungen ist sehr wahrscheinlich (6), wenn:
- es einen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Medikamenteneinnahme und dem Auftreten des psychiatrischen Symptoms gibt.
- es bereits Evidenz zum Zusammenhang zwischen dem angewandten Medikament und dem psychiatrischen Symptom gibt.
- es keine / wenig alternative Erklärungen für das Auftreten der psychiatrischen Symptome gibt.
- die psychiatrischen Symptome nach Absetzen des Medikamentes deutlich rückläufig sind (die sogenannte «Dechallenge»).
- die psychiatrischen Symptome nach Wiederansetzen erneut auftreten (die sogenannte «Rechallenge»).
Wie verursachen Medikamente psychiatrische und behaviorale Symptome?
Zum Verständnis dieser Zusammenhänge ist es bedeutsam, wie primär nicht-psychotrope Medikamente psychiatrische Nebenwirkungen verursachen. Wie bei allen Nebenwirkungen kann man hierbei pharmakologisch zwischen pharmakodynamischen und pharmakokinetischen Mechanismen unterscheiden:
– Pharmakodynamische Mechanismen: Pharmakotherapeutika zur Behandlung somatischer Erkrankungen können ZNS-gängig sein und Neurotransmittersysteme direkt beeinflussen (7). Ein gutes Beispiel hierfür sind dopaminerge Substanzen wie Levodopa, welche in der Behandlung vom Morbus Parkinson eingesetzt werden. Analog der Dopamin-Hypothese der Schizophrenie können Medikamente, welche dopaminerg wirken, zu produktiv-psychotischen Symptomen wie Halluzinationen oder Wahnerleben führen, während die antagonistische Wirkung an Dopaminrezeptoren ein wichtiger Wirkmechanismus bei Antipsychotika darstellt. Etwas komplexer ist der Mechanismus bei der Interferon-Therapie, wo psychiatrische Nebenwirkungen über zentrale proinflammatorische Zytokine vermittelt werden.
– Pharmakokinetische Mechanismen sind dann relevant, wenn die psychiatrische Nebenwirkung einer Dosis-Wirkungs-Beziehung folgt. Eine reduzierte Medikamenten-Clearance, verursacht durch eingeschränkte Organfunktionen wie eine hepatische Insuffizienz, einen Enzym-Polymorphismus im hepatischen CYP-Enzymsystem oder Medikamenten-Interaktionen, ist hierbei der bedeutendste Mechanismus (7). Mefloquin beispielsweise führt im Dosisbereich der prophylaktischen Anwendung nur sehr selten zu psychiatrischen Nebenwirkungen. Wird dieses nun aber kombiniert mit einem CYP3A4-Inhibitor wie einem Makrolid, kann es aufgrund der reduzierten Mefloquin-Clearance zu einem Dosisanstieg und konsekutiv zu erheblichen neuro-psychiatrischen Nebenwirkungen kommen.
Risikofaktoren
Die Wahrscheinlichkeit, dass psychiatrische Nebenwirkungen auftauchen, hängt wesentlich auch von der Vulnerabilität der Patienten ab. Die Risikofaktoren für das Auftreten psychiatrischer Nebenwirkungen lassen sich in therapiebezogene und patientenbezogene Risikofaktoren unterteilen (7):
– Therapiebezogene Risikofaktoren:
• Polypharmazie
• hohe Medikamentendosen
• Applikationsform (beispielsweise intravenös oder subkutan)
• schnelle Medikamentengabe (beispielsweise intravenös)
• niedriger therapeutischer Index der Wirksubstanz
– Patientenbezogene Risikofaktoren:
• Psychische Erkrankung (aktuell oder in der Vorgeschichte)
• Schlechte Stoffwechsellage (beispielsweise Kachexie)
• Erhöhte Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke (beispielsweise bei Meningitis)
• Sehr junge oder sehr alte Patienten
• Postpartale Patientinnen
• Stressvolle Umgebung (beispielsweise auf der Intensivstation)
Hieraus wird auch ersichtlich, dass es unveränderliche und modifizierbare Risikofaktoren gibt, was für das klinische Management eine bedeutsame Rolle spielt.
Kortikosteroide als Beispiel für Medikamente mit psychiatrischen Nebenwirkungen
Kortikosteroide sind die in der klinischen Praxis am häufigsten eingesetzten Immunmodulatoren, welche bei zahlreichen Indikationen Anwendung finden. Sie sind ein eindrückliches Beispiel dafür, wie vielfältig psychiatrische Nebenwirkungen sein können: Diese reichen von Angstsymptomen, Insomnie, emotionaler Labilität, Reizbarkeit und kognitiver Beeinträchtigung bis hin zu schweren affektiven Syndromen wie Depression oder Manie, psychotischen Symptomen und reversiblen dementiellen Syndromen (8). Transiente und mildere psychiatrische Nebenwirkungen treten bei 13-62 Prozent der behandelten Patienten auf, schwere psychiatrische Nebenwirkungen bei ca. 5-10 Prozent (9) Die psychiatrischen Nebenwirkungen treten meist relativ rasch nach Kortikosteroidgabe auf und folgen einer Dosis-Nebenwirkungskurve: je höher die applizierte Dosis, desto wahrscheinlicher das Auftreten psychiatrischer Nebenwirkungen. Bei akuter Anwendung treten insbesondere Manien häufig auf, während bei langfristiger Anwendung häufiger Depressionen auftreten. Interessanterweise ist das Auftreten psychiatrischer Nebenwirkungen unter Kortikosteroidtherapie nicht assoziiert mit psychiatrischen Vorerkrankungen (10).
