Fortbildung AIM

Medizin-ethische Richtlinien der SAMW

Teil 9: Zusammenarbeit von medizinischen Fachpersonen mit der Industrie

Seit 50 Jahren veröffentlicht die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) medizin-ethische Richtlinien. Diese bieten Informationen und Orientierungshilfen für den Arbeitsalltag von Ärztinnen, Ärzten und weiteren Gesundheitsfachpersonen. Die meisten Richtlinien sind Teil der FMH-Standesordnung. In einer losen Serie hatte die Zeitschrift «Primary and Hospital Care» die Inhalte einzelner SAMW-Richtlinien anhand praktischer Beispiele vorgestellt. Teil 9 erscheint erstmals in «der informierte arzt/die informierte ärztin». Alle bisher publizierten Beiträge dieser Serie sind hier zu finden: www.samw.ch/richtlinien/fallbeispiele



Ein Fortbildungsangebot einer pharmazeutischen Firma an einen hausärztlichen Qualitätszirkel wirft Fragen zu möglichen Interessenkonflikten auf. Die SAMW-Richtlinien betonen, dass medizinische Entscheidungen unabhängig von finanziellen Anreizen sein müssen und transparente Rahmenbedingungen erfordern. Insbesondere Gratisproben, Honorare und luxuriöse Rahmenprogramme stehen im Spannungsfeld zwischen Wissenserweiterung und Marketinginteressen.

An offer of further training from a pharmaceutical company to a GP quality circle raises questions about possible conflicts of interest. The SAMS guidelines emphasize that medical decisions must be independent of financial incentives and require transparent framework conditions. In particular, free samples, fees and luxurious supporting programs are caught between knowledge expansion and marketing interests.

Key Words: SAMS guidelines, conflict of interest, free samples, honoraria

Aus der Praxis: Fortbildungsangebot eines Aussendienstmitarbeiters

Dr. L.M. leitet einen hausärztlichen Qualitätszirkel in der Zentralschweiz. Die zehn Mitglieder dieses Qualitätszirkels, alle im gleichen Notfallkreis tätig, treffen sich einmal monatlich zu einem fachlichen Austausch.

Nun ist der Aussendienstmitarbeiter der Firma X bei Dr. L.M. zu Besuch und stellt ihm ein neues hochwirksames Medikament zur Behandlung von Asthma und COPD vor. Die Wirksubstanz dieses Medikamentes sei in keiner Weise vergleichbar mit den anderen sich auf dem Markt befindlichen Substanzen für diese Indikationen. Daher müsse das Medikament mit einem eigens hierfür entwickelten Inhalator appliziert werden.

Der Aussendienstmitarbeiter macht Dr. L.M. folgendes Angebot: Speziell für die Mitglieder des Qualitätszirkels würde der Medical Advisor der Firma X, selbst Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie, im Rahmen eines nächsten Treffens einen Vortrag zur Thematik Asthma und COPD halten. Die Ärztinnen und Ärzte sowie die medizinischen Praxisassistentinnen würden auch im Gebrauch des Inhalators geschult. Anschliessend an den Vortrag würden den zehn Mitgliedern des Qualitätszirkels kostenlos je zehn Inhalatoren und zehn Originalpackungen des neuen Medikamentes abgegeben, damit die Hausärztinnen und -ärzte persönliche Erfahrungen sammeln könnten. Die Firma X wäre dankbar für Rückmeldungen der Hausärztinnen und -ärzte zu drei Fragen auf einem vorbereiteten Formular. Für jede erfolgte Rückmeldung könne die Firma X ein Honorar von 250 CHF ausbezahlen. Falls Bedarf für weitere Inhalatoren und Originalpackungen bestehe, könnten diese den Hausärztinnen und -ärzten zu einem vorteilhaften Preis abgegeben werden. Der Aussendienstmitarbeiter würde sich freuen, die zehn Hausärztinnen und -ärzte gemeinsam mit ihren Praxisassistentinnen und dem Medical Advisor der Firma X im Anschluss an den Vortrag in das nahe gelegene, mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Restaurant zum Abendessen einzuladen.

Was sagen die SAMW-Richtlinien (1) dazu?

Medizinisches Handeln muss sich stets am Patientenwohl und den Interessen der Gesellschaft orientieren. Wenn medizinische Fachpersonen und Gesundheitsorganisationen mit der Industrie zusammenarbeiten, können Eigeninteressen und Interessenkonflikte das professionelle Verhalten beeinflussen und die Glaubwürdigkeit von medizinischen Fachpersonen sowie das in sie gesetzte Vertrauen beeinträchtigen.

Gemäss Definition besteht ein Interessenkonflikt aus ­verschiedenen Umständen, von denen insgesamt ein bedeutsames Risiko ausgeht, dass Sekundärinteressen das ­professionelle Urteilsvermögen im Verhältnis zu Primärinteressen unangemessen beeinflussen (2).

