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Oft nicht wahrgenommen

Obstipation im Alter

Die Obstipation ist bei älteren Menschen aufgrund ballaststoffarmer Ernährung, ungenügender Hydrierung, mangelnder Bewegung, Begleiterkrankungen und der Verwendung von Medikamenten mit obstipierender Nebenwirkung ein häufiges und leider oft unterschätztes Problem. Das Ziel dieses Artikels ist zum einen die Repetition von allbekanntem Wissen, zum anderen soll er Denkanstösse geben, um bisherige Haltungen, Verhaltens- und Vorgehensweisen zu reflektieren.



Die mit ca. 70% häufigste Form ist die chronisch funktionelle Obstipation, welche mit den 2016 veröffentlichten ROM-IV-Kriterien diagnostiziert werden kann (Tab. 1) (1, 2). Diese bilden den internationalen Goldstandard, werden aber wegen ihrer Komplexität nur selten systematisch angewandt. Im Alltag sind die Kriterien jedoch als offene Fragen eine wichtige Hilfestellung, um den pathophysiologischen Mechanismus der Obstipation beim Patienten besser zu verstehen. Die mit ca. 20-30% zweithäufigste Ursache der Obstipation ist die Defäkationsstörung bzw. Stuhlentleerungsstörung. Im weiteren Verlauf liegt das Hauptaugenmerk auf der chronisch funktionellen Obstipation.

Anamnese

Das Thema der Obstipation ist im Alter oftmals mit Scham behaftet, sodass einer adäquaten Kommunikation ein besonderer Stellenwert zukommt. Eine Reflexion über die vielfältigen Asymmetrien in der Kommunikation mit älteren Patienten kann dabei helfen, deren kommunikative Bedürfnisse besser zu erkennen (Experte − Laie; gesund − krank, selbständig − abhängig, kognitiv gesund − kognitiv beeinträchtigt, jung − alt). Folgende Besonderheiten sind bei der Anamneseerhebung älterer Patienten u.a. zu beachten (3):

  • Auch bei voller Kooperation erwähnen ältere Patienten oftmals Symptome nicht, weil sie glauben, diese seien Teil des normalen Alterungsprozesses (Tab. 2).
  • Erkrankungen können sich bei Älteren lediglich in Form von funktionellem Abbau äussern, so dass diagnostische Standardfragen teilweise weniger funktionieren.

Es kann zum Beispiel sein, dass Patienten mit Obstipation auf die Frage nach Begleiterscheinungen nicht über Schmerzen, Nausea oder Erbrechen berichten, dass sie aber, wenn sie nach Veränderungen und Schwierigkeiten bei der Ausführung der grundlegenden Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) (4) oder der instrumentellen ADL (IADL) (5) befragt werden, erzählen, dass sie aufgrund von zunehmenden Bauchschmerzen nicht mehr Spazierengehen.
Bei kognitiv gesunden älteren Patienten sollte neben der Stuhlfrequenz und -konsistenz auch geklärt werden, ob sich der Patient anstrengen muss oder ob er perineale Manöver (z.B. Druck auf das Perineum, Gesässbereich oder die rekto-vaginale Wand) beim Stuhlgang anwendet. Ausserdem sollte die Zufriedenheit nach dem Stuhlgang, die Häufigkeit und Dauer der Verwendung von Abführmitteln oder Einläufen sowie das Vorkommen und die Menge von Blutbeimengungen im Stuhl eruiert werden. Fragen nach bekannten Ursachen einschliesslich früheren abdominalen Operationen und Symptomen von metabolischen (z.B. Hypothyreoidismus, Diabetes mellitus) und neurologischen (z.B. Parkinson-Krankheit, multiple Sklerose, Rückenmarkverletzung) Erkrankungen, der Verwendung verschreibungspflichtiger (v.a. Anticholinergika und Opioide) und rezeptfreier Arzneimittel sowie Fragen zu Ernährungsgewohnheiten und Mobilisation runden das Anamnesegespräch ab. Im Umgang mit dementen Patienten können auffällige Verhaltensweisen oder Symptome wie Unruhe, Aggression und/oder sozialer Rückzug atypische Anzeichen von Schmerzen im Rahmen einer möglichen Obstipation sein (3). Die American Geriatric Society hat 2002 eine Leitlinie der verhaltensbezogenen Schmerzindikatoren herausgegeben, welche vor allem für die Schmerzbeurteilung bei kognitiv eingeschränkten Personen angewendet werden kann, wobei ein breites Spektrum verbaler und nonverbaler sowie verhaltensbezogener Kriterien abgedeckt werden (Tab. 3) (6).

