- Saumpfad durch Täler, Dörfer und Schluchten
Das Centovalli war vor dem Bau der Fahrstrasse durch zwei Talwege erschlossen, die jeweils die Dörfer auf der Nord- und Südseite des Tales miteinander verbanden. Diese durch Trockensteinmauern, Pflästerung und Brücken befestigten Pfade dienten aber auch als wichtige lokale Handelswege, um den bescheidenen Überschuss an Landwirtschafts- und Handwerksprodukten, die für die Selbstversorgung nicht benötigt wurden, auf die Märkte in der Umgebung, insbesondere nach Locarno zu tragen und die mit dem geringen Entgelt erstandene Ware ins Tal zurückzubringen, die selbst nicht hergestellt werden konnte. Beide Wege können heute noch begangen werden. Auf dieser Wanderung wenden wir uns dem Pfad nördlich der Melezza zu, der die Dörfer auf der Sonnenseite des Centovalli miteinander verbindet.
Mit der Bahn fahren wir von Intragna nach Camedo, dem Grenzdorf zu Italien und Ausgangspunkt unserer Höhenwanderung. Vom Bahnhof steigen wir über die Fahrstrasse zum Dorf auf, das wir durch die Gasse gleich jenseits der Strasse bergwärts queren. Sie führt uns zur Mauer des Schulhausplatzes hinauf, die wir nach links umgehen, um so zur Strasse nach Borgnone zu gelangen. Der Beginn des alten Saumpfades ist kurz vor der Kirche noch zu finden, endet aber nach wenigen Metern im Wald im Brombeergesträuch und anderen Unannehmlichkeiten. Deshalb folgt man besser der Fahrstrasse, die wir kurz vor Borgnone bergwärts auf der Trasse des ehemaligen Saumpfades verlassen können. Nach dem Dorf bleiben wir nochmals ein kleines Stück auf der Fahrstrasse bis zur Capèla di Féman, wo heute der gut unterhaltene Saumpfad beginnt. Im weiteren Verlauf des Weges werden wir noch mehrmals auf Kapellen stossen, die im Sopraceneri häufig an gefährlichen Wegpassagen zum geistigen Schutz der Vorbeiziehenden errichtet worden sind. Gerade hier waren die grösseren überdachten Kapellen aber auch zur Darstellung des Reichtums der Spender gedacht, die sich mit ihrem Familienwappen im Gewölbe des Vordaches verewigten.
Schon nach kurzer Zeit stossen wir beim Riale di Mulitt zwischen Borgnone und Lionza auf die Ruinen mehrerer Mühlen. Es ist anzunehmen, dass die Wasserkraft hier wie auch andernorts (z.B. in St. Luc, Val d’Anniviers, Wallis) in mehreren Gebäuden gleich für mehrere Funktionen genutzt worden ist. Eine Hammerschmiede ist nachgewiesen. Gleich daneben findet sich ein ehemaliger Köhlerplatz, wo die für die Metallverarbeitung notwendige Holzkohle hergestellt wurde. Da auch ein Brunnen mit Waschtrog erhalten ist, bestand möglicherweise auch eine Walkmühle.
Der Saumpfad führt unterhalb von Lionza durch. Es lohnt sich aber bei der von der Familie Tondü gestifteten Kapelle den kurzen Aufstieg in Kauf zu nehmen, um auch dieses schmucke Dorf mit dem Palazzo dieser Familie zu erkunden. Die Tondü haben sich von armen Spazzocamini (Kaminfegern), die als Kinder in die oberitalienischen Städte verdingt worden sind, zum Landadel hochgearbeitet, eine Karriereleiter, die selten genug möglich war.
Der Weiterweg führt uns an den Weilern Gaggio und Piazz in die engen Gassen von Verdasio (Abb. 1). Am Dorfeingang steht eine Wegkapelle, die für einmal nicht der vor allem im Centovalli und im benachbarten Val Vigezzo verehrten Madonna di Re, sondern einer ungarischen Madonna geweiht ist, die nicht aus der Stirn, sondern aus den Augen geblutet haben soll. Zur Madonna di Re, die uns ebenfalls auf diesem Weg mehrmals begegnet, wird erzählt, dass ihr Bildnis zu bluten begann, nachdem ein ob des verlorenen Spiels wütender Bocciaspieler ihr die Holzkugel an die Stirn geworfen hatte (Abb. 2).
Nach Verdasio benutzen wir ein kurzes Stück den Saumpfad zum Monte die Comino, bevor der Talweg Richtung Slögna abzweigt, der stellenweise kunstvoll in die steilen und von Felsbändern durchzogenen Hänge gebaut ist (Abb. 3). Unschwer sind auf dem ganzen Weg ursprüngliche und neue Wegbefestigungen voneinander zu unterscheiden, indem die frühere Pflästerung höhere Stufen der schweren Lasten und der nackten oder nur mit Stoffschuhen geschützten Füsse wegen vermied. Auf diese Weise ist insbesondere abwärts durchwegs ein Gang mit kleinen Schritten ermöglicht worden, wie ich ihn in meinem Heimattal noch von Maria Gagetta gekannt habe. Sie ging zwar nicht mehr barfuss oder in Stoffschuhen, dafür aber jahrein, jahraus in Gummistiefeln bis zu den hoch gelegenen Alpweiden hinauf und wieder hinunter.
Im Abstieg von Costa nach Pila und weiter nach Intragna fährt die Pflästerung den mit schweren Wander- oder Bergschuhen Bewehrten nochmals kräftig in die Gelenke (Abb. 4). Grund genug, den Gang der Alten einmal auszuprobieren. Wem es gelingt, die kleinen Unebenheiten der Pflästerung wie Treppenstufen zu nutzen, der wird feststellen, dass er nicht nur schneller wird, sondern auch weniger rasch ermüdet. Eine schwere Last von 20 oder mehr Kilogramm denken wir uns bei dieser Übung lieber.
In der Schlucht zwischen Costa und Pila ist früher ebenfalls eine Mühle in Betrieb gewesen, wie auch hier der Name des Baches, Riale di Mulitt unschwer vermuten lässt. In Intragna ragt der höchste Campanile des Tessins weit über die Dächer des Dorfes hinaus. Wer noch nicht müde ist, kann diesen noch besteigen oder geruhsam das Talmuseum besuchen.
Aufgepasst
In dieser Rubrik werden Berg- und Schneeschuhwanderungen vorgestellt, die in der Regel wenig bekannt sind, zu aussergewöhnlichen Orten führen und die Genugtuung einer besonderen persönlichen Leistung bieten, sei es, dass man sich am Abend nach der Arbeit noch zu einer kleinen körperlichen Anstrengung überwindet, bzw. sich in ein oder zwei Tagen abseits breit getretener Wege unvergessliche Naturerlebnisse erschliesst. Zur besseren Beurteilbarkeit des Schwierigkeitsgrades der Tourenvorschläge wird jeweils eine Einschätzung anhand der SAC-Skala für Berg- (T1 bis T6) und für Schneeschuhwanderungen (WT1 bis WT6) gegeben. Die schwierigste Wegstelle, unabhängig von ihrer Länge, bestimmt jeweils die Gesamtbewertung der Route. Letztendlich bleibt aber jeder selbst für die Beurteilung seiner Fähigkeiten und Eignung für die vorgestellte Wanderung verantwortlich. Die Gehzeiten sind Richtwerte und gelten für normal trainierte Wanderer. Sie müssen nicht zwingend mit den Angaben auf Wegweisern übereinstimmen.
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