Die Zusammenarbeit von medizinischen Fachpersonen und der Industrie wird durch diverse rechtliche Bestimmungen geregelt. Hervorzuheben sind u.a. das Heilmittelgesetz (HMG), das Krankenversicherungsgesetz (KVG), die Verordnung über Integrität und Transparenz im Heilmittelbereich (VITH) und die Arzneimittel-Werbeverordnung. Die Fachpersonen sind verpflichtet, die Regelungen einzuhalten. Die SAMW-Richtlinien ergänzen und konkretisieren die Bestimmungen.

In den SAMW-Richtlinien werden Handlungsprinzipien dargelegt, die dazu dienen
– Interessenkonflikte zu erkennen,
– Interessenkonflikte zu vermeiden, sowie
– transparent und proaktiv mit Interessenkonflikten umzugehen.

Besonders hervorgehoben seien an dieser Stelle die folgenden Prinzipien, die in den Richtlinien erläutert werden:
Trennungsprinzip: Medizinisches Handeln muss den Patienten gegenüber unbeeinflusst sein von angebotenen, versprochenen oder erhaltenen Leistungen oder Vorteilen. Die entsprechenden Vorgänge und Entscheidungen sind klar voneinander zu trennen.

Transparenzprinzip: Interessenbindungen und damit verbundene mögliche Interessenkonflikte sind offenzulegen. Geldwerte Leistungen oder Vorteile sollen dargelegt und der Umfang der erhaltenen geldwerten Leistungen soll zugänglich sein.

Äquivalenzprinzip: Interessenkonflikte sollen möglichst vermieden werden. Um Interessenkonflikte gar nicht entstehen zu lassen, müssen Leistungen und Gegenleistungen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Bei der Bemessung des Werts der Gegenleistung ist zudem zu berücksichtigen, ob diese bereits durch anderweitige gesetzliche Leistungen vergütet wird.

Die Richtlinien leiten zu einer selbstkritischen Reflexion über Abhängigkeiten und Eigeninteressen an. Zudem empfehlen sie, bei Vorliegen von möglichen Interessenkonflikten Verträge mit der Industrie immer von je zwei Personen pro Institution unterzeichnen zu lassen. Vereinbarungen über die Gewährung von geldwerten Leistungen und Vorteilen sind schriftlich festzuhalten und Geschenke resp. Vorteile von bescheidenem Wert (maximal 300 CHF/Jahr) dürfen nur angenommen werden, wenn das Geschenk resp. der Vorteil in Zusammenhang mit der Berufsausübung steht, für die medizinische Praxis von Belang ist und den Patientinnen und Patienten zugutekommt.

Professionelle Integrität im Zusammenhang mit der Unterstützung von Aus-, Weiter- und Fortbildungsaktivitäten bedeutet, dass
– Ausbildungsinhalte und Referentinnen unabhängig von den unterstützenden Organisationen gewählt werden;
– Fachthemen objektiv und gestützt auf wissenschaftliche Kriterien behandelt werden;
– die Zusammenarbeit mit der Industrie schriftlich geregelt wird;
– die Unterstützung durch die Industrie auch von den Veranstaltenden offengelegt wird und
– Fortbildungsanlässe von mehreren Firmen unterstützt werden (Multisponsoring).

Bedeutung der Richtlinien für den hausärztlichen Qualitätszirkel

In der oben geschilderten Situation ist es entscheidend, dass die Interessenkonflikte erkannt werden: Es besteht eine nicht zu unterschätzende Gefahr, dass das Primärinteresse – im vorliegenden Fall die Erhaltung und Förderung der Gesundheit der Menschen mit Asthma und COPD nach den WZW-Kriterien gemäss Art. 32 KVG – durch Sekundärinteresse beeinflusst wird. Im vorliegenden Fall durch die Abgabe von Gratispackungen des Medikaments und den geldwerten Leistungen des Honorars für das Ausfüllen des Fragebogens und das Abendessen. Der Erhalt von 250 CHF pro ausgefülltem Fragebogen mit insgesamt drei Fragen sowie das Abendessen im Nobelrestaurant stehen nicht in einem angemessenen Verhältnis zur Leistung der Ärztin oder des Arztes, womit das Äquivalenzprinzip verletzt ist. Gemäss den SAMW-Richtlinien handelt es sich bei dem angebotenen Abendessen um ein sogenanntes Rahmenprogramm, dessen Finanzierung durch eine pharmazeutische Firma nicht zulässig ist. Nicht problematisch erscheint mit Blick auf den Patientennutzen die Vermittlung von Informationen zur korrekten Handhabung des Inhalators.

Es muss allerdings davon ausgegangen werden, dass die hausärztlichen Erfahrungsberichte kaum wissenschaftlichem oder praktisch-medizinischem Erkenntnisgewinn dienen, sondern den Marketing-Interessen der Firma X. Auch wenn der Medical Advisor der Firma X Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie ist, muss davon ausgegangen werden, dass er in seiner Rolle als Medical Advisor bei der Firma X nicht neutral ist und damit als Referent nicht in Frage kommt.

