- Vitamine und COVID-19
In der Ausgabe vom 7. Juli 2021 dieser Zeitschrift informierte Kurt Bärlocher in einer Übersicht über die Bedeutung der Vitamine im Allgemeinen und der Folsäure im Speziellen für den Stoffwechsel (1). In diesem Bericht soll die Rolle der Vitamine bei der Verhinderung und der Bekämpfung von Pandemien wie COVID-19 erläutert werden, wobei nicht der therapeutische Ansatz, sondern eine ernährungs-physiologische Betrachtung im Vordergrund steht.
Die Bandbreite der geschätzten Erfolgsaussichten, ob eine Intervention mit Vitaminen gegen virale Attacken nützlich sei oder nicht, ist riesig, sie reicht vom möglichen Schutz bis zur Wirkungslosigkeit; letzteres hatte in einem Interview in der BAZ vom 29. März 2020 Beat Villiger, Sportmediziner und Lungenspezialist am Universitätsspital Basel, postuliert: «Vitaminpräparate bringen vor allem den Produzenten viel Geld ein, wissenschaftlich bewirken sie nur in sehr wenigen Fällen im Spitzensport oder bei Mangelerscheinungen etwas. Insbesondere sind Vitamin-C-, Multivitaminpräparate und Pflanzen-Prophylaktika definitiv out. Sie machen nur einen teuren Urin.»
Diese Aussage ist eigentlich erstaunlich, da die Wirkungsweise der Vitamine recht gut erforscht ist. Die Abbildung 1 zeigt eindrücklich die enorme Zunahme der Arbeiten vor allem in den letzten beiden Jahrzenten.
In der Tat sind die empfohlenen Zufuhren an Vitaminen wissenschaftlich sehr breit abgestützt und immer wieder an die neue Datenlage angepasst worden, wie in der Arbeit von Kurt Bärlocher dargelegt wurde. Aus diesen Empfehlungen, die für Laien nicht leicht zu verstehen sind, wurde von Wissenschaftlern der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung (SGE) in Zusammenarbeit mit dem BAG eine anschauliche Graphik erarbeitet und dokumentiert, die Lebensmittelpyramide (www.sge-ssn.ch/lebensmittelpyramide) (2). Solche Darstellungen wurden von etlichen Ernährungsgesellschaften und Gesundheitsbehörden vorgestellt, um ein einfaches, anschauliches Hilfsmittel für die Ernährungsberatung bereitstellen zu können. Befolgt man die dort aufgestellten Regeln, sollte eine ausreichende Versorgung mit Mikronährstoffen gewährleistet sein.
Gemäss der von 2014 – 2015 in der Schweiz durchgeführten Nationalen Ernährungserhebung «menuCH» werden diese Empfehlungen jedoch nicht erreicht. Früchte und Gemüse werden zu wenig konsumiert, ebenso Getreideprodukte, Kartoffeln und Milchprodukte. Obschon ein Rückschluss auf die erhaltenen Mikronährstoffe auf Grund dieser Erhebung wegen der verwendeten Methodik mit einer grossen Unsicherheit verbunden ist, kann davon ausgegangen werden, dass ein grosser Teil der Bevölkerung, insbesondere Senioren, ein mehr oder weniger grosses Defizit an einzelnen Vitaminen aufweist (3).
Rolle der Vitamine bei der Immunabwehr
Wie in der Arbeit von Kurt Bärlocher beschrieben wurde, sind die 13 Vitamine wie auch andere Substanzen als Katalysatoren und Kofaktoren für einen geordneten Stoffwechsel unabdingbar. In der Tabelle 1 sind in einer Übersicht die wichtigsten Funktionen der Vitamine bei Stoffwechselvorgängen des Immunsystems zusammengefasst. Vergleicht man diese Tabelle mit der Tabelle 1 von Kurt Bärlocher wird ersichtlich, dass die Interaktionen der Vitamine mit dem Immunsystem nicht immer als Hauptwirkung aufgeführt werden. Dies ist z.T. historisch bedingt, da deren Bedeutung für den gesamten Stoffwechsel nicht sofort erkannt wurde. Z.B. ist Vitamin D seit seiner Entdeckung 1918 das Anti-Rachitis Vitamin; dass auch andere Gewebe wie Immunzellen Vitamin D Rezeptoren ausbilden, ist erst viel später erkannt worden. Im Folgenden werden einige für die Immunabwehr relevante vitaminabhängige Reaktionsfolgen aufgezeigt.
