- Vitaminmangel am Beispiel der Folate
Ein Vitaminmangel ist anzunehmen, wenn die Versorgung einer Person mit diesem lebenswichtigen Mikronährstoff über längere Zeit zu gering und damit ungenügend ist. Dies kann sich in bekannten Krankheiten äussern wie beim Vitamine D (Rachitis) oder Vitamin C (Skorbut). Die Ernährungserhebung 2017 in der Schweiz sowie deutsche und europäische Studien zeigen, dass ein grosser Teil der Bevölkerung mit einzelnen Vitaminen unterversorgt ist.
Heute werden 13 für den Stoffwechsel unabdingbare Substanzen aus historischen Gründen als Vitamine bezeichnet. Bei einer ausgewogenen Ernährung, wie sie anhand der Lebensmittelpyramide der Schweiz. Gesellschaft für Ernährung (SGE) und des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) empfohlen wird, werden genügend Vitamine aufgenommen. Leider ist dies nur bei einem geringen Anteil der Bevölkerung der Fall, wie in der 2017 publizierten Ernährungsstudie «menue-CH» gezeigt wurde (1). Daraus lässt sich schliessen, dass ein grosser Teil der Bevölkerung ungenügend mit einzelnen Vitaminen versorgt ist. Insbesondere trifft dies für Folsäure, Vitamin D und B12 zu, wie dies auch deutsche und europäische Studien zeigen (2).
Referenzwerte, Wirkung, Verwertung, Mangel und Überdosierung
Seit der Entdeckung der Vitamine in den Jahren 1909-1941 haben sich die Kenntnisse über die einzelnen Vitamine so vermehrt, dass heute Referenzwerte für den täglichen Bedarf, Wirkung, Verwertung sowie Mangel- und Überdosierungserscheinungen bei allen Vitaminen bekannt sind (Tab. 1) (3). Neueste Erkenntnisse betreffen v.a. epigenetische Einflüsse, insbesondere von Vitamin D oder Folsäure, und Wirkungen im Zusammenhang mit dem Mikrobiom.
Die einzelnen Referenzwerte der Vitamine wurden durch wissenschaftliche Studien bestimmt oder durch Schätzungen festgelegt. Es handelt sich dabei um eine Verteilkurve mit einer optimalen Zufuhr und solchen im unteren oder oberen Normbereich mit Grenzwerten, da der Bedarf je nach körperlicher Verfassung, Leistung und Lebensstil schwanken kann (4). Durch gezielte Ernährungserhebungen von Bevölkerungsgruppen bei Gesundheitsanalysen ist es möglich, die Versorgung nach Altersgruppen, Regionen oder speziellen Fragestellungen zu bestimmen und bei Mangel entsprechende präventive Massnahmen einzuleiten. Indem epidemiologische Studien Personen mit einer Zufuhr im unteren Bereich und solche mit einer Zufuhr im oberen Bereich vergleichen, lassen sich allenfalls unterschiedliche Gesundheitsfaktoren finden, die auf einen marginalen oder subklinischen Vitaminmangel hinweisen. Dabei bestehen meist nur sogenannte Allgemeinsymptome, während sich die typischen Mangelsymptome erst bei einem markanten Vitaminmangel zeigen (4).
Manche Vitamine benötigen für ihre Aufnahme in die Zellen spezielle Rezeptoren und Transportproteine und müssen für die Wirkung in eine aktive Form umgewandelt werden. Diese Vorgänge können durch genetische und andere Faktoren beeinflusst werden und führen so zu Vitaminmangel (so genannter funktioneller Mangel). Dabei kann das ursprüngliche Vitamin, wenn es als solches im Blut bestimmt wird, normal sein. In Tabelle 2 sind die aktiven Wirksubstanzen und die für den Nachweis eines Vitaminmangels im Blut messbaren Wirksubstanzen und andere Indikatoren (Biomarker) zusammengefasst.
Verdacht auf Vitaminmangel
In der Praxis wird der Arzt bei entsprechenden Symptomen eines Patienten einen Vitaminmangel in Betracht ziehen und in der Folge die entsprechenden Untersuchungen zur Bestätigung der Diagnose einleiten. Dies kann einerseits durch eine Ernährungsanamnese oder eine Bestimmung des Vitamins im Blut, in Körperflüssigkeiten und Geweben sein oder kann mit anderen Indikatoren (Biomarkern) erfolgen (Tab. 2).
