- Proktologie in der Hausarztpraxis – ein oft verschwiegenes Leiden
In der Hausarztpraxis sehen sich viele Kolleginnen und Kollegen häufig mit proktologischen Problemen konfrontiert. Diese reichen vom häufigen Hämorrhoidalleiden bis hin zum seltenen Rektumprolaps oder zur Stuhlinkontinenz. In aller Regel können Hämorrhoidalleiden in den meisten Praxen problemlos erkannt und häufig auch sehr gut behandelt werden, ohne dass der Spezialist involviert werden muss. Ein symptomatischer Rektumprolaps ist häufig mit einem so grossen Leidensdruck und Pflegeaufwand verbunden, dass diese Patienten erfahrungsgemäss schnell den Weg zum Spezialisten finden. Anders ist dies bei einer langsam fortschreitenden Stuhlinkontinenz, welche aus Scham häufig verschwiegen wird und die Betroffenen zum Teil jahrelang eine zunehmende Isolation in Kauf nehmen, bis sie ihr Leiden jemandem anvertrauen. Meist ist die Klinik dann bereits sehr ausgeprägt und konservative Therapien sind nicht mehr erfolgversprechend. Wir empfehlen daher, alle Patienten regelmässig auf die Stuhlhaltefunktion und insbesondere eine progrediente Stuhlinkontinenz anzusprechen. Dies sollte fester Bestandteil des Fragekatalogs bei Routinekontrollen sein. Bei einer frühzeitigen Diagnostik und Behandlung kann meistens mit konservativen Massnahmen geholfen, die Situation stabilisiert und ein langer Leidensweg vermieden werden.
In general practice, many colleagues are often confronted with proctological problems ranging from frequent hemorrhoidal disease to the rare rectal prolapse or fecal incontinence. As a rule, hemorrhoidal disease can be easily recognized in most practices and often treated very well without need to involve the specialist. Symptomatic rectal prolapse is often associated with so much suffering and care requirements that these patients quickly find their way to the specialist. The situation is different with slowly progressing fecal incontinence, which is often concealed out of shame, and those affected sometimes put up with increasing isolation for years until they confide in someone about their condition. In most cases, the clinical symptoms are then already very pronounced and conservative therapies are no longer promising. We therefore recommend that all patients be regularly asked about their stool retention function, especially progressive fecal incontinence. This should be part of the list of questions in routine check-ups. With early diagnosis and treatment, it is usually possible to help with conservative measures, stabilize the situation and avoid a long period of suffering.
Key Words: Fecal incontinence, Proctology, Hemorrhoids
Proktologische Betreuung in der Hausarztpraxis
Wenn wir über Proktologie in der Hauarztpraxis reden, dann ist dies häufig mit dem Fokus auf ein symptomatisches Hämorrhoidalleiden. Viele Patienten werden sich auch mit einer schmerzhaften Fissur bei Ihnen vorstellen. Für diese «Volkskrankheiten» bietet die Industrie eine grosse Bandbreite an allerlei Salben und Medikamenten zur Behandlung an. Die meisten Hausärzte sind mit der Therapie des einfachen Hämorrhoidalleidens vertraut. Einem Grossteil der Patienten kann damit sehr gut geholfen werden und eine Vorstellung beim Spezialisten ist häufig gar nicht nötig.
Ein jedoch von den Patienten sehr häufig aus Scham verschwiegenes Problem ist die Stuhlinkontinenz. Während eine Harnhalteschwäche bzw. Harninkontinenz im Alter gesellschaftlich akzeptiert zu sein scheint und es am Vorabend kaum einen TV-Werbeblock gibt, der keine Produkte für die leichte bis mittelschwere Blasenschwäche anpreist, ist dies bei der Stuhlinkontinenz ganz anders. Dies mag daran liegen, dass man mit den heutigen Produkten wie z.B. extradünnen und saugfähigen Einlagen oder pflanzlichen Produkten zur Verbesserung der Situation beitragen und im Alltag eine Harnhalteschwäche problemlos über einen längeren Zeitraum gut unter Kontrolle halten kann, so dass äusserlich nichts davon bemerkt wird. Anders ist dies bei der Stuhlinkontinenz. Der Gedanke, im Hochsommer in einem vollen Bus unkontrolliert Stuhlgang zu verlieren, treibt viele Menschen mit der Zeit in die soziale Isolation. Der Bewegungsraum wird den öffentlich zugänglichen Toiletten angepasst und die Sorge, «geoutet» zu werden, steigt mit dem Grad der Verschlechterung der Situation.
Die Stuhlinkontinenz ist eine im Alter kontinuierlich zunehmende Erkrankung. Die Zahlen hierzu variieren jedoch recht stark. Man geht, je nach Literatur, von bis zu 20% oder noch mehr im hohen Alter aus. Dass eine Stuhlinkontinenz jedoch auch diagnostiziert und behandelt wird, ist bedauerlicherweise deutlich seltener der Fall (1).
Letztlich findet nur ein kleiner Teil der Patienten den Weg in die Spezialsprechstunde eines Beckenbodenzentrums. Dabei ist es heutzutage möglich, bei allen Patienten eine signifikante Verbesserung der Situation herbeizuführen.
