- «Wege zum künstlichen Pankreas»
In der Sitzung «Top Innovation Session» anlässlich des Frühjahrkongresses der SGAIM in Basel, die den medizintechnischen Fortschritten in der Diabetestherapie gewidmet war, referierte Prof. Dr. med. Roger Lehman, Zürich, über «Wege zum künstlichen Pankreas».
Was fehlt beim Typ 1 Diabetes? Im Pankreas gibt es 1 Million Pankreasinseln, welche von exokrinem Pankreasgewebe umgeben sind, das Gesamtgewicht beträgt 2 g, das Gesamtgewicht von Betazellen 1 g. Diese werden beim Diabetes zerstört, mit der Folge einer Neigung zu Ketoazidose. Pathogenetisch besteht eine geringe genetische Belastung, dann kommt es zu einer Autoimmunerkrankung – wobei auch heute nicht genau klar ist, was diese auslöst –, welche zu einer T-zellulären Zerstörung der gesamten Masse an Betazellen führt (Abb. 1).
Als Folge fehlt beim Typ 1 Diabetes der Glukosesensor und Insulin und dessen Ausschüttung ins Blut der Pfortader. Beide Faktoren sind für eine normale Blutzuckerkontrolle notwendig.

Zur modernen Therapie des Typ 1 Diabetes stehen verschiedene Strategien zur Verfügung wie Ersatz des Insulins, künstliche Glukose-Sensoren, Ersatz der Betazellen in Form von Inseltransplantation, Pankreastransplantation oder eben ein künstliches Pankreas. Die Strategien zur Beeinflussung der Autoimmunität und auch Stammzell/Gen-Therapien sind Ziele künftiger Forschung.
Die moderne Insulinersatztherapie versucht, das physiologische Sekretionsmuster von Insulin zu imitieren, einerseits mit einem lang wirksamen Basalinsulin und andererseits mit kurzwirksamen Insulinanaloga zu den Mahlzeiten (Abb. 2).

Das grösste Problem bei der Behandlung eines Diabetikers mit Insulin ist die Gefahr der Entwicklung von Hypoglykämien, und zwar steigt deren Inzidenz mit zunehmender Insulinbehandlungsdauer nach über 15 Jahren bis auf rund 50 %. Hypoglykämien sind gefährlich, sie führen zu Herzrhythmusstörungen bis zum Herzstillstand und damit zum Tod, andererseits führen sie über Entzündungsmechanismen und endotheliale Dysfunktion zu vaskulären Ereignissen und Tod. Am Beispiel eines 50-jährigen Mannes mit Typ 1 Diabetes seit 27 Jahren ohne Folgekomplikationen erläutert der Referent die Berechnung des Insulinbedarfs.
Weitere Fragen, die sich der behandelnde Arzt stellt, sind die Verteilung Basalinsulin/Essensinsulin, empfohlene Kohlenhydratemenge, Blutzuckermessung: wie?, Insulinapplikation: wie? Die Insulinverordnung geschieht in 3 Schritten, zuerst muss der Tagesinsulinbedarf berechnet werden, er liegt in den meisten Fällen zwischen 0,6-0,8 E / kg KG und Tag, bei einem neu entdeckten Diabetes 0,5 E. In der Pubertät ist wegen dem erhöhten Wachstumshormon der Bedarf mit 1,0-1,4 E deutlich höher (Abb. 3).