Steht ein Vitaminmangel fest, erhebt sich die Frage der Ursache eines solchen Mangels. Diese kann vielschichtig sein (Tab. 3). Neben einer Mangelernährung oder einseitigen Ernährung können auch ein erhöhter Bedarf bei Wachstum, Schwangerschaft und sportlichen Leistungen, sowie Einflüsse von Rauchen, Alkohol und Medikamenten von Bedeutung sein. Verluste bei Lagerung und Zubereitung wie auch Krankheiten, v.a. des Darms, können die Aufnahme behindern. Beim funktionellen Mangel fehlt oder ist die Wirkung des aktiven Vitamins reduziert, auch wenn die Nahrungsaufnahme normal erfolgt.
Die Vielschichtigkeit der Ursachen eines Vitaminmangels soll im Folgenden am Beispiel der Folate dargestellt werden.
Folate
Natürlicherweise vorkommende Folatverbindungen (Folate) finden sich in tierischen und pflanzlichen Lebensmitteln. Sie bestehen aus einem Pteridin- und einem Para-Aminobezoesäure-Ring mit bis zu 8 Glutamatresten am Carboxylende (Pteroylpolyglutamate). Sie sind gegen Licht, Sauerstoff und Hitze empfindlich und zerfallen in verschiedene Abbauprodukte. Es ist deshalb mit Lagerungs- und Zubereitungsverlusten zu rechnen. Die aktive Absorption im Darm nach Hydrolyse zu Monogluta-maten beträgt 50-60% (4). Die synthetische Folsäure (FS),
die zur Nahrungsergänzung und als Medikament eingesetzt wird, hat nur einen Glutaminsäurerest (Monoglutamat). Sie ist die stabilste Form des Vitamins, wird durch äussere Einflüsse wenig verändert und nüchtern zu annähernd 100% absorbiert. Wegen der unterschiedlichen Zusammensetzung und Absorptionsrate der Folate und FS wurde für die praktische Bedarfs- und Zufuhr-Berechnung der Begriff Folat-Äquivalent (FÄ) eingeführt: 1 FÄ = 1µg Nahrungsfolat = 0.5µg synth.FS = 0.6µg FS der Nahrung zugesetzt.
Wirkung der Folate
Folate wirken in der Form von Tetrahydrofolat (THF) und dessen Derivaten (5-Methyl-THF und 5,10 Methylen-THF) als Coenzyme, die C1 (Methyl)–Einheiten binden und auf Akzeptoren übertragen (so genannte C1-Donatoren). Sie sind an der Purin- und Pyrimidinsynthese wie auch an der DNS-Synthese und RNS- und DNS-Methylierung beteiligt und haben damit für Zellteilung, Zellwachstum, Zelldifferenzierung und Zellregeneration wichtige Bedeutung (Abb. 1) (5).
Versorgung mit Folaten
Diese erfolgt am besten durch eine ausgewogene Ernährung mit viel Obst und Gemüse. Besonders folatreich sind Leber, rohe Grüngemüse wie Grünkohl, Erbsen, Spinat und Salate. Nach Angaben in den schweizerischen Ernährungsberichten (4./5/.6./1998 – 2012) ist die Zufuhr grenzwertig (295µg /Tag) (6) oder bei manchen Altersgruppen (v.a. Jugendliche und Senioren) unter den Empfehlungen (D-A-CH-Referenzwert 300µg, bis zum Jahr 2015 400µg pro Tag). Serumfolatkonzentrationen < 7nmol/l sind als Folatmangel definiert, Werte < 10nmol/l gelten als subklinischer Mangel (Umrechnung in µg/l durch Division mit 2.266) (4). Besonders für Schwangere und Stillende wird mit einer ausgewogenen Ernährung der Bedarf von 550µg und 450µg/Tag nicht erreicht. Deshalb wird zur Verhütung eines Neuralrohrdefekts (NRD) für Frauen, die schwanger werden können oder möchten, eine zusätzliche tägliche Einnahme von mind. 400µg FS (am besten als Multivitamin) mindestens 4 Wochen vor Beginn der Schwangerschaft und in den ersten 12 Schwangerschaftswochen empfohlen (7). Eine Untersuchung in der Ostschweiz im Jahre 2002 zeigte, dass 97 % der Frauen in der Schwangerschaft Folsäure-Supplemente einnahmen, aber nur 37% bereits 4 Wochen vor Beginn und in den ersten 4 Wochen der Schwangerschaft (8). Dies ist wichtig, weil sich das Neuralrohr aus der Neuralplatte vom 18. – 26. Tag der Schwangerschaft entwickelt. In einer Untersuchung der Erythrocyten-Folat-Werte bei schwangeren Frauen im Jahre 2019 erreichten nur 47% einen Folatwert, der für eine Prävention des offenen Rückens erwünscht wäre (906 nmol/L) (9) Das BAG hat im Jahre 2008 mit der Broschüre «Folsäure ist unentbehrlich für die normale embryonale Entwicklung des Kindes» auf wichtige Aspekte zur Verhütung von NRD und andern Fehlbildungen wie Herzfehler oder Lippen-Kiefer-Gaumenspalten hingewiesen (10) und auch die Stiftung Folsäure Schweiz (SFS) versucht, die Bevölkerung über die optimale Zufuhr der Folsäure zu informieren und hat erreicht, dass in Zusammenarbeit mit ihren Partnern einzelne Nahrungsmittel mit Folsäure angereichert werden (11). Leider kann eine zu hohe Zufuhr von Folsäure auch gewisse negative Folgen haben (siehe unten) so dass die tägliche Zufuhr nicht über 1mg /Tag betragen sollte (12).