Wir empfehlen daher, regelmässig und niederschwellig im Rahmen einer Routinebefragung bei jedem Patienten die Stuhlhaltefunktion zu thematisieren, insbesondere bei Frauen, die z.B. eine langjährig zurückliegende Hysterektomie mit ihren langzeitigen Wirkungen auf den Beckenboden und dessen Funktion hatten.
Häufig beginnt eine Stuhlhalteschwäche schleichend und kaum merklich mit der Unfähigkeit, Winde zu kontrollieren, gefolgt von Stuhlschmieren (Soiling). Die Situation verschlechtert sich im Laufe der Zeit zunehmend und das Gefühl der «Unreinheit» wird für die PatientInnen immer unerträglicher mit den genannten Folgen.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Stuhlhaltefunktion zu bestimmen. Am weitesten verbreitet ist der sogenannte «Wexner Score». Dieser ermöglicht es, über ein einfaches Punktesystem den Schweregrad einer Inkontinenz abschätzen zu können.
Ein Score von 0 Punkten bedeutet hierbei eine perfekte Kontinenz und 20 Punkte bedeuten eine völlige Inkontinenz. Der individuelle Leidensdruck ist jedoch, gerade bei wenig Punkten, nicht mit der Höhe der Punktzahl gleichzusetzen. Dies spiegelt sich häufig in der Einschränkung des Soziallebens wider und sollte insbesondere bei niedrigen Punktzahlen besondere Beachtung finden.
Wenn sich ein Patient der Hausärztin oder dem Hausarzt anvertraut hat, ist es wichtig, niederschwellig eine Abklärung beim Spezialisten zu initiieren. Die Ursache einer Stuhlhalteschwäche kann verschiedenste Ursachen haben. Die Diagnosen reichen von Beckenbodenschwächen, Schliessmuskeldefekten, neurologischen Erkrankungen bis hin zum Analkarzinom, aber auch Störungen des Mikrobioms mit chronischen Diarrhoen.
In einem spezialisierten Beckenbodenzentrum erfolgt nach Zuweisung eine umfängliche Abklärung.
Interdisziplinäre Abklärung im Beckenbodenzentrum
Hierzu zählen eine ausführliche Anamnese sowie eine klinische Untersuchung, gefolgt von Anoskopie, Endosonographie, Manometrie und gelegentlich einer Messung der Leitgeschwindigkeit des Pudendusnervs oder einer sogenannten MR-Defäkographie. Diese teilweise komplexen Abklärungen erfolgen heutzutage in enger Zusammenarbeit der Viszeralchirurgie, Gynäkologie, Gastroenterologie, Urologie sowie Radiologie und weiteren Spezialdisziplinen. Nach Ausschluss eines Tumorleidens als Ursache, kann den meisten Patienten nach der Klärung der Ursache sehr gut mit der Eindickung des Stuhlganges geholfen werden, da die meisten Patienten in einem frühen Stadium häufig noch eine gute Kontinenz für festen Stuhlgang aufweisen. Mit zunehmender Ausprägung der Inkontinenz kommen operative Verfahren zum Einsatz.
Eine operative Versorgung des Schliessmuskels mittels «Sphinkterrepair» wird heutzutage hauptsächlich in der akuten, teilweise auch in der subakuten Situation bei akuten geburtstraumatischen Verletzungen oder Pfählungsverletzungen durchgeführt. Hier konnten auch im Langzeitverlauf akzeptable und stabile Ergebnisse erzielt werden (2). Bei älteren Patienten mit Sphinkterdefekten spielen diese Verfahren heutzutage eine untergeordnete Rolle, da die Langzeitresultate nicht überzeugend sind (3). Ebenso komplexe Verfahren wie eine Sphinkterrekonstruktion mittels Transposition des Musculus gracilis kommen faktisch nicht mehr zum Einsatz und sind für absolute Spezialindikationen reserviert.
