- Update zur Behandlung von Angst und affektiven Störungen
Das 14th Swiss Forum for Mood and Anxiety Disorders (SFMAD) der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) stand im Zeichen der personalisierten Therapie und vermittelte den Teilnehmer/innen verschiedene Behandlungsempfehlungen.
Besonders bei psychischen Erkrankungen sollte die individuelle Therapie im Vordergrund stehen. Dass dies über verschiedene Ansätze möglich ist, wurde durch Vorträge zu Epigenetik, Gender Medicine und personalisierte Medizin beleuchtet. Aktuelle Behandlungsempfehlungen wurden vorgestellt und in den Kontext der individualisierten Therapie gestellt. Dabei wurde auch die Frage nach der klinischen Umsetzbarkeit von personalisierter Behandlung diskutiert.
(Epi)genetik: Prädiktion, Prävention und personalisierte Therapie von Angst und affektiven Erkrankungen
In den letzten 12 Monaten waren allein in der EU über 65 Mio. Menschen von Angsterkrankungen, affektiven Störungen und Zwangserkrankungen betroffen, so Prof. Dr. Dr. med. Katharina Domschke (Freiburg), in ihrem Vortrag zur Epigenetik in der Psychiatrie und Psychotherapie. Bei einer Therapieresistenz von bis zu 30% wird deutlich, dass eine dringende Notwendigkeit zur Optimierung der verfügbaren Behandlungsoptionen besteht. Damit spannte Prof. Domschke den Bogen zur «Precision Psychiatry»: Wie bereits bei somatischen Erkrankungen etabliert, können verlässliche Biomarker auch in der Psychotherapie Anwendung finden, um zB. die Responsivität einzelner Patienten zu gewissen Therapieansätzen zu beurteilen. So könnte DNA-Methylierung einen Prädiktor für das (Nicht-) Ansprechen der Patient/innen auf eine Therapie darstellen und damit in Zukunft individuell personalisierte und somit wirkungsvollere Therapieansätze ermöglichen.
Leitliniengerechte Therapie bipolarer Störungen: Bewährte und neue Behandlungsoptionen
Die Behandlung der biopolaren Störung ist komplex, wie Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. Dipl.Biol. Michael Bauer (Dresden) in seinem Vortrag betonte. Die 2020 aktualisierte evidenz- und konsensusbasierte deutsche S3-Leitlinie empfiehlt Lithium als einzige Substanz mit höchster Evidenz, während andere Substanzen weniger Evidenz und/oder erhebliche Einschränkungen in der Zulassung aufweisen. Unabhängig von dem rezidiv prophylaktischen Effekt senke Lithium auch das Suizidrisiko erheblich, so Prof. Bauer. Lithium gilt daher als Goldstandard für Patient/innen mit bipolarer Störung, bei einem optimalen Lithiumspiegel von 0,6-0,8 mmol/L in der Langzeitbehandlung. Potenzielle Alternativen wären Lamotrigin, welches nicht antimanisch wirkt und nicht als Monotherapie empfohlen ist, und Valproat, dass bei jungen Frauen kontraindiziert ist und vom Referenten nur noch gegen Manie eingesetzt wird. Für Fälle, in denen die Lithium-Monotherapie nicht ausreichend wirkt, beschreibt Prof. Bauer die Kombination von Lithium mit Schilddrüsenhormonen als sinnvoll.
Aktualisierte Behandlungsempfehlungen zu Zwangsstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen
Während eine Zwangsstörung von wiederkehrenden Zwangsgedanken und/oder -handlungen geprägt ist, entsteht eine PTBS als Folge eines Ereignisses, welches tiefgreifenden Stress verursacht, erklärte Prof. Dr. med. Annette Brühl (Basel) an ihrem Vortrag. Die Psychotherapie gilt klar als primäre Therapieempfehlung bei Zwangsstörungen. Als Therapeut/in sollte man Patient/innen dazu mit ihren Zwängen konfrontieren. Eine pharmakologische Behandlung sei eigentlich nur indiziert, wenn eine Psychotherapie abgelehnt wird oder nicht möglich ist, betonte Prof. Brühl. Wird eine pharmakologische Therapie gestartet, gelten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) als erste Wahl.
Bei der Behandlung der PTBS wies Prof. Brühl vor allem darauf hin, dass das Erfassen der Krankheit mit soliden und etablierten Methoden und Fragebögen vonstattengehen solle. Auch bei der PTBS sollte die erste Therapiewahl die Psychotherapie sein, mit einem Schwerpunkt auf der Verarbeitung des Geschehens. Psychopharmaka sind in der ersten Linie nicht empfohlen; wenn sie dennoch eingesetzt werden, sollten eher SSRIs gewählt werden anstelle von Benzodiazepinen. Weiter gilt: Nicht jede Person, welche einem Trauma ausgesetzt war, entwickelt überhaupt eine PTBS. Die Leitlinien raten daher stark von einem Debriefing ab, da solch eine erneute Konfrontation bei manchen Patient/innen eher eine Verschlechterung auslösen könnte.
Gender Medicine: Einfluss des Geschlechts auf Prävalenz und Therapie von affektiven Störungen
Bei fast jeder Erkrankung gibt es geschlechterspezifische Unterschiede. Viele psychische Erkrankungen, aber auch solche des Autoimmunsystems, haben eine höhere Prävalenz bei Frauen. Die WHO bestätigt, dass Frauen ein doppelt so hohes Risiko als Männer haben, in ihrem Leben an einer Depression oder einer Angststörung zu erkranken, so Dr. med. Antonella Santuccione Chadha (Zürich).