Diagnostisches und therapeutisches Vorgehen
Zusammenfassend sind folgende Prinzipien für das Management bei psychiatrischen Nebenwirkungen zu empfehlen (adaptiert und ergänzt gemäss 4)
– Dem Eruieren des Zusammenhangs zwischen psychiatrischem Symptom und der auslösenden Medikation kommt eine wichtige Bedeutung zu.
– Das Erheben einer gründlichen psychiatrischen und somatischen Anamnese zum Erfassen von Risikofaktoren für das Auftreten von psychiatrischen Nebenwirkungen ist essentiell, um vulnerable Patienten frühzeitig zu identifizieren. Beeinflussbare Risikofaktoren sollten kontrolliert und, wenn möglich, reduziert werden.
– Um pharmakokinetische Interaktionen zu identifizieren, welche das Auftreten von psychiatrischen Nebenwirkungen bedingen, ist es hilfreich und empfehlenswert, einen Medikamenten-Interaktionscheck durchzuführen. Hierbei können Datenbanken wie die Open Drug Database (ch.ODDB.org) oder MediQ (www.mediq.ch) hilfreich sein.
– Primär sollte die Pharmakotherapie der somatischen Grunderkrankung optimiert und «wenn möglich reduziert» werden, bevor weitreichendere Massnahmen wie eine psychopharmakologische Therapie der Symptome in Betracht gezogen werden.
– Der Wechsel oder das Absetzen des auslösenden Medikamentes sollte erst nach sorgfältiger Risiko-Nutzen-Abwägung erfolgen.
– Der Einsatz von Psychopharmaka zur Behandlung der Nebenwirkungen sollte kritisch geprüft werden und stellt nicht das therapeutische Vorgehen der Wahl dar.
– Patienten und gegebenenfalls deren Angehörige sollten über die Möglichkeit des Auftretens von psychiatrischen Nebenwirkungen und allfällig über die Ätiologie der psychiatrischen Symptomatik und das geplante therapeutische Vorgehen aufgeklärt werden, um die Therapieadhärenz zu stärken.
– Eine enge Zusammenarbeit zwischen Grundversorger und Psychiater ist vor dem Hintergrund der Komplexität der Problematik sinnvoll. Im klinischen Setting ist das niederschwellige Hinzuziehen eines Konsiliar- und Liaisonpsychiaters empfehlenswert.
Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik
Culmannstrasse 8
8091 Zürich
oliver.matthes@usz.ch
Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik
Culmannstrasse 8
8091 Zürich
Die Autoren haben keine Interessenskonflikte in Zusammenhang mit diesem Beitrag.
- Einige in der somatischen Medizin eingesetzte Medikamente führen zu psychiatrischen Nebenwirkungen, die erhebliche Beeinträchtigungen und Folgen für den Patienten und dessen Behandlung mit sich bringen können. Der frühen Erkennung dieser Nebenwirkungen kommt daher eine zentrale Bedeutung zu.
- Die Kenntnis der Risikofaktoren für das Auftreten psychiatrischer Nebenwirkungen ist entscheidend, um vulnerable Patienten zu identifizieren.
- Die Herstellung des Zusammenhangs einer psychiatrischen Symptomatik mit einer Medikation im Sinne einer Nebenwirkung ist oft herausfordernd.
- Die wichtigsten Behandlungsstrategien beim Auftreten von psychiatrischen Nebenwirkungen umfassen vor allem die Modifikation von veränderbaren Risikofaktoren sowie die Optimierung der Pharmako-
therapie. Ein Wechsel oder Absetzen des auslösenden Medikamentes oder eine begleitende psychopharmakologische Therapie können bei ausgeprägten refraktären Nebenwirkungen notwendig werden.
Literatur:
1. Vandael E, et al. Risk Factors for QTc-Prolongation: systematic review of the evidence. Int J Clin Pharm 2017, 39: 16-25.
2 Desai AK. Psychotropic side effects of commonly prescribed medications in the elderly. Primary Psychiatry 2004, 11: 27-34.
3 Pachi A, Bratis D, Moussas G, et al. Psychiatric morbidity and other factors affecting treatment adhearence in pulmonary tuberculosis treatment. Tuberculosis Research and Treatment 2013, 2013: 1-37.
4 Gupta A, Chadda RK. Adverse psychiatric effects of non-psychotropic medications. BJ Psych Advances 2016, 22: 325-334.
5 Holvey C, Connolly A, Taylor D. Psychiatric side effects of non-psychiatric drugs. British Journal of Hospital Medicine 2010, 71: 432-6.
6 Turjanski N, Lloyd GG. Psychiatric side effects of medications: recent developments. Advances in Psychiatric Treatment 2005, 11: 58-70.
7 Tango RC. Psychiatry side effects of medications prescribed in internal medicine. Dialogues in Clinical Neuroscience 2003, 5: 155-65.
8 Judd LL, Schettler PJ, Brown ES, et al. Adverse consequences of glucocorticoid medication: psychological, cognitive, and behavioral effects. American Journal of Psychiatry 2014, 171: 1045-51.
9 Warrington TP, Bostwick JM. Psychiatric adverse effects of corticosteroids. Mayo Clinic Proceedings 2006, 81: 1361-7.
10 Kenna H, Poon AW, De Los Angeles CP, et al. Psychiatric complications of treatment with corticosteroids: review with case report. Psychiatry and Clinical Neurosciences 2011, 65: 549-60.
der informierte @rzt
- Vol. 8
- Ausgabe 12
- Dezember 2018