- «Vademecum» für die Grundversorger
Migräne ist eine häufige neurologische Erkrankung, von der in der Schweiz mehr als 1 Million Menschen betroffen sind. Sie ist durch eine wiederkehrende Überempfindlichkeitsstörung gekennzeichnet, bei der neben dem Hauptsymptom Kopfschmerz auch Licht, Geräusche, Gerüche, Berührungen oder Bewegungen als störend empfunden werden. Gerade für weniger stark betroffene Migränepatienten sind die Hausärztinnen und Hausärzte die wichtigsten Behandlungspartner. Bei höherem Leidensdruck, insbesondere bei vermehrter Abwesenheit von Beruf und Privatleben oder unbefriedigendem Therapieerfolg, ist die Einschaltung von Neurologen oder Kopfschmerzspezialisten unbedingt zu empfehlen. Dieser Artikel gibt ein Update über die wichtigsten Diagnose- und Therapiemöglichkeiten.
Migraine is a common neurological disorder that affects more than 1 million people in Switzerland. It is characterized by a recurring hypersensitivity disorder in which, in addition to the main symptom of headache, light, sounds, smells, touch or movement are also perceived as disturbing. Especially for less severely affected migraine patients, family doctors are the most important treatment partners. In case of higher suffering pressure, especially in case of increased absence from work and private life or unsatisfactory therapy success, the involvement of neurologists or headache specialists is highly recommended. This article provides an update on the most important diagnostic and therapeutic options.
Key Words: migraine, hypersensitivity, diagnosis, therapy
Diagnose
Die internationale Kopfschmerzklassifikation (ICHD-3) unterscheidet verschiedene Formen der Migräne (1). Einerseits wird die Migräne anhand der monatlichen Anzahl der Kopfschmerztage in eine episodische oder chronische Form eingeteilt, wobei 15 Tage als arbiträre Grenze festgelegt wurden. Vor Kurzem wurde von renommierten Kopfschmerzspezialisten vorgeschlagen, diese Grenze bereits bei 8 Tagen festzulegen, da ab dieser Häufigkeit auch die Beeinträchtigung/Behinderung im Alltag deutlich zunimmt (2). Auch wenn die Migräne zu den höchst-prävalenten neurologischen Störungen gehört und in der Schweiz schätzungsweise mehr als 1 Million Menschen betroffen sind, darf davon ausgegangen werden, dass 80-90% weniger als 4 Migränetage pro Monat haben und ausserhalb dieser kaum im Alltag eingeschränkt sind.
Die Migräne kann man als wiederkehrende Reizüberempfindlichkeitsstörung beschreiben, wobei neben dem Leitsymptom Kopfschmerzen auch Licht, Lärm, Gerüche, Berührung oder Bewegung als störend wahrgenommen werden. Etwa 1⁄6 der Patienten berichtet zudem über passagere neurologische Ausfallerscheinungen (visuell, sensorisch, motorisch, kognitiv), welche in der Regel vor den Kopfschmerzen beginnen und sich über Minuten entwickeln. Dadurch erfolgt die Einteilung in Migräne mit und ohne Aura, wobei es auch isolierte Auren gibt, die familiäre hemiplegische Migräne oder auch «Visual Snow» als Migränekomplikation.
Gewisse vorwiegend pädiatrische Migränevarianten (abdominelle Migräne, zyklisches Erbrechen) dürften auch in der Grundversorgung gelegentlich anzutreffen sein. Im Appendix der ICHD-3 wird zudem neuerdings auch die vestibuläre Migräne aufgeführt sowie eine rein menstruelle und menstruationsassoziierte Migräne unterschieden. Die Hormone, insbesondere der Östrogenabfall, sind nicht nur Trigger der Attacken, sondern generell ein wichtiger Grund, weshalb Frauen in den reproduktiven Jahren etwa dreimal so häufig betroffen sind. Hinsichtlich der Trigger gilt es sonst sicherlich zu beachten, dass teilweise auch Vorboten/-symptome der Kopfschmerzattacken, wie z.B. die Reizüberempfindlichkeit oder die Lust auf Süsses, fehlinterpretiert werden. Als Triggermanagement bietet sich entsprechend der 3E-Ansatz an: Experimentieren und dokumentieren – eindeutige Trigger Eliminieren – sich vermeintlichen Triggern Exponieren (Tab. 1). Inwieweit der Einsatz von neuen Technologien, wie mobile Apps und Wearables, einen längerfristigen Nutzen bringen oder aber einen zu starken Fokus auf das Problem setzen, ist noch nicht abschliessend geklärt.
