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Sexualität im Alter – Zeit in der Praxis ein Tabu zu brechen

Sexualität ist bis ins hohe Alter ein wichtiger positiver Faktor der Lebensqualität. Auch ältere Menschen praktizieren regelmässig Sex und sind mehrheitlich mit ihrem Sexualleben zufrieden. Biologische Veränderungen, bestehende Komorbiditäten, funktionelle Einschränkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten sind Faktoren, welche die sexuelle Zufriedenheit negativ beeinflussen. Optimierung dieser Faktoren, wie funktionelle Einbussen oder die Reduktion der Medikamente, sind einfache Massnahmen. Der Wechsel von einer autonomen in eine betreute Wohnform kann das sexuelle Erleben dramatisch verändern. Mit der Enttabuisierung der Sexualität, der kompetenten Beratung und der Offenheit der Institutionen gegenüber den sexuellen Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner kann die Lebensqualität in solchen Wohnformen signifikant gesteigert werden.



Sexuality is an important contributor to quality of life even in advanced age. Older persons are regularly engaged in sexual activities and report a high level of satisfaction. Age associated biological changes, functional decline, comorbidities and medication side effects are common factors with negative impact upon sex life. Optimizing such factors and a thorough medication review are simple measures in daily practice.
Moving into a logterm care facility has the risk of a significant influence on sexual life in older persons. Thus, an open minded approach respecting privacy and sexual desire of older persons in such institution may improve quality of life.
Key Words: sexuality, older persons, geriatric patients

Die «reguläre» Konsultation in der Praxis ist häufig auf somatische Themen fokussiert. Dabei werden gewisse Tabuthemen gerne ausgeblendet. Selbst bei jüngeren Patientinnen und Patienten fällt es schwer, das Thema Sexualität anzusprechen. Wer fragt schon gern freiwillig nach dem Sexleben anderer Menschen, und dies erst noch bei alten Menschen? Kann und darf man das Thema «Sexualität im Alter» in der Konsultation ansprechen? Wir meinen «ja» und geben im folgenden Artikel einen knappen Überblick über neuere Arbeiten zu diesem oft tabuisierten Thema.

Was bedeutet Sexualität im Kontext des Gesund Alt Werdens?

Gesundes Altern wurde im Jahre 2015 im WHO World Report on Ageing and Health (1) in einem ausführlichen Dokument definiert. Hierunter wird ein Prozess beschrieben, der trotz eventuell vorliegender chronischer Erkrankungen dazu führt, funktionelle Fähigkeiten zu entwickeln oder zu erhalten, die mit Wohlbefinden einhergehen. Dem Thema Sexualität im Alter ist in diesem über 200 Seiten starken Werk eine Seite gewidmet, die sich primär über die geringe Datenlage beschwert, jedoch klar formuliert, dass die Sexualfunktion ein wichtiges Kriterium der Lebensqualität im Alter darstellt. Im gleichen Bericht werden Daten präsentiert, die zeigen, dass bis zum Alter von 64 Jahren fast dreiviertel der Menschen noch mindestens einmal pro Woche Verkehr haben und die Hälfte der 65-74-Jährigen ebenfalls noch sexuell aktiv sind. Sogar ein Viertel der 75-85-jährigen Menschen haben mindestens 1x/Woche (penetrierenden) Sex miteinander (1). Eine neuere Untersuchung beschreibt sogar Frequenzen um 70 % bei Personen, die 75 Jahre und älter sind (2). Sexualität im Alter bedeutet aber wie bei jungen Menschen mehr als Geschlechtsverkehr. Dazu gehört der Austausch von Zärtlichkeiten, wie Umarmungen, sich küssen, sich berühren, Petting oder auch Selbstbefriedigung. Jede Person hat eine individuelle Vorstellung und somit Definition von Sexualität. Darum ist es auch wichtig, zu erfragen, was sie darunter versteht, falls das Thema zur Sprache kommt.

In der Gesellschaft wird das Sexleben älterer Menschen oft nicht verstanden, obwohl diese selbst der Ansicht sind, dass Sex Bestandteil ihrer persönlichen Lebensqualität ist. In einer neueren Analyse zum Thema Sex im Alter konnte die Forschungsgruppe insgesamt 5 wichtige Themenkreise identifizieren, die für die Betreuung und Beratung älterer Menschen von Belang sind (Tab. 1) (3).

