- RETO KRAPFs Medical Voice
Frisch ab Presse:
Plastikpartikel als Auslöser einer symptomatischen Atheromatose?
Weltweit ist die Produktion von Plastik weiterhin am Zunehmen, auch wenn man hofft, bis ins Jahr 2050 diesen Trend brechen zu können. Plastik wird in der Umwelt zu Mikro- und Nanoplastik-Partikeln (abgekürzt MNPs) degradiert, die dann via orale Einnahme, per Inhalation oder transkutan auch durch Menschen aufgenommen werden. In dieser Studie ging man der Frage nach, inwiefern diese MNPs eine Progressionsrolle in der Atheromatose haben. Die Studienpopulation umfasste 257 Patientinnen und Patienten mit asymptomatischer Carotisstenose, die einer Endarterektomie unterzogen wurden. Die mittlere Nachbeobachtungszeit betrug 34 Monate postoperativ. In den Carotisexzisaten wurden bei etwa der Hälfte der Patientinnen und Patienten histologisch und biochemisch MNPs und einer ihrer Metaboliten (Polyvinylchlorid) nachgewiesen. Der Verlauf dieser Individuen lässt aufhorchen: Sie hatten über eine Periode von weniger als 3 Jahren ein 4,5-fach erhöhtes Risiko eine symptomatische Manifestation einer kardiovaskulären Erkrankung, d.h. einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt zu erleiden oder an irgendeiner Ursache zu versterben, als die Individuen mit fehlendem Nachweis von MNPs! Die statistische Stringenz war mit einem p < 0.001 eindrücklich. Vorerst handelt es sich um eine Assoziation und keine Kausalität, aber es wird interessant sein, die pathogenen Mechanismen dieser MNPs genau anzuschauen. Sind sie ein weiterer kardiovaskulärer Risikofaktor, beschleunigen sie also die Atherombildung oder führen sie zu vermehrter Instabilität und damit erhöhter Rupturneigung vorbestehender Plaques?
NEJM 2024, DOI: 10.1056/NEJMoa2309822, verfasst am 12.03.2024
Umweltrückstände als endokrine Toxine, die sogenannte «endocrine disruptors»
Nochmals eine Geschichte zu neuzeitigen Umweltgiften: Vielleicht haben Sie gelesen, dass am Engadiner Skimarathon vom 10. März 2024 die Gewinnerin des Damenrennens wegen Nachweis von Fluor in der Form von Polyfluoralkyl Verbindungen auf dem Skibelag disqualifiziert wurde. Diese Substanzen fördern anscheinend die Gleiteigenschaften der Skis vor allem bei weichem, eher höher viskösem Schnee. Dies ist typischerweise beim schweren Neuschnee der Fall, wie er im Engadin an besagtem Wochenende reichlich gefallen ist (1). Eine eben erschienene umfassende Review fasst das gegenwärtige Wissen über die gesundheitsschädigenden Effekte von Polyfluoralkyl Verbindungen und anderer Folgemetaboliten fossiler Brennstoffe zusammen. Sie lässt verstehen, warum solche Substanzen auch verboten gehören. Endokrine Störungen sind als toxische Folgen prominent vertreten (2).
1. https://www.nzz.ch/sport/weitere-sportarten/engadin-skimarathon-siegerin-wegen-fluorwachs-disqualifiziert-ld.1821530, 2. NEJM 2024, DOI: 10.1056/NEJMra2300476, verfasst am 12.03.2024
Wird man eine Alzheimererkrankung in frühen, asymptomatischen Stadien diagnostizieren können?
Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass typische Amyloidkonstellationen (Amyloid Beta42 zu Amyloid Beta 40 Quotient u.a.m.) in der Rückenmarkflüssigkeit und charakteristische Positronenemissionstomographie (PET) Befunde bei der Alzheimererkrankung schon viele Jahre vor dem Auftreten einer kognitiven Einschränkung nachweisbar sind. Dies gilt sowohl für genetisch bedingte als auch sporadische Alzheimerformen. Eine bemerkenswerte Studie in einer kognitiv normalen Han-chinesischen Population hat diese bis zu 20 Jahre systematisch regelmässig nachuntersucht. 648 Patientinnen und Patienten in dieser Population entwickelten eine Alzheimererkrankung und wurden mit 648 Studienteilnehmenden, die kognitiv normal geblieben waren, verglichen. Alle 2-3 Jahre waren die Studienteilnehmenden in beiden Gruppen kognitiv, bildgebend und mit einer Liquoruntersuchung kontrolliert worden. Die charakteristischen Tau- und Amyloidproteine im Liquor begannen sich schon mindestens 15 Jahre vor der Alzheimerdiagnose und dann progredient zu verändern. Das MRI-mässig gemessene Volumen des Hippocampus begann 10 Jahre vor der Diagnose abzufallen. Das sind sehr interessante Befunde, die die Möglichkeit einer Früherkennung ergeben, die wichtig für die Lebensplanung, aber auch belastend sein kann. Ebenfalls wären die Befunde Basis einer Frühintervention, sofern entsprechend wirksame Methoden oder Medikamente verfügbar werden. Spekulieren lässt sich darüber, inwiefern westliche Ethikkommissionen repetitive Liquorpunktionen zugelassen hätten. Wirklich interessant wird diese Studie, falls die nun verfügbaren hochsensitiven Blutanalysen von neurodegenerativen Biomarkern die gleiche prognostische Aussagekraft aufweisen werden.
