- Von einer Waldstätte zur andern
Der Weg folgt bergwärts einer Geländerippe. Im Wald kommen wir an einer kleinen Wegkapelle und dem grossen Stallgebäude von Saree vorbei, das früher auf freier Weide lag. Am Rand der Lichtung des Maiensässes Vèld oder Valdo di Gerra treffen wir auf dessen erste Häusergruppe mit verfallendem Wohnhaus und Stall, die bereits wieder vom vordrängenden Wald eingenommen ist. Die weiteren Maiensässgruppen finden sich über die Lichtung verstreut, die mehr als 200 Höhenmeter den Hang hinaufzieht (Abb. 1). Der Weg steigt zuerst in westlicher Richtung zu Häusern auf, die dicht am Geländeeinschnitt des Riale della Conscina liegen. Hier lohnt der kurze Abstecher zur Abbruchkante mit Blick in die Schlucht und zu den gegenüberliegenden Maiensässen. Der Riale della Conscina ist bei anhaltendem Starkregen wegen seiner alles zerstörenden Murgänge gefürchtet. Schon mehrmals hat er die Talstrasse unten im Dorf verschüttet. Auf den offenen Wiesen von Valdo droht bei Gewittern der Blitzschlag, der hier auch schon einmal in einen Kamin eingeschlagen hat. Ein wildes Tal, dessen Naturgewalten nicht unterschätzt werden sollten.
Bei den nächsten, etwas höher unter mächtigen Bäumen gelegenen Häusern wählen wir den Hangweg zum nördlichen Rand der Lichtung und den Häusern von A scima ar Córt. Bei der Bergstation der Materialseilbahn biegt der Pfad in die Schlucht des Riale di Motóm ein, quert hinüber zum Bachbett der Valletta und weiter nach Valdone bzw. Valdo di Frasco. Auch der Valletta-Bach kann bei starkem Niederschlag gefährlich werden. Durch dessen Rinne fahren in schneereichen Wintern zudem mächtige Lawinen zu Tal, die hoch oben an der Cresta di Cazzai anreissen.
Auch auf der weiten Lichtung von Valdo di Frasco liegen die Maiensiedlungen weit verstreut (Abb. 2). Die Häuser wurden eng aufeinandergebaut, um möglichst wenig der ohnehin kargen landwirtschaftlichen Nutzflächen zu beanspruchen. Über den beiden Waldstätten liegen noch weitere Maiensiedlungen, Conscina mit mehreren Stufen auf dem Gemeindegebiet von Gerra, Cazzai auf jenem von Frasco. Schaut man hier bergwärts, erkennt man nur eine hohe Felsstufe, auf der man keine Siedlung mehr vermuten würde. Der Weg dort hinauf windet sich luftig über Felsbänder.
Wir wenden uns diesmal talwärts Richtung Osten nach Valdign und Valdasc. Der Pfad windet sich in engen Kehren durch den heute dichten Buchenwald. Nach Kastanienbäumen hält man hier vergeblich Ausschau. Das Klima in der hinteren Valle Verzasca ist für diese zu rau. Die Bevölkerung von Gerra, Frasco und Sonogno war früher auf den Besitz von Kastanienbäumen ausserhalb des Tals an den Hängen über der Magadinoebene angewiesen, oder musste ihre Kinder Kastanien in Zehntelspacht in Hainen anderer Gemeinden sammeln lassen, um dieses wichtige Grundnahrungsmittel über den Winter in ausreichender Menge zur Verfügung zu haben.
Über ein kurzes Stück alsphaltierten Fahrweges erreichen wir die Talstrasse, der wir bis nach Croce folgen, der nördlichsten Fraktion von Gerra. Hier zweigen wir Richtung Fluss ab und queren diesen auf einer Hängebrücke zum Dorfteil Cortasc (Abb. 3). Es lohnt sich, hier Halt zu machen und die leider verfallenden Häuser näher anzusehen. Sie sind beredte Zeugen eines harten, aber erfindungsreichen Lebens im Kontext einer unerbittlichen Natur. Wenig später erreichen wir die südlich gelegene Fraktion Lorentino, wo wir über eine weitere Brücke zum Ausgangspunkt unserer Rundwanderung zurückkehren können (Abb. 4). Diese weit verstreute Anlage von Dörfern ist typisch für die Täler des Nordtessins. Die karge Natur zwang den Menschen, seine Siedlungen in der Nähe der wenigen nutzbaren Flächen anzulegen, was zu einer verstreuten Anlage der Dorfteile führte. Wer mehr über das Leben in diesen Tälern erfahren möchte, dem seien die Bücher Der Stammbaum von Piero Bianconi, Nicht Anfang und nicht Ende von Plinio Martini oder Die Kraft der Düra aus eigener Feder zur Lektüre empfohlen.
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