Fortbildung - AIM

Häufig multifaktoriell bedingt

Unruhe im Altersheim

Verhaltensstörungen bei gerontopsychiatrischen Patienten sind häufig multifaktoriell bedingt und benötigen eine systematisierte und multiprofessionelle Abklärung. Eine frühzeitige Erkennung und Behandlung möglicher psychischer oder somatischer Ursachen kann diese attenuieren und die Gefahr der Entwicklung eines Delirs verhindern.



Mit Zunahme des Alters und durch Entwicklung von Multimorbiditäten ist, je nach Individuum und eigenen psychosozialen Ressourcen, eine adäquate Versorgung von gerontopsychiatrischen Patienten nur noch in spezialisierten Einrichtungen realisierbar. Störungen des Verhaltens wie eine schwere psychomotorische Unruhe, Weglauftendenzen und lautes Rufen kommen vermehrt im Alltag eines Altersheims vor. Diese stellen häufig eine schwierige Betreuungs- und Behandlungskonstellation für das jeweilige fachspezifische Personal dar. Als Folge werden niedergelassene Kollegen um Rat gebeten und die Suche nach dem eigentlichen Fokus kann sich herausfordernd gestalten. Verhaltensstörungen sind nicht nur Begleiter einer Demenzerkrankung, vielmehr besitzen sie oft nachvollziehbare und potentiell reversible Ursachen.

Verhaltensstörungen bei Demenz und affektiven Erkrankungen

Störungen des Verhaltens bei Demenzpatienten werden auch als «Behavioural and Psychological Symptoms of Dementia» (BPSD) genannt. Diese können sich in Form einer motorischen Überaktivität, einer verbalen oder tätlichen Aggressivität als auch durch Tag-Nacht Rhythmusstörungen präsentieren. Häufig kommt es auch zu einem sogenannten «Sundowning» Phänomen, bei dem man eine Akzentuierung von Unruhezuständen gegen die abendlichen Stunden sieht. Diese nichtkognitiven Symptome stehen häufig im Zusammenhang mit diffusen Ängsten, Sinnestäuschungen (Halluzinationen) und Wahn sowie Schwankungen des Affektes. Schröder et. al (1) beschrieb das psychotische und aggressive Verhalten als das häufigste Symptom unter den oben genannten. Hiergegen wird in weiteren Studien beschrieben, dass die Agitiertheit mit 55% die häufigste Verhaltensstörung des gerontopsychiatrischen Patienten darstellt (2). Mit diesem Terminus wird ein unspezifischer Symptomkomplex beschrieben, welcher als mögliche Ursache sowohl psychiatrische Erkrankungen, wie affektive und psychotische Störungen, als auch neurodegenerative Prozesse, wie Demenz oder Morbus Parkinson, beinhaltet. Ursächlich für Verhaltensstörungen können mit einer Prävalenz von bis zu 2/3 bei Demenzpatienten auch Depressionen vorliegen (3). Schweizerische Guidelines zur Diagnostik und Therapie der BPSD wurden bereits 2014 von Savaskan et al. veröffentlicht (4).

Mögliche psychiatrische Ursachen

Im Rahmen einer neurodegenerativen Erkrankung können bis zu 96% der Betroffenen ein sogenanntes «herausforderndes Verhalten» mit Symptomen wie Unruhe, Apathie und Hostilität entwickeln (5). Die Auslöser hierfür können multifaktoriell und potentiell reversibel sein (Tab. 1).
Laut zahlreicher Studien können diese möglicherweise aufgrund eines Ungleichgewichts auf Hypophysen-Hypothalamus-Nebennierenrinden Ebene mit der Folge einer Störung des Neurotransmittersystems (sogenannte metabolische Hypothese, 6, 7) entstehen. Bereits im Frühstadium einer Alzheimerdemenz werden Atrophien im Bereich des lymbischen- und paralymbischen Systems beschrieben, welche eine Störung der Dopaminregulation verursachen können. Infolgedessen können Symptome wie Aggression und Wahn vorkommen. Dagegen, wie bei der frontotemporalen Demenz, sind Unruhezustände vorrangig mit Enthemmungsphänomenen erklärbar. Schwankung des Affektes mit einem fluktuierenden Verlauf und einer «treppenförmigen» Verschlechterung werden bei Demenzen vaskulärer Genese häufig beobachtet. Weitere neurologische Erkrankungen wie linksführende cerebrovaskuläre Insulte führen oft zu organisch-affektiven Störungen mit Symptomen wie Depressivität, Psychose und Aggressivität (8). Viele weitere Patienten, die an einer Demenz oder einer neurologischen Erkrankung mit Störung des Sprachsystems leiden, können primordiale Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Harndrang oder Schmerzen nicht mehr adäquat äussern und reagieren in der Folge mit vermehrter Unruhe und Aggressivität. Ein weiterer wichtiger Punkt stellt der Schwergrad einer vorbestehenden affektiven und psychotischen Erkrankung dar sowie das Vorliegen einer bereits prämorbiden Persönlichkeitsakzentuierung. Mit zunehmendem Alter und daraus entstehenden hirnorganischen Veränderungen, können diese zu einer Akzentuierung oder gar Exazerbation der Grunderkrankung führen.