Mechanismen
Die Pathophysiologie der Migräne ist komplex und umfasst mehrere Faktoren (3). Es wird angenommen, dass eine komplexe Wechselwirkung zwischen genetischen, neurochemischen und Umweltfaktoren sowohl zu der Krankheit, als auch zur Auslösung der einzelnen Attacken führt. Eine zentrale Funktion spielt auch das trigemino-vaskuläre System sowie verschiedene Neurotransmitter, wie das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP). In den letzten Jahren gab es vor allem im Bereich der medikamentösen Prophylaxe bedeutende Fortschritte, wofür ich auch auf frühere Artikel in dieser Zeitschrift verweise (4, 5).
Akutbehandlung
Patienten wünschen sich ein rasch wirkendes Medikament, das auch das Funktionieren im (Berufs-)Alltag wieder möglich macht.
Das können Schmerzmittel, Kombinationen mit Antiemetika oder Triptane sein. Die bereits 30-jährige Präsenz der Serotoninrezeptor-Agonisten spricht sicherlich auch für ihre Sicherheit. Sie dürften allenfalls sogar gezielter und häufiger eingesetzt werden, z.B. auch in der Schwangerschaft (6), insbesondere, wenn Alternativen fehlen. Als neue spezifische Substanzklassen existieren die Ditane, wobei das Zulassungsgesuch für Lasmiditan zurückgezogen wurde. Hingegen dürfen wir weiterhin mit der Einführung der Gepante rechnen, mit Rimegepant als erstem Vertreter. Dieser kleinmolekulare CGRP-Antagonist nimmt hierbei eine Sonderstellung ein, weil er auch zur prophylaktischen Therapie eingesetzt werden kann. Da es bei den Gepanten bisher keine Hinweise gibt, dass sie bei einem Übergerbrauch zu einer Migränechronifizierung führen (MÜKs), könnte sogar die alleinige Behandlung der Attacken längerfristig die Migränefrequenz bessern (7).
Medikamentöse Prophylaxe
Die Therapieempfehlungen für primäre Kopfschmerzen der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft (SKG, www.headache.ch) werden in Kürze in der 11. Auflage erscheinen und listen neben den neuen Wirkstoffen auch die langjährig-etablierten Medikamente auf. Sicherlich sind die Nebenwirkungen letzterer eher vielfältiger und häufiger, jedoch können solche manchmal auch – gezielt eingesetzt – einen positiven Effekt haben und dadurch die Adhärenz verbessern (8).
Wie bereits erwähnt spielt das CGRP bei Migräneattacken eine Schlüsselrolle, v.a. in der Schmerzentstehung. Die in den letzten Jahren entwickelten Hemmer dieses Systems bieten Patienten eine vielversprechende Option zur Behandlung von Migräne. Erste klinische Beobachtungsstudien zeigen, dass die Wirksamkeit und Sicherheit der Zulassungsstudien reproduziert werden kann, wenn nicht sogar teilweise besser ausfällt (9). Die teuren Medikamente sind in ihrer Anwendung jedoch stark eingeschränkt und können nur von Neurologen verschrieben werden. Eine direkte Vergleichsstudie von Erenumab und Topiramat zeigte nicht nur eine bessere Adhärenz, sondern auch eine höhere Wirksamkeit, sodass nun in Deutschland der CGRP-Rezeptor-Antikörper bereits als zweitlinien Therapie eingesetzt werden kann (10).