Verwertung der Folate
In der Darmmucosa wird Folsäure zu THF reduziert und methyliert und so an das Blut abgegeben. Die Kapazität dieser Umwandlung zu 5-Methyltetrahydrofolat (5-MTHF) ist beschränkt, so dass bei hoher Zufuhr auch unmetabolisierte freie FS ins Blut gelangen kann. Diese wird zu Dihydrofolat umgewandelt. Die Leber ist Hauptstoffwechsel- und Hauptspeicherorgan von Folat und reguliert die Versorgung der anderen Organe (4). Der intrazelluläre Transport erfolgt über verschiedene Transportsysteme (Tab. 4). Es sind dies «Carrier-, Rezeptor- und Transporter-vermittelte» Prozesse, bei denen auch genetische Defekte bekannt sind, wie z.B. die hereditäre Folatmalabsorption oder der cerebrale Folatmangel (13). Die Gesamt-Folatmenge im Körper beträgt 10-100 mg, wobei 3-16 mg in der Leber gespeichert sind. Diese Körperreserven gewährleisten bei fehlender Einnahme eine wünschenswerte Serum-Folatkonzentration über 3-4 Wochen (4). In Abb 1 ist die Bedeutung der FS für den Homocystein (Hcy)–Methionin–Stoffwechsel ersichtlich, bei dem auch andere Vitamine, B2, B6 und B12, beteiligt sind. Dabei ist auch die besondere Bedeutung der FS als Methyl (C1-) Donator erkennbar.
Die Methylierung von DNS/RNS ist ein wichtiger epigenetischer Faktor. Bei der 5,10-MTHF-Reduktase bestehen verschiedene Polymorphismen (z.B. MTHFR C677T), die mit einer verminderten Enzymaktivität verbunden sind und damit den Folatbedarf der Betroffenen erhöhen. Der Folatmangel kann – wie ersichtlich – zu einer verminderten Umwandlung von Hcy zu Methionin und damit zu einer Erhöhung von Hcy führen, was auch indirekt auf einen Folatmangel hinweist neben der direkten Bestimmung der Folate im Serum (Momentanwert) oder in den Erythrocyten (Speicherwert). Hereditäre Defekte der aufgezeigten Enzyme sind bekannt, aber selten, und führen zu deutlichen Entwicklungsstörungen bei den betroffenen Kindern.
Präventive Aspekte der Folsäure
Neben der bedeutenden präventiven Bedeutung der Folsäure (FS) zur Verhütung von Neuralrohrdefekten (NRD) sind bei FS auch Risiken bekannt für chronische Krankheiten, die mit einer Erhöhung von Hcy einhergehen, wie bei kardiovaskulären Krankheiten und Schlaganfall oder Depressionen. Auch eine Risikosenkung durch FS bei neurodegenerativen Krankheiten wurde diskutiert (14). Tabelle 5 fasst einige präventive Aspekte der FS zusammen (15). Insbesondere in der Schwangerschaft (SS) und in den beiden ersten Lebensjahren können sich epigenetische Veränderungen (DNS-Methylierung) auswirken. So haben epidemiologische Untersuchungen in nordischen Ländern mit Mutter-Kind-Paaren mit niedrigem Folatspiegel in der SS ein erhöhtes Risiko für Autismus oder ADHS bei den Kindern gezeigt (16). Zahleiche Arbeiten weisen auf eine präventive Wirkung der FS bei Depressionen und Demenz im Alter hin (14).
Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG
Tanneichenstrasse 10
9010 St. Gallen
k.baerlocher@bluewin.ch
Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Stiftung Folsäure Schweiz.
◆ Bei Arbeiten über die Versorgung mit Folsäure, Vitamin B12 und D wird immer wieder auf einen Mangel in bestimmten Bevölkerungsgruppen hingewiesen.
◆ Die Ursachen für einen Mangel können vielschichtig sein. Eine besondere Bedeutung haben funktionelle Mängel, bei denen – meist durch genetische Faktoren – das aktive Vitamin im Organismus nicht oder nur zu wenig gebildet werden kann.
◆ Folate sind ein gutes Beispiel, um die verschiedenen Ursachen eines Vitaminmangels und auch die präventive Bedeutung eines Vitamins aufzuzeigen. Beispiel dafür ist die Verhütung von NRD bei Frauen, die schwanger werden können oder möchten durch die tägliche Supplementierung von mindestens 400µg Folsäure während der prä- und perikonzeptionellen Phase und in den ersten 12 Schwangerschafts-
wochen.
◆ Bei unausgewogener Ernährung und entsprechenden Symptomen kann sich eine Vitaminsubstitution als hilfreich und präventiv erweisen.
1. Chatelan A, Beer-Borst S, et al. Major Difference in Diet across Three Linguistic Regions of Switzerland; results from the First National Nutrition Survey menueCH. Nutrients 2017, 9, 1163
2. Boeing H, Bechtold A et al. Gemüse und Obst in der Prävention ausgewählter chronischer Krankheiten. DGE, Bonn 2012
3. Baerlocher K. Vitamine: Lebenswichtig für Stoffwechsel und Energiegewinnung. Der informierte Arzt 2014, 5; 14-19
4. D-A-CH Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr, DGE, Bonn 2017
5. Tönz O. Das präventive Potential der Folsäure In: Eichholzer M, Camenzind.-Frey E, Matzke A et al. Fünfter Schweiz. Ernährungsbericht. Bundesamt für Gesundheit, Bern 2005; 597-621
6. Schweizerische Ernährungsberichte (SEB) 1998, 2005, 2012, Bundesamt für Gesundheit (BAG) Bern
7. Baerlocher K, Eichholzer M, Lüthy M et al. Folsäure Expertenbericht der Eidg. Ernährungskommission zur Prophylaxe von Neuralrohrdefekten. Bundesamt für Gesundheit, Bern 2002
8. Jans-Ruggli S, Baerlocher K. Kenntnisse über Folsäure und Folsäurestatus bei Müttern; häufige Einnahme von Folsäuresupplementen, aber ungenügende Prävention von Neuralrohrdefekten. Sechster Schweiz. Ernährungsbericht, Bundesamt für Gesundheit, Bern, 2005;71-86
9. Herter- Aeberli I, Wehrli N, Bärlocher K et al. Inadequate Status und Low Awareness of Folate in Switzerland – A Call to Strengthen Public Health Measures to Ensure Sufficient Intakes. Nutrients 2020, 12, 3729
10. Bundesamt für Gesundheit: «Folsäure ist unentbehrlich für die normale Entwicklung des Kindes», Broschüre BAG, Bern 2008
11. Stiftung Folsäure Schweiz: https://stiftung-folsaeure.ch
12. Baerlocher K: Folsäure perikonzeptionell und in der Schwangerschaft. Einfluss auf die kindliche Entwicklung SZE (Schweiz Zschr Ernährung) 2012,3; 9- 14
13. Compan Gabucio LM, Garcia de la Hera M et al. The Use of Lower or Higher Than Recommended Doses of Folic Acid Supplements during Pregnancy Is Associated with Child Attentional Dysfunction at 4-5 years of Age in the INMA Project. Nutrients, 2021, 13, 327
14. Smith AD, Refsum H. Homocysteine – from disease biomarker to disease prevention. J Internal Medicine 2021
15. Baerlocher K. Die vielfältigen gesundheitlichen Vorteile einer ausreichenden Folsäure-Zufuhr. Hausarztpraxis 2014; 9: 28-34
16. DeVilbiss EA, Magnusson C et al. Antenatal nutritional supplementation and autism spectrum disorder in the Stockholm youth cohort: Population based cohort study. BMJ 2017; 359: j4273
der informierte @rzt
- Vol. 11
- Ausgabe 7
- Juli 2021