Schlussfolgerungen

Die Richtlinien halten fest, dass die Zusammenarbeit von Ärztinnen und Ärzten mit der Industrie seit Langem etabliert ist. Sie liegt grundsätzlich im Interesse einer guten Gesundheitsversorgung und trägt zur Mehrung des Wissens, zur Entwicklung neuer und Verbesserung bestehender Therapien und insgesamt zum medizinischen Fortschritt bei. Gleichzeitig kann sie Abhängigkeiten mit sich bringen und zu Interessenkonflikten führen.

Die Richtlinien wenden sich an medizinische Fachpersonen und dabei insbesondere an Ärztinnen und Ärzte, nicht an die Industrie. Denn es ist nicht die Aufgabe der pharmazeutischen Firma, sondern der im vorliegenden Beispiel genannten Gesundheitsfachpersonen, Interessenkonflikte zu erkennen und den oben geschilderten Handlungsprinzipien gerecht zu werden. Allerdings sollte die Firma die Vorschriften des Verhaltenskodex der pharmazeutischen Industrie in der Schweiz einhalten.

Grundsätzlich ist es denkbar, als Ergänzung der interkollegialen Qualitätszirkelarbeit eine Referentin oder einen Referenten für ein spezifisches Fachgebiet einzuladen. Diese Person darf aber in keinem Abhängigkeitsverhältnis zu den pharmazeutischen Firmen stehen, deren Produkte im Vortrag vorgestellt werden. Dabei geht es nicht nur um finanzielle Abhängigkeiten oder Interessenkonflikte der Fachperson, sondern z. B. auch um die Unterstützung eines Forschungsvorhabens durch eine Firma.

Sollte sich eine pharmazeutische Firma an sogenannten Praxiserfahrungsberichten für bereits zugelassene Arzneimittel interessiert zeigen, gilt es, dieses Anliegen sehr kritisch zu prüfen. In den Richtlinien der SAMW ist klar festgehalten, dass Studien nach Marktzulassung von Arzneimitteln respektive Nutzerbewertungen von Produkten eine wissenschaftlich relevante Fragestellung untersuchen müssen. Es ist grundsätzlich zulässig, dass die Evaluationsprodukte im Austausch gegen eine Nutzerbewertung zur Verfügung gestellt werden. Medizinische Fachpersonen dürfen allerdings durch das Bereitstellen von Evaluationsprodukten und zugehörigen Leistungen nicht unangemessen abgegolten und/oder ermutigt werden, die Produkte oder Leistungen einzukaufen, zu empfehlen, zu verschreiben oder anzuwenden.

Dr. L.M., der Leiter des Qualitätszirkels in der Innerschweiz, sowie seine hausärztlich tätigen Kolleginnen und Kollegen tragen den SAMW-Richtlinien dann Rechnung, wenn sie
– eine ihnen aus der täglichen Arbeit vertraute unabhängige Fachperson für den Vortrag einladen;
– das Anliegen der Firma X bezüglich Praxiserfahrungsberichten kritisch bewerten und eine Zusammenarbeit nur dann zusichern, wenn der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn durch die Praxiserfahrungsberichte im Vordergrund steht;
– für die Praxiserfahrungsberichte höchstens ein Honorar annehmen, das in angemessenem Verhältnis zu ihrem Aufwand steht;
– sich bewusst sind, dass Musterpackungen ein Mittel der Arzneimittelwerbung sind und das professionelle Verhalten beeinflussen können;
– sie diese Packungen im Sinne von Art. 9 VITH nicht verkaufen;
– höchstens ein bescheidenes bezahltes Abendessen annehmen, dessen Sponsoring durch mehrere Firmen erfolgt und die Firmen zugleich keinerlei Einfluss auf Referentinnen und Referenten sowie Fortbildungsinhalte nehmen.

Letztlich lohnt sich in diesem Zusammenhang auch ein Blick auf die Webseite der Initiative unbestechlicher
Ärztinnen und Ärzte in Deutschland (https://mezis.de).

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Bianca Schaffert-Witvliet
APN, Spital Limmattal Schlieren und Vizepräsidentin der ZEK der SAMW

lic. theol., dipl. biol. Sibylle Ackermann
Leiterin Ressort Ethik der SAMW und Mitglied der ZEK der SAMW

 

PD em Dr. med. Klaus Bally

Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH
Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel, uniham-bb
Kantonsspital Baselland
Rheinstrasse 26
4410 Liestal

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

1. Zusammenarbeit von medizinischen Fachpersonen mit der Industrie. Medizin-ethische Richtlinien der SAMW. 2022,
vgl. www.samw.ch/zusammenarbeit-industrie
2. Emanuel EJ, Thompson DF: The Concept of Conflicts of Interest. In: The Oxford Textbook of Clinical Research Ethics. edn. Edited by Emanuel EJ, Grady C, Crouch RA, Lie RK, Miller FG, Wendler D. Oxford: Oxford University Press; 2008: 758–66.

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  • Vol. 15
  • Ausgabe 1
  • Januar 2025