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Opioide bei älteren Patienten

Die Durchführung einer Opioidanalgesie bei älteren Patienten ist oft eine Herausforderung. Während Opioide zu gefährlichen Nebenwirkungen führen können, insbesondere bei einer gefährdeten geriatrischen Population, kann eine unzureichende Schmerzkontrolle zu einer dramatischen Abnahme des Funktionsstatus und der Lebensqualität führen. In diesem Artikel sollen diese Fragen diskutiert und die Grundsätze für eine sicherere Verschreibung von Opioiden in der Geriatrie überprüft werden.



Einsatz von Opioiden in der Geriatrie

Laut dem Bundesamt für Statistik sind Analgetika aller Klassen die am häufigsten konsumierten Medikamente in der Schweiz, insbesondere bei älteren Menschen (1). Der gesamte Opioidkonsum, ausgedrückt in Morphinäquivalenten pro Kopf, ist auch in der Schweiz in der Allgemeinbevölkerung über einen Zeitraum von 30 Jahren (1985-2015) um mehr als das 20-Fache gestiegen (2). Eine Genfer Beobachtungsstudie zeigte, dass 20% der geriatrischen Patienten, welche die Notaufnahme aufsuchten, zu Hause ein Opioid einnahmen und von diesen wiederum 1/3 wegen unerwünschter Wirkungen im Zusammenhang mit dieser Behandlung eine Konsultation beanspruchte (3). Es scheint jedoch so zu sein, dass über 65 Jahre alte Personen in der Schweiz nicht mehr starke Opioide erhalten als jüngere Patienten (4). Dies mag überraschend erscheinen, da Schmerzen ein sehr häufiges Symptom sind und ihre Prävalenz mit dem Alter zunimmt (5). Es scheint jedoch, dass die Angst vor der Verschreibung von Opioiden bei Patienten mit Polymorbidität und Multimedikation weiterhin eine wichtige Rolle spielt (6).
Das Vorhandensein von Komorbiditäten und das erhöhte Risiko von unerwünschten Wirkungen bei älteren Patienten verändern oft das Nutzen-Risiko-Verhältnis von Analgetika und schränken deren Auswahl in dieser Bevölkerungsgruppe ein. Opioide sind die wirksamsten Analgetika, die für starke Schmerzen zur Verfügung stehen. Ihr Einsatz ist in der Regel mässigen bis starken akuten Schmerzen vorbehalten oder dann angezeigt, wenn andere verfügbare Behandlungen versagt haben, und in der Geriatrie werden Opioide manchmal zur einzigen medikamentösen Behandlungsoption.

Die Bedeutung einer adäquaten Schmerzbehandlung

Die geriatrische Bevölkerung wird manchmal im Verhältnis zur Intensität der vorliegenden Schmerzen unterbehandelt (7-10) und starke Opioide werden zu wenig eingesetzt. Dies kann auf eine Trivialisierung seitens der Patienten zurückzuführen sein, die Schmerzen als unvermeidlich ansehen, und seitens des Pflegepersonals, das nicht immer darin geschult ist, Schmerzen bei älteren Patienten angemessen zu beurteilen und zu behandeln, insbesondere bei eingeschränkter verbaler Kommunikation oder bei kognitiven Einschränkungen. Darüber hinaus verwenden Pflegekräfte Opioide in dieser Population häufig nicht, da sie Angst vor unerwünschten Wirkungen haben und nicht ausreichend geschult sind (6, 11).
Unzureichend behandelte Schmerzen können chronisch werden und sich bei älteren Menschen sowohl in Bezug auf die Lebensqualität als auch auf die Funktionalität nachteilig auswirken. Sie können mit Schlaf- und Appetitstörungen, Depression, eingeschränkter Mobilität, Stürzen und der Unfähigkeit, Aktivitäten des täglichen Lebens durchzuführen, einhergehen und möglicherweise zu einem Verlust der Unabhängigkeit führen (12, 13). Darüber hinaus kann eine unzureichende Kontrolle der akuten Schmerzen, insbesondere in der postoperativen Phase, zu Verwirrung führen (14).
Während die Verabreichung von Opioiden ursprünglich der Behandlung akuter nozizeptiver oder tumorbedingter Schmerzen vorbehalten war, ist die Mitverschreibung eines oralen Opioids zur Behandlung chronischer, nicht krebsbedingter Schmerzen bei geriatrischen Patienten für die kurzfristige Behandlung an-haltender mässiger bis starker muskuloskelettaler Schmerzen erlaubt, wie z.B. Arthrose-Schub oder Kreuzschmerzen und wenn andere medikamentöse oder nicht-medikamentöse Ansätze versagt haben (11, 15, 16).