Vitamin A
Vitamin A (Retinol) wird bei Bedarf zu Retinsäure oxidiert. Diese spielt eine entscheidende Rolle bei der Synthese, Regulierung und Reifung verschiedener Komponenten des Immunsystems: Epithelzellen, Makrophagen und neutrophile Granulozyten. Epithelgewebe bedeckt alle äusseren und die meisten inneren Oberflächen des Organismus und funktioniert so als erste Front gegen pathogene Eindringlinge. Ein Vitamin A Mangel schwächt die Abwehrfunktion des Epithels, was u.a. Atemwegsinfektionen fördert.
Vitamin A Mangel bewirkt auch eine Verminderung von aktivierten T-Zellen in Lymphorganen. Aktivierung und Regulierung von T-Zellen sind u.a. entscheidend für den Erfolg einer Impfung. Bei folgenden Krankheiten wurde eine Verbesserung festgestellt, wenn ein Vitamin A Mangel korrigiert wurde: Masern, Lungenentzündung, Durchfall, Malaria (4).
Vitamin D
Schon Mitte des 19. Jahrhunderts, bevor es Antibiotika gab, wurde Lebertran zur Behandlung von Tuberkulose verwendet; den Bezug zu Vitamin D kannte man aber noch nicht. Heute weiss man, dass aktivierte Makrophagen und Monozyten 25 OH Vitamin D zur eigentlichen Wirksubstanz 1,25 (OH)2 Vitamin D konvertieren, welches wiederum deren antimikrobiellen Eigenschaften verstärkt. Dadurch werden bakterielle Membranen und virale Hüllen geschädigt. 1,25 (OH)2 Vitamin D stimuliert die Ausschüttung von Cathelicidin, ein antimikrobielles Peptid, und unterdrückt die übermässige Ausschüttung von proinflammatorischen Cytokinen. Zudem stimuliert 1,25 (OH)2 Vitamin D die endotheliale Synthese von Stickstoffmonoxid und somit auch die Immunabwehr. 1,25 (OH)2 Vitamin D hemmt die Genexpression des angiotensinkonvertierenden Enzyms, welches als Wirt-Rezeptor dem SARS-CoV-2 zum Andocken dient. Es wird deshalb vermutet, dass eine genügende Versorgung mit Vitamin D das Risiko und den Schweregrad einer COVID-19 Infektion mindern kann. In mehreren Studien wurde bei Kindern und Erwachsenen mit Atemwegsinfektionen ein tiefer Plasmaspiegel von 25 OH Vitamin D beobachtet, wobei der Schweregrad der Erkrankung mit den Vitamin D Werten korreliert. Patienten, die wegen einer COVID-19 Infektion in Spitalbehandlung aufgenommen werden müssen, haben oft einen Vitamin D Mangel (5). Zum Beispiel wurde in Newcastle, UK, festgestellt, dass 2/3 der Corona Patienten bei Spitaleintritt einen Vitamin D Mangel aufwiesen, davon litten 21.6% an einem schweren Mangel; vor allem Patienten auf der Intensivstation (6). In einem Alters- und Pflegeheim in Frankreich fanden Cédric Annweiler et al., dass Vitamin D Supplemente sowohl den Schweregrad der COVID-19 Erkrankung als auch die Sterbensrate vermindern (7). Mit einer interessanten Arbeit stellten Piumika Sooriyaarachchi et al. einen Zusammenhang zwischen dem Vitamin D Status und der CORONA bedingten Sterbensrate dar. Sie stellten die per 31. Dezember 2020 publizierten COVID-19 Mortalitätszahlen von 23 Europäischen und 24 Asiatischen Staaten den in den einzelnen Ländern erhobenen Prävalenz eines Vitamin D Mangels gegenüber. Aus Abbildung 2 ist ersichtlich, dass das Risiko, an COVID-19 zu sterben, mit dem Vitamin D Mangel exponentiell zunimmt (8). Es wird auch diskutiert, ob eine Impfung gegen COVID-19 bei einer ausreichenden Versorgung mit Vitamin D effizienter sei; ein Mangel wäre demnach ein Risiko für ungenügenden Impfschutz (9).
Vitamin E
Vitamin E beeinflusst die Aktivierung von T-Zellen und spielt als fettlösliches Antioxidans eine wichtige Rolle (10). Bemerkenswert sind hierzu die Arbeiten von Melinda Beck, die in Mäusen zeigen konnte, dass ein harmloses Virus (Coxsackievirus B3) in Tieren mit einem Vitamin E Mangel zu einer virulenten Form mutieren konnte. Dies würde bedeuten, dass bei einem Vitamin E Mangel der immunologische Schutz gegen virale Infektionen ungenügend ist (11).
Vitamin K
Das Vitamin K abhängige Glykoprotein S spielt nicht nur eine Schlüsselrolle bei der Blutgerinnung, sondern auch bei der Regulierung von Immunreaktionen (12).