Künstliche Analsphinkter wie der «Artificial Bowel Sphincter» (4) und der «Magnetic Sphincter» (5) konnten die Erwartungen entweder nicht erfüllen oder waren mit einem hohen Komplikationsrisiko vergesellschaftet. Ein im ambulanten Sektor immer wieder propagiertes Verfahren ist die Sphinkteraugmentation. Hierbei werden Silikonpolster im Schliessmuskelbereich eingebracht. Diese Verfahren haben, bei einer niedrigen Komplikationsrate, aber eher einen ergänzenden Charakter bei leichten Formen der Inkontinenz wie Stuhlschmieren oder in Kombination mit einer SNM (sakralen Nervenmodulation). Das häufigste operative Verfahren ist die Sakrale Nervenmodulation. Dieses Verfahren ist aktuell das mit Abstand erfolgversprechendste zur Behandlung der Stuhlinkontinenz. Bei diesem Verfahren werden dem Patienten Elektroden an den Sakralnerv (meist S3) gelegt, welche über eine Stimulation des Nervs via Schrittmacher zu einer Verbesserung der Stuhlhaltefunktion führt. Auch in den Langzeitbeobachtungen zeigen sich nach mehr als 10 Jahren noch gute Ergebnisse nach Implantation mit signifikanter Verbesserung des Inkontinenzscores. (6) Hierbei stellt sich eine erfolgreiche Behandlung auch bei grösseren Sphinkterdefekten ein. Als Ultima Ratio steht natürlich immer die Anlage eines Stomas, eines künstlichen Darmausgangs, als Option offen. Dies stellt jedoch für viele Patienten primär keine Alternative dar. Unsere Beobachtungen zeigen jedoch, dass bei Patienten, deren Leidensdruck so hoch ist, dass sie einer solchen Massnahme zustimmen, sich im Anschluss hoch zufrieden mit dem Ergebnis zeigen. Hier hilft es häufig, wenn Patienten ein Informationsgespräch bei einer Stomaberatung bekommen und ihnen die Angst vor einem künstlichen Darmausgang genommen wird. Die meisten Patienten sind sich der technischen Möglichkeiten und des hygienischen Standards der heutigen Systeme nicht bewusst. In den wenigen Ausnahmefällen, in denen wir einen künstlichen Darmausgang als letzte Option gewählt haben, waren alle Patienten im Anschluss immer dankbar und fragten sich, warum sie den Eingriff nicht früher durchgeführt hatten. Nichtsdestotrotz sollte dieses Verfahren auch die Ausnahme für Spezialindikationen mit hohem Leidensdruck bleiben.
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Luzerner Kantonsspital, Beckenbodenzentrum
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Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
◆Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass es wichtig ist, den
Patienten die Scham zu nehmen und dass sie sich mit ihrem Problem jemandem anvertrauen.
◆ Eine zentrale Rolle kommt dabei dem Hausarzt/der Hausärztin zu, welche in der heutigen Zeit der Hyperspezialisierung ihre Patienten am besten kennen. Dies unterstreicht einmal mehr die Wichtigkeit des Hausarztberufes im Hinblick auf eine langjährige und ganzheitliche Begleitung und Betreuung der Patienten.
1. Dunivan GC, Heymen S, Palsson OS, von Korff M, Turner MJ, Melville JL, Whitehead WE. Fecal incontinence in primary care: prevalence, diagnosis, and health care utilization. Am J Obstet Gyne-col. 2010 May;202(5):493.e1-6. doi: 10.1016/j.ajog.2010.01.018. Epub 2010 Mar 12. PMID: 20223447; PMCID: PMC3855440.
2. Barbosa M, Glavind-Kristensen M, Moller Soerensen M, Christensen P. Secondary sphincter repair for anal incontinence following obstetric sphincter injury: functional outcome and quality of life at 18 years of follow-up. Colorectal Dis. 2020 Jan;22(1):71-79. doi: 10.1111/codi.14792. Epub 2019 Sep 3. PMID: 31347749.
3. Ivatury SJ, Wilson LR, Paquette IM. Surgical Treatment Alternatives to Sacral Neuromodulation for Fecal Incontinence: Injectables, Sphincter Repair, and Colostomy. Clin Colon Rectal Surg. 2021 Jan;34(1):40-48. doi: 10.1055/s-0040-1714285. Epub 2021 Jan 28. PMID: 33536848; PMCID: PMC7843951.
4. van der Wilt AA, Breukink SO, Sturkenboom R, Stassen LP, Baeten CG, Melenhorst J. The Artificial Bowel Sphincter in the Treatment of Fecal Incontinence, Long-term Complications. Dis Colon Rectum. 2020 Aug;63(8):1134-1141. doi: 10.1097/DCR.0000000000001683. PMID: 32692074.
5. Sugrue J, Lehur PA, Madoff RD, McNevin S, Buntzen S, Laurberg S, Mellgren A. Long-term Ex-perience of Magnetic Anal Sphincter Augmentation in Patients With Fecal Incontinence. Dis Colon Rectum. 2017 Jan;60(1):87-95. doi: 10.1097/DCR.0000000000000709. PMID: 27926562.
6. Desprez C, Damon H, Meurette G, Mege D, Faucheron JL, Brochard C, Lambrescak E, Gour-cerol G, Mion F, Wyart V, Sielezneff I, Siproudhis L, Etienney I, Ajamie N, Lehur PA, Duflot T, Bri-doux V, Leroi AM; Club NEMO. Ten-year Evaluation of a Large Retrospective Cohort Treated by Sacral Nerve Modulation for Fecal Incontinence: Results of a French Multicenter Study. Ann Surg. 2020 Jul 24. doi: 10.1097/SLA.0000000000004251. Epub ahead of print. PMID: 32740249.
7. Studer, P., Holzgang, M., Lechleiter, A., & Brügger, L. (2019, May). Stuhlinkontinenz, Teil 2. In Swiss Medical Forum (Vol. 19, No. 2122, pp. 349-353). EMH Media.
8. Studer, P., Holzgang, M., Lechleiter, A., & Brügger, L. (2019, May). Stuhlinkontinenz, Teil 1. In Swiss Medical Forum (Vol. 19, No. 1920, pp. 313-318). EMH Media.
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- Ausgabe 2
- Februar 2022