Dass Menschen in der Schweiz heute früher Sex haben, als vor 60 Jahren, wurde im Jahr 2009 von der Eidgenössischen Kommission für Kinder-und Jugendfragen publiziert. Während im Jahr 1972 rund 20% Männer und 30% Frauen mit 17 Jahren schon Sex hatten, stieg die Zahl im Befragungsjahr 2007 auf 56% beziehungsweise 66%. Unseres Wissens gibt es aber keine Umfragen zur Frage, ob auch die sexuelle Aktivität im Alter angestiegen ist. Ein Trend in diese Richtung ist aber denkbar. Ein entscheidendes Kriterium ist der Beziehungsstatus (allein oder mit Partnerin/Partner). Eine Umfrage aus dem Jahr 2017 untersuchte die Frequenz von sexueller Aktivität und Zärtlichkeiten in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht und Beziehungsstatus (2). Personen in Beziehungen waren geschlechtsunabhängig in über 80% sexuell aktiv, während die Frequenzen auf rund 5% bei Frauen und 18 % bei Männern san-ken, wenn sie keine Partnerin/Partner hatten. Zunehmendes Alter korreliert zudem positiv mit sexueller Dysfunktion und negativ mit sexuellem Verlangen (4). Sexualität ist auch im Alter nicht auf das Körperliche reduziert. Weitere, mindestens genauso wichtige Faktoren, sind die eigene Haltung und bisherige Erfahrungen zu Sex, deren subjektiv erlebte Bedeutung für die Beziehungsqualität sowie kulturelle Determinanten (5). Vielfach wird Sexualität älterer Personen als Intimität verstanden, die von beiden Geschlechtern gleich gelebt wird. Hingegen gaben ältere Männer häufiger sexuelle Gedanken und sexuelle Aktivität an als Frauen. 27% der Personen zwischen 60-82 Jahren äusserten häufiger sexuelle Gedanken, als der Durchschnitt einer Vergleichspopulation von 22-36-Jährigen (6). Dies zeigt, dass das Thema für den Praxisalltag durchaus relevant ist.

Was beeinflusst unser Sexualleben im Alter?

Das grösste «Sexualorgan» ist das zentrale Nervensystem. Impulse aus verschiedenen Hirnarealen, Hirnnerven und dem Hirnstamm regeln und steuern Libido, Erregung und nicht zuletzt diejenigen physiologischen Vorgänge, die letztendlich zum Orgasmus und der damit verbundenen Befriedigung führen (7). Bei beiden Geschlechtern sind mehr oder weniger ähnliche Areale involviert. Einzig der sexuell dimorphe Kern im Thalamus steuert die Sexualität bei Frauen und Männern unterschiedlich (8). Dabei spielen eine Vielzahl von Neurotransmittern eine Rolle; Dopamin und Serotonin als Mediatoren der sexuellen Zufriedenheit scheinen besonders wichtig zu sein (7). Aber auch andere Formen der Sexualität, wie schmusen, streicheln oder sich umarmen werden bis ins hohe Alter als Bestandteil einer guten Lebensqualität geschätzt. Sie werden mit zunehmendem Alter wichtiger als die Koitus-assoziierte Sexualität. Gleichzeitig verändern sich die Sexualorgane von Frau und Mann.

Bei der Frau werden viele Veränderungen im Rahmen der Menopause getriggert. Häufig leiden postmenopausale Frauen unter einer Abnahme der vaginalen Sekretproduktion, was zu einer schmerzhaften Penetration führen kann. Der Introitus verengt sich, die Vaginalwand wird dicker und verkürzt sich. Frauen erleben zudem eine Abnahme der sexuellen Erregbarkeit (Arousal). Die altersbedingte Abnahme der endogenen Testosteronproduktion bei Männern verläuft im Vergleich zur Menopause wesentlich langsamer, ist aber auch mit Veränderungen der Sexualität verbunden. Neben der Abnahme des Arousal und der Menge des Prostatasekrets steht die erektile Dysfunktion mit ihren Effekten auf die Tumeszenz, Schwellköperentleerung und die verzögerte Wiedererregbarkeit im Vordergrund.