Zusammenarbeit mit Angehörigen und anderen medizinischen Fachpersonen

Insbesondere bei hochbetagten oder kognitiv beeinträchtigten Patienten ist eine enge Zusammenarbeit sowie eine gute Kommunikation mit den Angehörigen und den beteiligten medizinischen Fachpersonen eine wichtige Voraussetzung für die Anamnese bzw. den Behandlungserfolg. Im Sinne der Befunderhebung können v.a. pflegende Angehörige und die zuständigen professionellen Pflegepersonen (v.a. auch Spitex oder stationär tätige Pflegepersonen inklusive Pflegedokumentation) wichtige Hinweise geben. Informationen zur Ernährungssituation werden nicht nur von Ärzten erhoben, sondern oft sind Krankenpflegekräfte die Ersten, die sich um Fragen der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr kümmern. Erfahrungsgemäss kommt nämlich rasch eine Fülle an diagnostisch und therapeutisch essentiellen Informationen zusammen, wenn viele Augen aus unterschiedlichen Disziplinen sie wahrnehmen (3).

Körperliche Untersuchung

Es wird eine Ganzkörperuntersuchung mit Konzentration auf Zeichen einer Systemkrankheit inkl. Fieber und Kachexie durchgeführt. Abdominale Massen sollten durch Palpation festgestellt werden. Eine rektale Untersuchung sollte nicht nur zur Feststellung von Fissuren, Stenosen, Blut oder Massen (einschliesslich Koteinklemmung) erfolgen, sondern auch zur Beurteilung des analen Ruhetonus oder der perinealen Senkung während der simulierten Stuhlentleerung und der rektalen Sensibilität.

Warnhinweise

Bestimmte Befunde begründen den Verdacht auf eine ernstere Ursache der chronischen Verstopfung:

  • aufgetriebener, tympanitischer Bauch
  • Erbrechen
  • Blut im Stuhl
  • Gewichtsverlust
  • schwere Verstopfung, die erst kürzlich aufgetreten ist bzw. sich verschlimmert bei älteren Patienten.

Stufenweise Abklärung

Die Obstipation mit einer klaren Ursache (z.B. Medikamente, Bettruhe) kann symptomatisch ohne weitere Untersuchungen behandelt werden. Die meisten Patienten ohne klare Ätiologie erfordern eine Laboruntersuchung (Untersuchung des Blutbildes, TSH, Nüchternglukose, Elektrolyte und Kalzium) sowie eine allfällige Koloskopie. Weitere Untersuchungen bleiben in der Regel Patienten mit pathologischen Ergebnissen der oben diskutierten Tests vorbehalten oder jenen, die nicht auf eine symptomatische Behandlung ansprechen (7, 8).
Allgemeinmassnahmen wie das Absetzen der verursachenden Medikamente (einige können notwendig sein!), die Steigerung der Ballaststoffzufuhr, ausreichend Flüssigkeit bzw. Bewegung bilden die Basis der Behandlung der chronischen Obstipation (Tab. 4). Als Stufe 1-Medikament empfiehlt sich ein Ballaststoff (Kleie, Flohsamen), wobei man dabei nicht vergessen werden darf, dass dies eine ausreichende Trinkmenge voraussetzt, da nur so der gewünschte Quelleffekt entstehen kann. Ein Versuch mit einer kurzen Anwendung osmotischer Abführmittel stellt die 2. Stufe dar. Osmotische Substanzen enthalten schwer resorbierbare polyvalente Ionen (z.B. Magnesium, Phosphat, Sulfat), Polymere (z.B. Polyethylenglycol z.B. Macrogol: 1. Wahl) oder Kohlenhydrate (z.B. Lactulose, Sorbit; 2. Wahl) die im Darm verbleiben, somit den intraluminalen osmotischen Druck erhöhen und auf diese Weise Wasser ins Intestinum ziehen. Das entsprechend zunehmende Volumen des Darminhalts stimuliert die Peristaltik. Die Ursache für die Opioid-induzierte Obstipation liegt in der Bindung der Medikamente an enterische μ-Opioidrezeptoren, die den Darmtonus und die Kontraktilität verringern und die Absorption von Dickdarmflüssigkeit erhöhen. Betroffen sind dabei je nach Setting zwischen 41% bis 94% der Opioidkonsumenten (9). Ende des vergangenen Jahres publizierte die «American Gastroenterological Association” Richtlinien für die medikamentöse Therapie der Opioid-induzierten Obstipation (10). Traditionelle Abführmittel wie Stuhlweichmacher und osmotische, Stimulantien und Gleitmittel werden als Erstbehandlung von Opioid-induzierter Obstipation (starke Empfehlung; mässige Evidenz) empfohlen. Die peripher wirksamen μ-Opioid-Rezeptorantagonisten (PAMORAs) wie Naldemedin (hohe Evidenz) oder Naloxegol (moderate Evidenz) sollten angewendet werden, wenn trotz der Therapie mit ≥ 2 traditionellen Laxanzien eine moderate bzw. schwere Obstipation weiterhin besteht. Entscheidend an diesem Therapieansatz ist, dass diese die Ursachen der Opioid-induzierten Obstipation, nämlich die periphere μ-Opioidrezeptor-Aktivierung mit der daraus resultierenden Hemmung der Darmmotorik und -sekretion angreifen, gleichzeitig jedoch nicht die analgetische Wirkung der Opioide im ZNS beeinträchtigen, also die Blut-Hirn-Schranke nicht in pharmakologisch relevantem Ausmass passieren (9 – 11).