Somatische Differentialdiagnosen bei Unruhe

Somatische Erkrankungen wie beispielweise entgleiste Stoffwechselstörungen (Diabetes oder Hypo/Hyperthyreosen), akute Infekte (meistens urogenitaler oder pulmonaler Genese) eine Exsikkose oder eine Störung der Elektrolyte können auch die Ursache für die Entstehung von Verhaltensstörungen darstellen. Unter den gerontopsychiatrischen Patienten kommt in der Praxis häufig eine Multimorbidität vor und Polypharmazie kann delirante Exazerbationen begünstigen. Auf mögliche Wechselwirkungen oder Anpassungen der Medikation, sowohl psychiatrisch als auch somatisch, sollte gezielt geachtet werden. Besonders Medikamente, die eine anticholinerge Wirkung aufweisen, führen oft zu einer deliranten Symptomatik. Auch Präparate wie Antiparkinsonmittel, Antikonvulsiva, Opiate und Antibiotika (Tab. 2) können Unruhezustände auslösen. Ebenso stellen neurologische Erkrankungen wie epileptische Anfälle (nonkonvulsiver Status epilepticus, postiktale Zustände), zerebrale Insulte, Enzephalitiden und Subduralhämatome wichtige Differentialdiagnosen für Unruhezustände dar.
Zusammenfassend ist eine frühzeitige Erkennung und Behandlung möglicher instabiler somatischer Konstellationen häufig hilfreich, deliranten Zuständen entgegen zu wirken.

Wichtige psychosoziale Faktoren

Rasche und wiederholte Änderungen der Umgebung sind für gerontopsychiatrische Patienten aufgrund mangelnder kognitiver Verarbeitung und ebenso häufig ursächlich Risikofaktoren für die Entstehung von Unruhe und Verwirrtheitszuständen. Demzufolge ist eine medizinische und pflegerische Versorgung in der gewohnten Umgebung zu bevorzugen. Ebenso können Trennungen sowie schwierige Interaktionen mit Angehörigen oder Mitbewohnern prinzipiell eine mögliche Verstärkung von akuten Verhaltensauffälligkeiten auslösen.

Das Delir

Das Delir stellt eine der möglichen und häufig vorkommenden Ursachen für die Manifestation akuter Verwirrtheits- und Unruhezustände dar. Bei diesem meist reversiblen Akutsyndrom kommt es zu erheblichen Fluktuationen und Tagesschwankungen der Symptomatik. Für die Diagnose eines Delirs ist jedoch die alleinige Feststellung einer schweren Unruhe mit Verwirrtheit nicht ausreichend; vielmehr müssen nach den aktuellen ICD-10 Kriterien sämtliche Merkmale der Tab. 3 erfüllt werden.

Zu den typischen Symptomen eines Delirs zählen Bewusstseinsänderungen (sowohl quantitativ als auch qualitativ), schwere Einschränkung der Kognition sowie psychomotorische Unruhezustände.
Auf biochemischer Ebene kommt es beim Delir sowohl zu einem zentralen hyperdopaminergen- als auch zu einem peripheren anticholinergen Zustand. Zu den nicht zentralen Symptomen gehören beispielsweise Exsikkose, erhöhte Temperaturen, ein Harnverhalt, Obstipation sowie kardiovaskuläre Störungen (9), welche potentiell lebensbedrohliche Folgen verursachen können. Zur quantitativen Messung von deliranten Zuständen stehen bereits fest etablierte neuropsychometrische Testungen zur Verfügung wie die «Confusion Assessment Method» oder CAM (Tab. 4), die «Confusion Assessment Method for the ICU» (CAM-ICU) oder zur Feststellung des Schweregrades eines Delirs die «Delirium Rating Scale» (DRS). Diese können bei der Unterscheidung zwischen üblichen Verhaltensstörungen und einem Delir hilfreich sein.
Delirante Symptome können sowohl im Rahmen einer Demenz als auch bei nicht degenerativen Erkrankungen, wie bei einem Entzug oder einer Medikamentenintoxikation vorkommen. Die Abgrenzung eines Delirs gegenüber einer fortschreitenden dementiellen Erkrankung kann gelegentlich schwierig ausfallen. Die Progression einer neurodegenerativen Erkrankung zeigt, im Gegenteil zu einem Delir, eine schleichende Verschlechterung der Verhaltensstörungen; das Bewusstsein imponiert weitgehend klar und, wenngleich Wahnvorstellungen und Halluzinationen vorkommen können, stehen diese nicht im Vordergrund. Eine frühzeitige Erkennung und Behandlung von möglichen Risikofaktoren und Symptomen einer deliranten Symptomatik können eine rasche Besserung von Verhaltensstörungen bei älteren Patienten bewirken.