Vitamin C
Vitamin C wird aktiv in die neutrophilen Granulozyten transportiert und dort in 20 – 50 facher Konzentration gegenüber dem Plasma angereichert, wo es für die Chemotaxis der Zellen erforderlich ist. Die genügende Einnahme senkt das Risiko von Atemwegsinfektionen (13).
B-Vitamine
Die meisten B-Vitamine sind als Kofaktoren im Energiestoffwechsel oder der Proteinsynthese erforderlich, somit auch bei den meisten immunologischen Vorgängen. Die spezialisierten Zellen des Immunsystems können ihre Funktion deshalb bei einem Mangel nur beschränkt, wenn überhaupt, ausüben (14).
Fazit
Schon früh hatten Wissenschaftler das Gesundheitspotential der Vitamine erkannt und deshalb die Bedarfsermittlung nicht auf die Verhinderung einer Mangelkrankheit abgestützt, sondern auf biologische Marker, deren Werte für einen optimalen Stoffwechsel bekannt sind. Die so empfohlenen Tagesdosen genügen in den allermeisten Fällen, lediglich wenn möglichst schnell ein Mangel behoben werden soll, sind höhere Dosen angebracht. Schon wenige Jahre nach der Entdeckung konnte ein grosser Teil der Vitamine chemisch hergestellt werden, was die NZZ am 7.9.1946 folgendermassen kommentierte: «Durch die künstliche Herstellung der Vitamine lassen sich die für die Humanmedizin notwendigen Mengen beschaffen.» Das Ziel war klar, die Bevölkerung sollte von den neuen Erkenntnissen profitieren.
Ein schwerer Vitaminmangel führt zu den bekannten Mangelkrankheiten wie Skorbut, Rachitis, Beriberi, usw. Bei einer chronischen Unterversorgung treten diese Krankheiten zwar nicht auf, aber ein geschwächter Organismus wird u.a. anfälliger für virale Anfälle. Eine ungenügende Versorgung mit Vitaminen könnte demnach ein Risikofaktor für einen schweren COVID-19-Verlauf sein sowie den Erfolg einer Impfung gefährden.
In zahlreichen, Interventionsstudien wird gegenwärtig untersucht, ob die Verabreichung eines Vitamins, z.B. Vitamin D, den Verlauf einer COVID-19 Infektion günstig beeinflussen könnte. Dabei werden in der Regel Patienten anhand ihrer Krankheit rekrutiert, nicht aber nach ihrem Vitamin Status. Einem Probanden mit bekanntem Vitamin Mangel könnte man sicher kein Placebo verabreichen. Ist zudem ein oder mehrere andere Vitamine im kritischen marginalen Bereich, wird die Wirkung der getesteten Substanz womöglich maskiert. Somit sind klinische Studien, in denen einzelne Vitamine wie Medikamente getestet werden sollen, nur sehr beschränkt aussagekräftig, man müsste alle Vitamine berücksichtigen (15). In den meisten Fällen würde es ausreichen, wenn man ein bekanntes Defizit gemäss den oben erwähnten Empfehlungen ausgleichen würde. Anhand von Markern kann man zwar den Vitamin Status genau bestimmen, aber oft genügt ein Blick auf die Ernährungsgewohnheiten, um einen Mangel zu vermuten. Die meisten Vitamine weisen eine weite Spannbreite zwischen Wirkdosis und möglicher Überdosierung auf, sodass die Verabreichung der empfohlenen Mengen problemlos erfolgen kann.
Dazu sollte aber die Ausbildung von Fachpersonen intensiviert werden. Leider lehnte der Bundesrat am 30.9.2002 eine Motion vom damaligen Nationalrat Felix Gutzwiller ab, worin dieser am 21.3.2002 die Förderung der Ernährungsinformation, -erziehung und –ausbildung forderte. U.a. verlangte er die Errichtung eines Vollzeitstudiums Humanernährung und die Schaffung von Postgraduate-Ausbildungsgängen für Mediziner im Bereich der Humanernährung.
Bedauerlicherweise ist es oft dem Zufall überlassen, ob ein banaler Vitaminmangel erkannt wird und behoben werden kann. Hier liegt ein grosses Sparpotential für die medizinische Versorgung brach. In einem Punkt liegt Herr Villiger genau richtig: Vitamine als Nahrungsergänzungsmittel sollen bei einem Vitaminmangel eingesetzt werden; nur wird letzterer zu oft nicht erkannt.
Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG
Holbeinstrasse 85
4051 Basel
ulrichkmoser@bluewin.ch
Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
◆ Vitamine sind Hilfssubstanzen, die mit der Nahrung aufgenommen werden müssen.
◆ Schwerer Vitaminmangel führt zu Vitaminmangelkrankheiten, chronischer Vitaminmangel zu Beeinträchtigungen des Stoffwechsels.