Dr. med. Mathias Schlögl

Department für Innere Medizin
Abteilung für Akutgeriatrie, Geriatrische Rehabilitation & Langzeitpflege
5017 Barmelweid

Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

  • Die Therapie sollte stufenweise erfolgen, eine Kombinationstherapie von oralen und rektalen Präparaten ist oft sinnvoll.
  • Auch bei voller Kooperation erwähnen ältere Patienten oftmals Symptome nicht, weil sie glauben, diese seien Teil des normalen Alterungsprozesses.
  • Eine gründliche Anamnese sowie die Zusammenarbeit mit Angehörigen und anderen medizinischen Fachpersonen bildet die Grundlage für den Therapieerfolg.

1. Schmulson MJ, Grossman DA. What Is New in Rome IV. J Neurogastroenterol Motil. 2017 Apr 30;23(2):151–63.
2. Drossman DA, Hasler WL. Rome IV-Functional GI Disorders: Disorders of Gut-Brain Interaction. Gastroenterology. 2016 May;150(6):1257–61.
3. Schlögl M, Schietzel S, Kunz R, Savaskan E, Kressig RW, Riese F. [The Physical Examination of an »Uncooperative” Elderly Patient]. Praxis. 2018 Sep;107(19):1021–30.
4. KATZ S, FORD AB, MOSKOWITZ RW, JACKSON BA, JAFFE MW. STUDIES OF ILLNESS IN THE AGED. THE INDEX OF ADL: A STANDARDIZED MEASURE OF BIOLOGICAL AND PSYCHOSOCIAL FUNCTION. JAMA. 1963 Sep 21;185:914–9.
5. Lawton MP, Brody EM. Assessment of older people: self-maintaining and instrumental activities of daily living. The Gerontologist. 1969 Autumn;9(3):179–86.
6. The management of persistent pain in older persons. J Am Geriatr Soc. 2002 Jun;50(6 Suppl):S205-224.
7. Wald A. Update on the Management of Constipation. JAMA. 2019 Nov 4;
8. Bharucha AE, Dorn SD, Lembo A, Pressman A. American Gastroenterological Association medical position statement on constipation. Gastroenterology. 2013 Jan;144(1):211–7.
9. Rao VL, Micic D, Davis AM. Medical Management of Opioid-Induced Constipation. JAMA. 2019 Nov 4;
10. Hanson B, Siddique SM, Scarlett Y, Sultan S. American Gastroenterological Association Institute Technical Review on the Medical Management of Opioid-Induced Constipation. Gastroenterology. 2019 Jan;156(1):229-253.e5.
11. Pannemans J, Vanuytsel T, Tack J. New developments in the treatment of opioid-induced gastrointestinal symptoms. United Eur Gastroenterol J. 2018 Oct;6(8):1126–35.

der informierte @rzt

  • Vol. 10
  • Ausgabe 3
  • März 2020