Wissen Aktuell - Kongress

SGAIM-Frühjahrskongress 2024

Schlaf und Gesundheit des Gehirns

Die diesjährige Jahrestagung der Schweiz. Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizinstand stand unter dem Motto Kreative Medizin, Erneuern und Weitergeben. Der folgende Beitrag gibt einen Einblick in das Thema Schlaf und Hirngesundheit



Schlaf als aktiver Prozess zur Regeneration des Hirns

Wozu schlafen wir?
Dies die Eingangsfrage von Prof. Dr. med. Dr. h.c. Claudio Bassetti, Dekan der med. Fakultät der Universität Bern.

Die Antworten dazu waren
– Zelle: um den zellulären Stress zu reduzieren bzw. Energie zu sparen
– Körper: Wachstum/Reparatur, Infektabwehr/Immunantwort, kardiovaskuläre Gesundheit (Parasympathikus)
– Gehirn: um toxische Substanzen aus dem Gehirn zu entfernen, um Gedächtnis und Lernen zu konsolidieren.

Der Schlaf-/Wachzyklus ist ein aktiver Prozess des Gehirns. Es gibt verschiedene neuronale Netzwerke/Neurotransmitter. Der Schlaf wird homöostatisch («Batterie», «sleep drive») und zirkadian («innere Uhr», «wake drive») durch den suprachiasmatischen Nucleus (Melatonin) reguliert. Fünfundzwanzig Prozent der Bevölkerung schlafen weniger als empfohlen. Zwanzig bis dreissig Prozent der Bevölkerung leiden unter einer Schlafstörung (Insomnien, Hypersomnien, Parasomnien, Schlaf-Apnoe, RLS-Syndrom). Dies hat hohe Gesundheitsfolgen. Die Lebensqualität ist beeinträchtigt, die Lebenserwartung verkürzt, Leistungsfähigkeit und Resilienz sind reduziert. Es entstehen dadurch hohe Kosten (1–3 % des Bruttosozialprodukts).

Die Schlafcharakteristika über die gesamte Lebensspanne von 1.1 Mio. Personen aus den Niederlanden, Grossbritannien und den USA wurden in einem systematischen Review und Meta-Analyse von Kocevska beschrieben (Kocevska D et al. Nature Human Behaviour 2021; 5: 113–122). Schlaflosigkeitssymptome traten am häufigsten bei Menschen auf, die ≥ 9 Stunden im Bett verbrachten, während eine schlechte Schlafqualität häufiger bei Personen auftrat, die weniger als 6 Stunden im Bett verbrachten. Die TST (Total Sleep Time) war in allen Ländern ähnlich, aber die Schlaflosigkeitssymptome waren in den Vereinigten Staaten 1.5 bis 2.9mal höher. Frauen (≥41 Jahre) gaben an, kürzer oder etwas weniger effizient zu schlafen als Männer, während sie mit Aktigraphie schätzungsweise länger und effizienter schliefen als Männer.

Schlaf, Gesundheit und Schlafstörungen

Guter Schlaf

– Gehirn: metabolische Clearance, Entscheidungsfindung, Stimmungsregulierung
– Immunsystem: Bildung des immunologischen Gedächtnisses, inflammatorische Homöostase, Immunsystem-Überwachung (Tumorwachstum)
– Metabolismus: Wiederherstellung der Insulinsensitivität, Normalisierung der Grelin- und Leptin-Sekretion, Wiederherstellung des Gleichgewichts der Lipid- und Lipoproteinkonzentrationen, Wachstumshormonsekretion
– Kardiovaskuläres System: Normalisierung des Blutdrucks, arterielle Regenerierung durch Blutdruck-Dipping, Regenerierung des Herzmuskels

Schlechter Schlaf

– Gehirn: Depression, Alzheimer, Parkinson-Krankheit, Demenz, Schlaganfall
– Krebs: Brustkrebs, Kolorektaler Krebs, Prostatakrebs
– Metabolische Krankheiten: Hypertonie, Dyslipidämie, Übergewicht, Type2 Diabetes

Insomnien Klinik

– 10–20 % der Bevölkerung
– Nacht: Ein- Durchschafstörung, frühes Erwachen
– Tag: Nicht erholsamer Schlaf, Tagesmüdigkeit, kognitive, psychische Symptome
– DD: Misperzeption, Kurzschläfer
– Aetiologie: primär/idiopathisch vs. sekundär/Komorbidität
– Angststörung, Depression
– Restless Legs Syndrom
– Schlafapnoe
– Psychophysiologisch
– Andere (u.a. Medikamente, Noxen)

Insomnie Berner Studie (83 GPs)

Insomnien, Bedeutung

– Reduzierte Lebensqualität und Leistung
– Erhöhtes Risiko für Depression, Demenz, Schlaganfall und Unfälle
– Höhere Gesundheitskosten, reduzierte Produktivität

Diagnostik der Insomnie:
Anamnese, Status, Questionnaire (Insomnia Severity Index (BDI). Labor: Ferritin, Hämoglobin, TSH, Leberwerte, evtl. Aktigraphie, evtl. Pulsoximetrie, nur in selektionierten Fällen Video-Polysomnographie.
Aetiologie: Schlafhygiene, kausale Therapie (RLS, Schlafapnoe, Depression…), kognitive Verhaltenstherapie (CBT).