NEJM 2024, DOI: 10.1056/NEJMoa2310168, verfasst am 12.03.2024
Kosten, Nutzen und Gewinne bei onkologischen Medikamenten
Diese Analyse der von der Europäischen Zulassungsbehörde (European Medicines Agency, EMA) zwischen 1995 und 2020 zugelassenen onkologischen Medikamente könnte zu gesundheitspolitischen Emotionen führen.
Das globale, aber schwergewichtig westliche Marktvolumen dieser Medikamente betrug 2020 167 Milliarden Dollar, mit einem prognostizierten Anstieg bis 2025 auf 269 Milliarden Dollar. Dies bei weiterhin geographischen Unterversorgungen, aber einer klaren Tendenz, dass immer mehr und auch ältere Patientinnen und Patienten behandelt werden können. Die Tendenz, dass neuere Medikamente häufig (viel) teurer sind als etablierte, ist ebenso ein wichtiger Teilfaktor. Bezüglich Zusatznutzen macht die Studie eindrücklich klar, dass vor allem Medikamente, die in einem abgekürzten Verfahren (also nicht in einem ordentlichen Verfahren) zugelassen wurden, signifikant weniger bis auch keinen Nutzen für die Patienten aufweisen. Dies, weil die Abkürzungen naturgemäss bedeuten, dass die Evidenzbasis eingeschränkt ist. Die Zulassung erfolgt dann auf Grund hoch geschraubter Erwartungen und wohl auch auf Druck von Interessensgruppen. Interessant ist auch, wie schnell der Verkauf dieser Medikamente die Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen amortisiert. Die medianen Entwicklungskosten pro Medikament betrugen geschätzt knapp 700 Millionen Dollar. Nach medianen nur 3 Jahren überstiegen die Einnahmen bereits die Entwicklungskosten. 8 Jahre nach der Markteinführung lagen die kumulativen Einnahmen (median) pro Medikament bei knapp 4 Milliarden, überstiegen also die Entwicklungskosten bereits um deutlich mehr als das 5-fache. Nachdenklich macht, dass sich die beschleunigte Zulassung mit überdurchschnittlich vielen Medikamenten ohne echten Zusatznutzen für die Patientinnen und Patienten (gemäss Evidenz nach der Zulassung) trotzdem und durchaus als lohnende Investition zeigt. Man kann folgern, dass abgekürzte oder an Bedingungen geknüpfte Zulassungen unter strengen Bedingungen Sinn machen können, dass aber in der untersuchten Periode viele enttäuschte Erwartungen geschürt und unnötige Nebenwirkungen und Kosten induziert wurden.
BMJ 2024, doi.org/10.1136/bmj-2023-077391, verfasst am 08.03.2024
Grenzgebiete der Medizin
Gefährliches Halbwissen
In der Medizin selber, aber auch in den gesellschaftlichen und politischen Diskussionen geht es primär darum, seine eigenen Grenzen zu sehen und sich so dem Rat Erfahrener, respektive sich anderen Meinungen und Ansichten zu öffnen. Wie verhalten sich Wissen und Selbstbewusstsein zueinander? Man möchte annehmen, dass eine lineare Beziehung bestünde, d.h. je höher der Wissensstand, desto stärker wird das Selbstbewusstsein, etwas zu wissen oder gar zu verstehen. Vielleicht stimmt dies, aber nicht bei der Mehrheit der Bevölkerung. Durch Verwendung von mehr als 90’000 Fragekatalogen zu wissenschaftlichen Themen in Europa und den USA wurde versucht, das Selbstbewusstsein über das eigene Wissen und die eigenen Fähigkeiten zu parametrisieren. Dabei wurde namentlich die Differenz zwischen falschen Antworten und Antworten wie «Ich weiss es nicht» als Mass für ein hohes oder zu hohes Selbstbewusstsein genommen. Dabei wurde evident, dass keine Linearität zwischen Wissensstand und Selbstbewusstsein nachweisbar war. Der Grund ist, dass bei der Mehrheit der getesteten Personen bei zunehmendem Wissen das Selbstbewusstsein (oder die Überzeugung «es zu wissen») überproportional zunimmt, die Individuen sich also unkritischer geben und sich in falscher Sicherheit fühlen. Die Studie wurde grossenteils noch vor dem auf Smartphones jederzeit abrufbaren Internet durchgeführt. Wir befürchten, dass die schnelle, meist aber oberflächliche Internetabfrage, diese Diskrepanz noch akzentuiert hat.
Nature Human Behaviour 2023, doi.org/10.1038/s41562-023-01677-8, verfasst am 12.03.2024
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