Nichtmedikamentös
Lebensstilfaktoren wie Ernährung, Schlafmuster, Stressmanagement und körperliche Aktivität können einen Einfluss auf die Häufigkeit und Schwere von Migräne haben. Es ist wichtig, dass Patienten ihre Gewohnheiten überdenken und positive Verhaltensänderungen vornehmen. In einer kürzlich veröffentlichten Studie konnten wir zeigen, dass dies vor allem im Einsatz des betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) nicht nur erfolgsversprechend sein kann, sondern auch einen direkten ökonomischen Nutzen bringen kann, in Anbetracht eines «return of invest» von über 1:5 (11).
Die externe Neurostimulation des Trigeminusnerven zeigt in Studien auch duale Effekte, sowohl für die Attacke wie als Prophylaxe. Die meisten Krankenkassen beteiligen sich an den Therapiekosten und es darf sogar mit einer weiteren Anpassung der MiGeL-Kriterien durch das BAG gerechnet werden. Auch für die Vagusnervstimulation, die transkranielle Gleichstromstimulation und als neuestes sogar für die entfernte («remote») Neuromodulation gibt es kontrollierte Studien.
In Tabelle 1 sind weitere nichtmedikamentöse Möglichkeiten aufgeführt, wie Betroffene die Migräne positiv beeinflussen können.
Empfehlung
Gerade für die weniger stark betroffenen Migränepatienten sind die Grundversorger die wichtigsten Behandlungspartner. Die Diagnose kann in aller Regel rasch gestellt werden, allenfalls unter Beizug einer Checkliste für Warnsymptome (12). Ein Tagebuch kann helfen, mögliche Muster (wie z.B. hormonelle Korrelation) zu erkennen und den Leidensdruck besser einzuschätzen. Ist dieser erhöht, wobei als Faustregel 5 Migränetage pro Monat gelten, kann gemäss den SKG-Empfehlungen eine Prophylaxe begonnen werden. Bei höherem Leidensdruck, insbesondere bei vermehrten Ausfällen im Berufs- oder Privatleben oder nicht-zufriedenstellendem Therapieerfolg ist sicherlich die Involvierung der Neurologen oder Kopfschmerzspezialisten empfohlen.
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1. Headache Classification Committee of the International Headache Society (IHS) The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition. Cephalalgia. 2018; 38(1):1-211.
2. Chalmer MA et al. Proposed new diagnostic criteria for chronic migraine. Cephalalgia. 2020; 40(4):399-406.
3. Goadsby PJ et al., Pathophysiology of Migraine: A Disorder of Sensory Processing. Physiol Rev, 2017; 97(2):553-622.
4. Gantenbein AR, Pohl H. Update Migräne. der informierte arzt 2021; 2:22-4.
5. Stoyanova-Piroth G, Gantenbein AR, Sandor PS. Neue Antikörper in der Migräneprophylaxe – wann und wie einsetzen? der informierte arzt 2021; 11:3-5.
6. Robblee J. A survey study of headache specialists’ comfort with triptan contraindications. Headache. 2023 (Epub ahead of print).
7. Gantenbein AR, Kleinschmidt A. Is the right way to go in between? : Rimegepant as needed provides preventive benefit. A comment on: monthly migraine days, tablet utilization, and quality of life associated with rimegepant-post hoc results from an open label safety study (BHV3000-201). J Headache Pain. 2023; 24(1):33.
8. Sándor PS, Gantenbein AR. Positive Nebenwirkungen in der Migränetherapie. Schweizer Zeitschrift für Psychiatrie & Neurologie 2013; 1:13-15.
9. Gantenbein AR et al. Interim results of the Swiss quality of life and healthcare impact assessment in a real-world erenumab treated migraine population (SQUARE study). J Headache and Pain 2022; 23(1):142.
10. Reuter U et al. Erenumab versus topiramate for the prevention of migraine – a randomised, double-blind, active-controlled phase 4 trial. Cephalalgia 2022; 42(2):108-18.
11. Schaetz L et al. Impact of an employer-provided migraine coaching program on patient burden and engagement. Headache 2020; 60(9):1947-60.
12. Do TP et al. Red and orange flags for secondary headaches in clinical practice: SNNOOP10 list. Neurology 2019; 92(3):134-44.
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- Vol. 13
- Ausgabe 6
- Juni 2023