Pharmakotherapie der idiopathischen Insomnie
– Benzodiazepine, BDZ-Analoga (max. 4 Wochen), z. B. Zolpidem 5–10 mg, CR 6.25–12.5 mg, Triazolam 0.125–0.25 mg
– Sedierende Antidepressiva (max. 4 Wochen), z. B. Mirtazepin 7.5–30 mg, Trazodon 12.5–50 mg, Circadin retard 2 mg (> 55 j, bis 3 Monate)
– Dualer Orexin-Rezeptor-Antagonist (DORA), z. B. Daridorexant 25–50 mg (bis 12 Monate, zugelassen seit 6/2023)
– Nicht empfohlen sind Antihistaminika, Neuroleptika und Psychotherapie.

Probleme bei chronischem Hypnotika-Gebrauch
Toleranz, Abhängigkeit, Rebound, Hangover, Akkumulation (z. B. Flunitrazepam, Diazepam), Gedächtnisprobleme, Muskelrelaxation (Stürze), Atemsuppression (Schlafapnoe), Maskierung von Symptomen (z. B. Depression, RLS), Deprescribing, wie?

Therapie des Restless Legs Syndrom
Beratung (u. a. Alkohol, Kaffee, Nikotin, anti-Dopaminergika, Augmentation)
Eisensubstitution
Intermittierendes RLS. Carbidopa, Levodopa, (Start 5/100 mg)
Chronisches RLS: Gabapentin (Start 100–300 mg), Pramipexol (Start 0.125 mg), Rotigotine-Pflaster (Start 1 mg)
Resistentes RLS: Oxycodon (Start 5 mg), Tramadon (Start 50 mg).

Hypersomnien, Klinik
2–5 % der Bevölkerung, Tagesschläfrigkeit, «Schlafattacken» Schlafdauer pro 24h erhöhte (Hypersomnie), kognitive Symptome, Unfälle (20–30 % aller Unfälle).
DD: Müdigkeit/Fatigue, Apathie/Depression, Langschläfer.
Aetiologie: Schlafmanko, Schlafapnoe, Narkolepsie, andere (u.a. Medikamente).
Schläfrigkeit bei obstruktiver Schlafapnoe: Habituelles Schnarchen, Atempausen.

Hypersomnien, Bedeutung
Reduzierte Lebensqualität und Leistung (Kognition), erhöhtes Risiko für Unfälle, Demenz, Schlaganfall, kardiovaskuläre Erkrankungen, höhere Gesundheitskosten, reduzierte Produktivität.

Hypersomnien: Diagnostik und Therapie
Diagnostik: Anamnese, Status, Questionnaire (Epworth Sleepiness Score) Labor: TSH, Leber-, Nierenwerte, BSG/CRP, Aktigraphie, Videopolysomnographie, Vigilanz-Tests.
Therapie: Schlafhygiene, -extension, kausale Therapie (Schlafapnoe), pharmakologisch.
Parasomnien, Klinik
5–15 % der Bevölkerung
Komplex: Schlafwandeln, REM-Schlafverhaltensstörung
Nicht komplex: Schlafparalyse, Halluzinationen, andere
DD: Schlaf-assoziierte Epilepsie
Aetiologien: Hereditär, Neurodegenration (M. Parkinson)

Bedeutung der Parasomnien:
Eigen-/Fremdverletzung (Forensik). DD nächtliche (hypermotorische Epilepsie), Erstmanifestation einer zugrunde liegenden Hirnerkrankung (Parkinson, Demenz).

Diagnostik und Therapie:
Anamnese/Status, Videographie (evtl. Handy), Videoploysomnographie mit 10–20 EEG- Montage.
Therapie Schlafhygiene, Beratung (u.a. Alkohol, Medikamente, OSA, Sicherung), kausale Therapie (nächtliche Epilepsie). Clonazepam 0.5–2 mg, Melatonin 2–5 mg (RBD).

Grundlagen, Diagnose/Therapie Ausblick

Schlafgesundheit/Sleep Health: Dauer, Effizienz, Aufmerksamkeit/Schläfrigkeit, Atmen, ungeordneter Schlaf, Zufriedenheit, Timing, Regelmässigkeit.

Der Referent verwies abschliessend auf Neurotec, eine neu gegründete Forschungs- und Entwicklungsplattform, die am Schweiz. Institut für Translationale und Unternehmerische Medizin (SITEM) angesiedelt ist und von der Klinik für Neurologie des Inselspitals in enger Zusammenarbeit mit dem ARTORG Center for Biomedical Engineering Research betrieben wird. Bei Neurotec bemüht sich ein interdisziplinäres Team von Ärzten, Ingenieuren und Datenwissenschaftlern, diese Informationslücken zu schliessen. Neue Geräte und Methoden werden erprobt, die es erlauben, digitale Biomarker im täglichen Leben der Patienten ausserhalb des Krankenhauses zu erfassen. Ziel ist es, den individuellen Krankenverlauf eines Patienten zu überwachen und damit personalisierte Diagnostik und Therapien in einem noch nie dagewesenen Umfang zu ermöglichen.

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

der informierte @rzt

  • Vol. 14
  • Ausgabe 9
  • September 2024