Komorbiditäten und Medikamente

Bestehende Komorbiditäten wirken sich negativ auf die vorher genannten physiologischen Veränderungen aus. Die Palette reicht von Arthrosen über Polyneuropathien, chronische Schmerzen bis hin zu psychischen oder kognitiven Störungen (Depression, Demenz). Hinzu kommen die Effekte von Genuss- und Suchtmitteln wie Alkohol, Nikotin und anderen Drogen. Eine Vielzahl von Pharmaka mit Wirkung auf das ZNS (inklusive Rückenmark) beeinflussen aufgrund ihrer Effekte die beiden Neurotransmitter Dopamin und Serotonin. Darum sollte bei entsprechenden Beschwerden stets die Indikation für diese Substanzen kritisch überprüft werden. Bereits eine Reduktion der Dosis kann zu einer Verbesserung der Symptomatik führen (Tab. 2).

Sexualität in der Grundversorgung, ein Tabu?

In der Praxis scheint das Thema Sex tabuisiert. Nur gut 20% der Frauen und knapp 40% der Männer im Alter über 50 Jahren sprechen darüber. Je älter die Person ist, desto häufiger schweigen «beide Seiten». Insbesondere Frauen scheinen hier benachteiligt. Eine grössere Umfrage aus dem UK zeigte, dass nur bei 68% der Frauen über 65 Jahre über Sexualität im Alter gesprochen wurde, obwohl 97% der Befragten gerne darüber gesprochen hätten und ein Grossteil (80%) sogar bereit gewesen wären, einen zweiten Termin zu dieser Thematik abzumachen (10). Das Ergebnis derselben Befragung zeigt, dass sowohl Ärztinnen als auch Ärzte gewisse Vorurteile haben, wenig über die Sexualität im Alter wissen, unter Zeitdruck stehen und Sexualität oft auf Erektionsstörungen reduzieren. Andererseits schämen sich die Patientinnen und Patienten und hoffen darauf, dass das Thema vom «Gegenüber» angesprochen wird (10).

Und im Langzeitbereich?

In der Schweiz leben rund 90’000 ältere Personen in Langzeitinstitutionen, davon sind drei Viertel 80 Jahre und älter (11). Leider wird das Praktizieren von Sexualität in solchen Institutionen oft gestört, beispielsweise durch unzureichende Privatsphäre, Mangel an Partnerin oder Partner, (negative) Haltung der eigenen Familienmitglieder, der Pflege, aber auch der Hausärztinnen und Hausärzte sowie unzureichende Kenntnisse über Sexualität im Alter (12).

Tipps für den Alltag

Manche Dinge erfahren wir nur, wenn wir aktiv danach fragen. Das bedeutet allerdings, dass wir die eigene Scham überwinden, den «richtigen Moment» erwischen und lernen, zwischen den Zeilen zu lesen. Nicht selten wird das Thema Sexualität am Schluss eines Gesprächs angetönt. Idealerweise gehört es zu einer «typischen» Systemanamnese, auch bei älteren Personen. Entscheidend ist zudem die Frage, wer die ideale Person ist, um das Thema auf-zugreifen. Dabei sollte man sich der eigenen Haltung und Werte im Klaren sein (13). Eine gute Option bietet auch die «ideale Verpackung» für die Thematik. Gute Einstiegsmöglichkeiten sind direkte, klare, offene Fragen: «Wie geht es mit dem Sexualleben»? Sind Sie noch sexuell aktiv?»

Im Zusammenhang mit psychischen Störungen und deren Medikation kann man beispielsweise die Grunderkrankung oder potenzielle medikamentöse Nebenwirkungen auf die Sexualität einleitend erwähnen. Bei Frauen in der Peri-Menopause eignen sich Fragen zu menopausalen Beschwerden gut als Einstieg in die Thematik (13). Fragen nach der sexuellen Orientierung (sofern nicht schon bekannt) oder Kontakte zu Sexarbeiterinnen (insbesondere bei Männern) können zusätzlich helfen, das Problem zu verstehen.

Wie weiter?

Mit der Enttabuisierung der Sexualität im persönlichen Gespräch und der Rückversicherung, dass Sex auch im Alter ein wichtiger Faktor der Lebenszufriedenheit ist, hat man therapeutisch schon viel erreicht. Es kann durchaus sein, dass Frauen bezüglich Östrogenisierung der Vaginalschleimhaut oder Gleitmitteln beraten werden. Je nach Beschwerden ist eine gynäkologische Mitbetreuung indiziert. Bei Männern mag die erektile Dysfunktion im Vordergrund der Beschwerden stehen, aber Sexualität im Alter bedeutet mehr als Viagra. Zurückhaltung ist geboten bei Substanzen zur Steigerung der Libido, denn hier sind die Effekte anekdotisch. In Fällen von sexueller Überaktivität werden bei Männern mit kognitiver Einschränkung gelegentlich Anti-Androgene eingesetzt, deren Effekte auf die schon physiologisch tiefen Testosteronspiegel sehr fraglich sind.