Geriatriespezifisches Gefährdungspotenzial der Opioide

Die weit verbreitete Sorge hinsichtlich vermehrter unerwünschter Ereignisse mit schwerwiegenden Folgen bei älteren Patienten, die Opioide einnehmen, ist berechtigt. Altersbedingte pharmakokinetische und pharmakodynamische Veränderungen sowie Komorbiditäten und Polymedikation, die in dieser Bevölkerungsgruppe extrem häufig vorkommen, machen die Gruppe anfälliger für opioidbedingte unerwünschte Ereignisse, die in ihren Merkmalen denen der übrigen Bevölkerung ähneln (17), aber häufig schwerwiegendere Folgen haben (Tab. 1). So kann eine Opioidtherapie ohne Indikation die Lebensqualität genauso stark oder stärker einschränken als die Schmerzen, gegen die sie verordnet wird (16).
Von einer erhöhten pharmakodynamischen Empfindlichkeit bei älteren Menschen, die zu einer stärkeren Wirkung bei einer gegebenen Dosis führt, wurde bei allen Opioiden berichtet. Dies führt vor allem zu Beginn der Behandlung zu einem dosisabhängigen Sturz- und Frakturrisiko (18, 19), das sich bei der Einnahme anderer Sedativa wie Benzodiazepinen, Antipsychotika, trizyklischen Antidepressiva oder Antihistaminika weiter erhöht. Diese erhöhte Empfindlichkeit fordert zu einer sorgfältigen Titration auf und ermöglicht manchmal auch ein therapeutisches Ansprechen bei Dosen, die oft niedriger sind als die bei Erwachsenen verwendeten Durchschnittsdosen.

Grundsätze für eine sicherere Verschreibung von Opioiden

Obwohl die potenziell schädlichen Wirkungen von Opioiden bei geriatrischen Patienten eine Realität sind, gibt es einfache Möglichkeiten, ihr Auftreten in dieser Bevölkerungsgruppe zu verhindern oder zu begrenzen (Tab. 1).
In erster Linie sollten Opioide ausschliesslich bei Patienten mit mässigen bis starken Schmerzen, die die Lebensqualität und das Funktionsniveau erheblich beeinträchtigen, verschrieben werden (16).
Opioide sollten, wann immer möglich, von nicht-medikamentösen Massnahmen begleitet werden. Die Therapie sollte mit einer um 25-50% niedrigeren Dosis begonnen und vorsichtiger erhöht werden als bei jüngeren Patienten (13).
Es ist wichtig, zu Beginn der Behandlung mit dem Patienten ein realistisches Therapieziel zu definieren, wie z.B. eine 30-50%ige Schmerzreduktion oder eine deutliche Verbesserung des Schlafes, der Lebensqualität, des funktionellen Status und der Wiederaufnahme sozialer Aktivitäten. Wenn diese Ziele nach maximal 4 Wochen nicht erreicht werden, sollte das Opioid schrittweise abgesetzt werden (Reduktion um 25-50% pro Woche bis zum Absetzen). Wird die Therapie fortgesetzt, sollte spätestens nach 6 Monaten eine erneute Beurteilung der Behandlung erfolgen und eine Dosisreduktion oder ein Absetzen erwogen werden (13, 16).
Die bevorzugte galenische Form ist die orale Verabreichung, aber auch die Anwendung eines Pflasters ist manchmal möglich, insbesondere bei Schluckstörungen oder Problemen mit der Adhärenz. Eine osmotische oder reizlindernde Abführbehandlung sollte die Verschreibung systematisch begleiten (19).
Bei älteren Patienten mit Niereninsuffizienz sind die Analgetika der Wahl Buprenorphin und Hydromorphon und eventuell Fentanylpflaster, die bei eingeschränkter Nierenfunktion nicht akkumulieren (20). Es ist zu beachten, dass zur Abschätzung der Nierenfunktion bei älteren Patienten mit verminderter Muskelmasse die Cockroft-Formel unter Berücksichtigung des Gewichts verwendet werden sollte.
Liegt eine Leberschädigung vor, sind sofort glucuronidierte Opioide wie Morphin und Hydromorphon zu bevorzugen. Buprenorphin oder Fentanyl sind mögliche Alternativen (21, 22).
Aufgrund des hohen Risikos pharmakokinetischer Wechselwirkungen ist es sinnvoll, die Verschreibung von Codein und Oxycodon bei polymedizierten Patienten zu vermeiden und bei der Verschreibung anderer Cytochrom P450 (CYP)-Substrat-Opioide, wie Tramadol (CYP 2D6) oder Fentanyl (CYP 3A4/5), besonders auf das Auftreten von unerwünschten Wirkungen oder unzureichendes therapeutisches Ansprechen zu achten (23). Die Wirkung der letztgenannten Opioide kann bei Vorhandensein von Arzneimittelinteraktionen und/oder genetischem CYP-Polymorphismus verändert werden, was zum Risiko einer Überdosierung oder zu Unwirksamkeit führt.
In diesen Situationen ist Buprenorphin oder Morphin zu bevorzugen, da bei beiden einige dieser Wechselwirkungen entfallen, und das Risiko sollte abgewogen werden.
Ausserdem sollte die Polymedikation so weit wie möglich eingeschränkt werden, insbesondere sedierende Behandlungen, um das Sturzrisiko zu verringern.

Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Zweitabdruck, aktualisiert und übersetzt aus «la gazette médicale» 03_2020.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Myriam El Biali

Département de médecine aiguë, HUG
Rue Gabrielle Perret-Gentil 4
1211 Genève 14

Myriam.elbiali@hcuge.ch

Prof. Dr. med. Jules Desmeules

Département de médecine aiguë, HUG
Rue Gabrielle Perret-Gentil 4
1211 Genève 14

Dr. med. Marie Besson

Département de médecine aiguë, HUG
Rue Gabrielle Perret-Gentil 4
1211 Genève 14

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

◆ Wenn die Indikation gestellt ist, sollte die Einleitung einer oralen Opioid-Analgesie einem älteren Patienten in der niedrigsten wirksamen Dosis angeboten werden, mit dem Ziel, eine Schmerzreduktion von mindestens 30% und/oder eine signifikante Verbesserung der funktionellen Kapazität zu erreichen.
◆ Eine vorsichtige Dosiseinführung und Titration ist erforderlich, ebenso wie eine regelmässige Neubewertung der Wirksamkeit und Verträglichkeit.
◆ Bei ungenügendem Ansprechen innerhalb weniger Wochen muss die Behandlung abgebrochen werden.
◆ Es ist zwar wichtig, Schmerzen in der Geriatrie angemessen zu behandeln, aber es ist auch wichtig zu vermeiden, eine Behandlung fortzusetzen, die keinen ausreichenden analgetischen Nutzen bietet und deren potenzielle unerwünschte Wirkungen in einer vulnerablen älteren Bevölkerung besonders schädlich sein können.

1. Bundesamt für Statistik.
2. Ruchat D, Suter MR, Rodondi PY, Berna C. [Opioid consumption from 1985 to 2015 : The situation in Switzerland, with an international comparison]. Rev Med Suisse. 2018;14(612):1262-6. Consommation d’opioides entre 1985 et 2015 : chiffres suisses et mise en perspective internationale.
3. Lorenzini KI, Desmeules J. Frequency and causes of opioid-related visits in adult and geriatric emergency departements of a swiss university hospital. 2020.
4. Wertli MM, Reich O, Signorell A, Burgstaller JM, Steurer J, Held U. Changes over time in prescription practices of pain medications in Switzerland between 2006 and 2013: an analysis of insurance claims. BMC Health Serv Res. 2017;17(1):167.
5. Guido D, Leonardi M, Mellor-Marsa B, Moneta MV, Sanchez-Niubo A, Tyrovolas S, et al. Pain rates in general population for the period 1991-2015 and 10-years prediction: results from a multi-continent age-period-cohort analysis. The journal of headache and pain. 2020;21(1):52. Epub 2020/05/15.
6. Spitz A, Moore AA, Papaleontiou M, Granieri E, Turner BJ, Reid MC. Primary care providers’ perspective on prescribing opioids to older adults with chronic non-cancer pain: a qualitative study. BMC geriatrics. 2011;11:35. Epub 2011/07/15.
7. Bernabei R, Gambassi G, Lapane K, Landi F, Gatsonis C, Dunlop R, et al. Management of pain in elderly patients with cancer. SAGE Study Group. Systematic Assessment of Geriatric Drug Use via Epidemiology. JAMA. 1998;279(23):1877-82.
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9. Xing X, Sun K, Yan M. Delayed Initiation of Supplemental Pain Management is Associated with Postherpetic Neuralgia: A Retrospective Study. Pain Physician. 2020;23(1):65-72.
10. Wioletta MD, Sebastian D, Andrzej B. Perception of barriers to postoperative pain management in elderly patients in Polish hospitals – a multicentre study. J Nurs Manag. 2016;24(8):1049-59.
11. O’Brien MDC, Wand APF. A systematic review of the evidence for the efficacy of opioids for chronic non-cancer pain in community-dwelling older adults. Age Ageing. 2020.
12. American Geriatrics Society Panel on Pharmacological Management of Persistent Pain in Older P. Pharmacological management of persistent pain in older persons. J Am Geriatr Soc. 2009;57(8):1331-46.
13. Schuler M, Griessinger N. [Opioids for noncancer pain in the elderly]. Schmerz. 2015;29(4):380-401. Opioide bei Nichttumorschmerz im hoheren Lebensalter.
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15. Naples JG, Gellad WF, Hanlon JT. The Role of Opioid Analgesics in Geriatric Pain Management. Clin Geriatr Med. 2016;32(4):725-35.
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23. Interactions médicamenteuses, cytochromes p450 et P-glycoprotéine. disponible sous: https://www.hug-ge.ch/pharmacologie-toxicologie-cliniques.