Die Gründe dafür sind vielfältig. Es gibt zum einen biologische Ursachen (Genetik, Sexualhormone) aber auch soziale Faktoren, die im Englischen mit dem Begriff “gender” im Gegensatz zum biologischen “sex” zusammengefasst werden. Insgesamt werden Frauen und andere vernachlässigte Gruppen wie Schwarze oder Latinos auch heute noch in manchen klinischen Studien nicht stratifiziert oder sind ganz ausgeschlossen. Und das ist nicht nur fatal für diese Gruppen, die schlechter diagnostiziert und behandelt werden, sondern zunehmend auch für Pharma-Firmen: Der Grund für das Zurückziehen eines bereits zugelassenen Medikaments ist in acht von zehn Fällen ein schädlicher Effekt auf Frauen, so Dr. Santuccione. So sind in Bezug auf Frauen viele medizinische Entdeckungen demnach auch heute noch dem Zufall überlassen. Dies möchte das “Women’s Brain Project” ändern: Es setzt sich für die Etablierung eines Instituts für “Sex and Gender Precision Medicine” in der Schweiz ein – es wäre das erste seiner Art. Doch dafür braucht es noch viel Unterstützung von freiwilligen Helfer/innen, aus der Politik und von Pharma-Unternehmen.
Personalisierte Medizin und psychische Gesundheit: Aktuelle Entwicklungen einer komplizierten Beziehung
Genetisch sind alle Menschen fast identisch; sie unterscheiden sich nur in wenigen genetischen Polymorphismen, sogenannte SNPs. Diese bieten einen Ansatz, die Häufigkeit von psychischen Erkrankungen wie Depression in Abhängigkeit von den genetischen Variationen zu untersuchen. Bei ihrer systematischen Analyse entsteht ein sogenannter Manhattan-Plot, der die statistische Signifikanz des Krankheitsrisikos für jeden SNP angibt. So wird ein individueller Wert für das genetische Risiko einer Person etwa für Depression berechnet: der polygenic score. Dieser basiert darauf, dass genetische Risikovarianten häufiger bei Patient/innen auftreten und protektive Varianten häufiger bei Kontrollgruppen. Mit der Effektstärke kann man die Variationen gewichten und so einen individuellen Wert für jedes Genom berechnen. Für Depression und Schizophrenie erhält man so statistisch signifikante Werte, die aber klinisch völlig irrelevant sind.
Genetik ist auch ein Geschäftsmodell. Sie kann Innovation vorantreiben, es ist aber immer wichtig, genau zu schauen, wie die Datenlage bei bestimmten Angeboten ist, meint Prof. Dr. med. Andreas Papassotiropoulos (Basel) in seinem Vortrag. So könnten genetische Analysen dabei helfen, die Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von Medikamenten besser zu verstehen. Die FDA hat eine Liste von Medikamenten veröffentlicht, bei denen es wissenschaftliche Evidenz gibt, dass SNPs einen Einfluss auf deren Pharmakokinetik haben. Die klinische Relevanz dieser Erkenntnisse ist aber nicht immer erwiesen.
Crashkurs: Suizidalität in der Praxis — Update 2023
Die Schweiz befindet sich bezüglich Suizidraten im europäischen Mittelfeld, so Prof. Dr. med. Martin Hatzinger (Solothurn) in seiner Präsentation. Um sich der Frage zu nähern, warum Menschen suizidal werden, stellte Prof. Hatzinger mehrere Erklärungsmodelle vor, wobei er neben den soziokulturellen und psychiologischen Faktoren auch auf das medizinische Modell einging. Dieses erkennt psychiatrische Erkrankungen als Hauptursache an – und tatsächlich leiden 90% der Patient/innen während des Suizids an einer psychiatrischen Erkrankung. Er betonte die Wichtigkeit davon, bei der Beurteilung der Suizidalität die Risikogruppen und sogenannte «Red Flags» rechtzeitig zu erkennen. Das können unter anderem schwere Depressionen sein, eine familiäre Belastung, oder auch Ankündigungen eines Suizids. Als therapierender Arzt sei es wichtig, Suizidgedanken zu thematisieren, und mit dem Patienten gemeinsam zu überlegen, wie weiter vorzugehen ist.
Wichtige Massnahmen bei Suizidalität sind zunächst das Abwägen, ob eine ambulante Therapie weiter möglich ist, ob Sicherungsmassnahmen wie zum Beispiel das Beseitigen von gefährlichen Gegenständen erfolgen sollen, oder ob eine Klinikeinweisung notwendig ist. Insbesondere sollte eine adäquate Behandlung der Grunderkrankung erfolgen. Auch Sekundärprävention zur zukünftigen Reduktion des Suizidrisikos sollte angestrebt werden, zum Beispiel mit psychotherapeutischen Programmen wie dem ASSIP (Attempted Suicide Short Intervention Program).
Zu guter Letzt erinnerte Prof. Hatzinger auch noch daran, die Angehörigen nicht zu vergessen: Bei einem Suizid sind mindestens rund 6 Angehörige betroffen, welche mit bedeutenden sozialen Auswirkungen zu kämpfen haben. Er appelliert auch an die Ärzte, welche mit suizidalen Menschen zu tun haben, dass es vermessen wäre zu denken, man könne einen Suizid immer hundertprozentig verhindern. Diese Einsicht möchte er seinen Kollegen zur Entlastung mitgeben. (Weitere Informationen sind zu finden auf www.sgad.ch)
red.