Dr. med. Michele Heinz Marchese

Sanatorium Kilchberg AG
Alte Landstrasse 70
8802 Kilchberg

micheleheinz.marchese@sanatorium-kilchberg.ch

Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Unruhe- und Verwirrtheitszustände bei gerontopsychiatrischen
    Patienten kommen häufig vor und betreffen bis zu zwei Drittel alle Bewohner in den meisten Alterseinrichtungen (10).
  • Als Ursache der Symptomatik können sowohl psychische als auch somatische Erkrankungen vorliegen. Im psychischen Bereich stellen Demenzen und affektive/psychotische Störungen die häufigsten
    Auslöser dar.
  • Delirante Zustände sollen bei schweren Verhaltensauffälligkeiten auch differentialdiagnostisch evaluiert werden. Diese unterscheiden sich von den übrigen psychiatrischen Erkrankungen u.a. durch einen plötzlichen Beginn und eine schwankende Symptomatik.
  • Prinzipiell kann jede Erkrankung sowie jegliche Änderung von äusseren Faktoren (z.B. ein Ortswechsel) ein Delir auslösen.
  • Die Abgrenzung einer psychischen oder somatischen Ursache von unklaren Verhaltensstörungen kann häufig schwer ausfallen. Aufgrund der inadäquaten und mangelnden Verbalisierung von möglichen somatischen Beschwerden bei älteren Patienten ist eine gründliche somatische Abklärung stets notwendig und häufig zielführend. Hierbei sind, neben klinischen und laborchemischen Untersuchungen, auch Medikamentenanalysen auf Interaktionen, mögliche prodelirogene Wirkungen und Intoxikationen zu berücksichtigen.

1. Schröder, S. G. (1998) Psychopathologie der Demenz, Symptomatologie und Verlauf dementieller Erkrankungen. Habilitationsschrift zur Erlangung der Venia legendi für das Fach Psychiatrie, Ruhr-Universität Bochum
2. Rainer, M., Mucke, H., Masching, A., Haushofer, M. (1999) Nichtkognitive Symptomprofile bei Demenzpatienten. Erfahrungen aus Psychiatrie, Ambulanz und Memory-Clinic. Psychiatr. Prax. 26, 71-75
3. Lyketsos, C. G. & Lee, H. B. (2004). Diagnosis and treatment of depression in Alzheimer’s disease. A practical update for the clinician. Dementia and Geriatric Cognitive Disorders, 17(1–2), 55–64.
4. Savaskan et al. (2014) Empfehlung zur Diagnostik und Therapie der behavioralen und psychologischen Symptome der Demenz (BPSD) Praxis 2014;103(3):135-148
5. Hessler JB, Schäufele M, Hendlmeier I, et al.: Behavioural and psychological symptoms in general hospital patients with dementia, distress for nursing staff and complications in care: results of the General Hospital Study. Epidemiol Psychiatr Sci 2017; 9: 1–10.
6. Hoyer S: The brain insulin signal transduction system and sporadic (type II) Alzheimer disease: an update. J Neural Transm 2002; 109: 341–60.
7. Diagnostik und Therapie von Verhaltensstörungen bei Demenz Torsten Kratz Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 447–54. DOI: 10.3238/arztebl.2017.0447
8. Huff W, Steckel R, Sitzer M: [Poststroke depression: risk factors and effects on the course of the stroke]. Nervenarzt 2003; 74: 104–14.
9. Adam, C., Quabach, R. & Standl, T. (2010). Neurologische Komplikationen in der Anästhesiologie- Teil 1. Anästhesiologie Intensivmedizin Notfallmedizin Schmerztherapie, 45(7-8), 440-447.
10. Cohen-Mansfield J, Marx MS, Rosenthal AS. A description of agitation in a nursing home. Journal of Gerontology: Medical Sciences. 1989;44(3):M77–M84.
Tabellenverzeichnis:
Tab. 1 Differentialdiagnose akute Verwirrtheitszustände Stanga Z et al. (2002).akute Verwirrtheitszustände, Schweiz Med Forum 43:1021-1028
Tab. 2 Mögliche delirogene Medikamente Modified from Jenewein, Josef & Büchi, S. (2007). The neurobiology and pathophysiology of delirium. Schweizer Archiv fur Neurologie und Psychiatrie. 158. 360-367.
Tab. 3 ICD-10 Kriterien für ein Delir Internationale statistische Klassifikation der Krankheit und verwandter Gesundheitsprobleme, 10- Revision. H. Dilling, W. Mombour, M.H. Schmidt, Hogrefe.
Tab. 4 CAM Kurzversion, Inouye SK et al., Clarifying Confusion: The Confusion Assessment Method. A New Method for Detection of Delirium. Ann Intern Med. 1990; 113;941-8

Abkürzungen:
Bspw.: Beispielweise
U.a.: Unter anderem
O.g.: Oben genannte

der informierte @rzt

  • Vol. 9
  • Ausgabe 11
  • November 2019