Gibt es Beratungsstellen oder Modelleinrichtungen?

Trotz intensiver Internetrecherche haben wir keine für die Thematik Sexualität im Alter spezifische Sammlung oder ein vorbildliches Sexualkonzept einer Institution gefunden. Auf der Homepage Sexuelle Gesundheit Schweiz (www.sexuelle-gesundheit.ch) finden sich jedoch eine Liste von regionalen Beratungsstellen und sexualtherapeutisch aktiven Therapiepersonen. Für homosexuelle Menschen bietet sich die Seite des Vereins www.queerAltern.ch an.

Sowohl Pro Senectute Schweiz als auch der Schweizerische Heimverband Curaviva befassen sich online mit der Thematik. Modellinstitutionen, die als Musterbeispiel für ein gelebtes Sexualkonzept gelten, sind aber nicht gelistet. Die in Tabelle 3 aufgeführten Faktoren können aber durchaus zur «sexuellen» Lebensqualität in Alters- oder Pflegeheimen beitragen.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

PD Dr. med. Thomas Münzer

Geriatrische Klinik St. Gallen AG
Rorschacher Strasse 94
9000 St. Gallen

thomas.muenzer@geriatrie-sg.ch

Dr. med. Annette Ciurea

Age Medical – Zentrum Gesundheit im Alter
Hardturmstrasse 131
8005 Zürich

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im
Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

1. World Health O. World report on ageing and health. Geneva: World Health Organization; 2015 2015.
2. Freak-Poli R, Kirkman M, De Castro Lima G, Direk N, Franco OH, Tiemeier H. Sexual Activity and Physical Tenderness in Older Adults: Cross-Sectional Prevalence and Associated Characteristics. J Sex Med. 2017;14(7):918-27.
3. Bauer M, Haesler E, Fetherstonhaugh D. Let’s talk about sex: older people’s views on the recognition of sexuality and sexual health in the health-care setting. Health Expectations. 2016;19(6):1237-50.
4. Wang V, Depp CA, Ceglowski J, Thompson WK, Rock D, Jeste DV. Sexual health and function in later life: a population-based study of 606 older adults with a partner. Am J Geriatr Psychiatry. 2015;23(3):227-33.
5. Srinivasan S, Glover J, Tampi RR, Tampi DJ, Sewell DD. Sexuality and the Older Adult. Curr Psychiatry Rep. 2019;21(10):97.
6. Kolodziejczak K, Rosada A, Drewelies J, Duzel S, Eibich P, Tegeler C, et al. Sexual activity, sexual thoughts, and intimacy among older adults: Links with physical health and psychosocial resources for successful aging. Psychol Aging. 2019;34(3):389-404.
7. Calabrò RS, Cacciola A, Bruschetta D, Milardi D, Quattrini F, Sciarrone F, et al. Neuroanatomy and function of human sexual behavior: A neglected or unknown issue? Brain Behav. 2019;9(12):e01389.
8. He Z, Ferguson SA, Cui L, Greenfield LJ, Paule MG. Development of the sexually dimorphic nucleus of the preoptic area and the influence of estrogen-like compounds. Neural Regen Res. 2013;8(29):2763-74.
9. Faubion SS, Rullo JE. Sexual Dysfunction in Women: A Practical Approach. Am Fam Physician. 2015;92(4):281-8.
10. Morton L. Sexuality in the Older Adult. Prim Care. 2017;44(3):429-38.
11. (BAG) BfG. Sozialmedizinische Betreuung in Institutionen und zu Hause 2019 [Medienmitteilung]. 2019 https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitswesen.assetdetail.14817268.html.
12. Richardson JP, Lazur A. Sexuality in the nursing home patient. Am Fam Physician. 1995;51(1):121-4.
13. Taylor A, Gosney MA. Sexuality in older age: essential considerations for healthcare professionals. Age Ageing. 2011;40(5):538-43.

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  • Vol. 13
  • Ausgabe 2
  • Februar 2023