◆ Chronischer Vitaminmangel führt somit auch zu einer Schwächung des Immunsystems.
◆ Ungenügende Vitaminzufuhr kann leicht mit Supplementen behoben werden.
◆ Die Dosierung sollte sich nach den Ernährungsempfehlungen richten; hohe, therapeutische Dosen sind lediglich in Ausnahmefällen angezeigt.
1 Bärlocher K. Vitaminmangel am Beispiel der Folate. der informierte @rzt. 2021; 11 Ausgabe 7Juli
2. Walter P, Infanger E, Mühlemann P. Food Pyramid of the Swiss Society for Nutrition. Ann Nutr Metab 2007;51(suppl 2):15–20
3. Rohrmann S, Pestoni G, Krieger JP, Faeh D, Sych J, Chatelan A, Bochud M. menuCH – wie ernährt sich die Schweiz? Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 1, 2020 20-22
4. Huang Z, Yu Liu Y, Qi G, Brand D, and Zheng SG. Role of Vitamin A in the Immune System. J Clin Med. 2018; 7(9): 258. doi: 10.3390/jcm7090258.
5. Charoenngam N, Holick MF. Immunologic Effects of Vitamin D on Human Health and Disease. Nutrients. 2020 Jul 15;12(7):2097. doi: 10.3390/nu12072097.
6. Panagiotou G, Tee SA, Ihsan Y, Athar W, Marchitelli G, Kelly D, Boot CS, Stock N, Macfarlane J, Martineau AR, Burns G, Quinton R. Low serum 25- hydroxyvitamin D (25[OH]D) levels in patients hospitalized with COVID-19 are associated with greater disease severity. Clin Endocrinol (Oxf). 2020 Oct;93(4):508-511.
7. Annweiler C, Hanotte B, Grandin de l’Eprevier C, Sabatier JM, Lafaie L, Célarier T. Vitamin D and survival in COVID-19 patients: A quasi-experimental study. J Steroid Biochem Mol Biol. 2020 Nov;204:105771. doi: 10.1016/j.jsbmb.2020.105771. Epub 2020 Oct 13. PMID: 33065275; PMCID: PMC7553119.
8. Sooriyaarachchi P, Jeyakumar DT, King N, Jayawardena R. Impact of vitamin D deficiency on COVID-19. Clin Nutr ESPEN. 2021 Aug;44:372-378. doi: 10.1016/j.clnesp.2021.05.011. Epub 2021 May 29. PMID: 34330492; PMCID: PMC8164501.
9. Chiu SK, Tsai KW, Wu CC, Zheng CM, Yang CH, Hu WC, Hou YC, Lu KC, Chao YC. Putative Role of Vitamin D for COVID-19 Vaccination. Int J Mol Sci. 2021 Aug 20;22(16):8988. doi: 10.3390/ijms22168988. PMID: 34445700; PMCID: PMC8396570.
10. Lee GY, Han SN. The Role of Vitamin E in Immunity. Nutrients. 2018 Nov 1;10(11):1614. doi: 10.3390/nu10111614. PMID: 30388871; PMCID: PMC6266234.
11. Beck MA, Kolbeck PC, Rohr LH, Shi Q, Morris VC, Levander OA. Vitamin E deficiency intensifies the myocardial injury of coxsackievirus B3 infection of mice. J Nutr. 1994 Mar;124(3):345-58. doi: 10.1093/jn/124.3.345. PMID: 8120653.
12. Tutusaus A, Marí M, Ortiz-Pérez JT, Nicolaes GAF, Morales A, García de Frutos P. Role of Vitamin K-Dependent Factors Protein S and GAS6 and TAM Receptors in SARS-CoV-2 Infection and COVID-19-Associated Immunothrombosis. Cells. 2020;9(10):2186. Published 2020 Sep 28. doi:10.3390/cells9102186
13. Liugan M, Carr AC. Vitamin C and Neutrophil Function: Findings from Randomized Controlled Trials. Nutrients. 2019 Sep 4;11(9):2102. doi: 10.3390/nu11092102. PMID: 31487891; PMCID: PMC6770220.
14. Peterson CT, Rodionov DA, Osterman AL, Peterson SN. B Vitamins and Their Role in Immune Regulation and Cancer. Nutrients. 2020 Nov 4;12(11):3380. doi: 10.3390/nu12113380. PMID: 33158037; PMCID: PMC7693142.
15. Moser U. Vitamins – wrong approaches. Int J Vitam Nutr Res. 2012 Oct;82(5):327-32. doi: 10.1024/0300-9831/a000127. PMID: 23798051.
der informierte @rzt
- Vol. 11
- Ausgabe 11
- November 2021