Im Beispiel des 50-jährigen Patienten wäre der Tagesinsulinbedarf 56 E. Der 2. Schritt ist die Bestimmung des Basisinsulins, welches 50 %, das heisst 28 Einheiten beträgt, der 3. Schritt die Bestimmung des Bolusinsulins, weitere 28 Einheiten oder rund 9 Einheiten pro Mahlzeit. Zu jeder Mahlzeit soll der Patient ca. 70 g Kohlenhydrate verspeisen, dazu muss er in der Lage sein, den Kohlenhydratgehalt von verschiedenen Mahlzeiten korrekt abzuschätzen. 10 g
Kohlenhydrate erhöhen den Blutzucker um ca. 2,0 mmol/l. Im gesamten Blutkreislauf befinden sich 4 g Glukose. Ohne korrektes Abwägen oder Schätzen der Kohlenhydrate ist eine gute Blutzuckereinstellung unmöglich. Im erwähnten Beispiel werden 28 E Essensinsulin für 210 g Kohlenhydrate benötigt. Daraus lässt sich der Kohlenhydratfaktor berechnen: 210/28 = 7,5 g Kohlenhydrate pro E Insulin. Zu Beginn einer Behandlung kann man mit 10 g Kohlenhydrate pro Einheit Insulin rechnen. Korrekturinsulin senkt den Blutzucker auf normale Werte. Es wird berechnet nach der Formel: 100-150 / Gesamtinsulin = 125 / 56 = 2,25 mmol/E, dabei ist zu berücksichtigen, dass das Korrekturinsulin den Blutzucker tagsüber schwächer senkt als in der Nacht, so dass der erwähnte Patient konkret tagsüber mit einer Einheit Insulin den Blutzucker um 2 und nachts um 3-4 mmol senken kann.
Bei konventionellen Insulinpumpen kann der physiologische Insulinbedarf durch Programmierung der stündlichen Insulinabgabe (kurzwirksames Insulin) individuell vorgegeben werden (Abb. 4).

Die Schulung der korrekten Anwendung einer klassischen Pumpentherapie umfasst Instruktion über die Basalrate, den Kohlenhydratfaktor, den Korrekturfaktor, den Blutzuckerzielbereich, der Wirkdauer von Insulin und den notwendigen Anpassungen bei Sport oder Krankheit. Bei Pumpen, welche von einem Glukosesensor unterstützt werden, können neben den basalen Funktionen (Basis Insulinpumpe: Basalrate, Bolus, Korrekturbolus) Funktionen für postprandiale Glukose (Bolus Expert mit Kohlenhydratfaktor und Korrekturfaktor) benutzt werden und erweiterte Funktionen mit kontinuierlicher Blutzuckermessung.
Was ist ein künstliches Pankreas? Es besteht aus einer Insulinpumpe, einem Glukosesensor und einem Computer. Zur kontinuierlichen Glukosemessung wird ein feiner Metallkatheter in die Subcutis eingebracht, wo die Messung im interstitiellen Gewebe erfolgt. Das führt zu einer gewissen Verzögerung gegenüber einer Messung direkt im Gefäss. Es gibt heute Systeme, die punktweise oder aber kontinuierlich Blutzucker messen. Neuere Systeme können mit einer Pumpe gekoppelt werden, diese müssen obligatorisch kalibriert werden. Schliesslich gibt es implantierbare Systeme, die sich bis heute jedoch nicht bewährt haben. Moderne Sensor-unterstützte Pumpen mit prädiktiver Hypoglykämie-Abschaltung erlauben, Hypoglykämien weitgehend zu vermeiden (Abb. 5).

Die aktuell neuesten halbautomatischen Pumpen, die für Patienten mit Typ 1 Diabetes älter als 14 Jahre zugelassen sind, kommen ohne definierte Basalrate aus. Der Glukosesensor misst und der Computer berechnet, wie viel Insulin benötigt wird, um einen normalen Blutzuckerspiegel aufrecht zu erhalten. Mit diesem System gelingt es, den Zielbereich von 3,9-10 Millimol pro Liter in 3/4 der Fälle zu erreichen, im Vergleich zu 2/3 bei älteren Pumpensystemen. Hypoglykämien konnten von 1,0 auf 0,6 % reduziert werden. Bei 75 % aller behandelten Patienten resultierte ein besseres HbA1c, so hatten über die Hälfte ein HbA1c unter 7 %, im Vergleich zu rund einem Drittel mit den alten Systemen. Die Handhabung dieser neuen halbautomatischen Pumpen ist grundsätzlich einfacher, jedoch ist die Kenntnis der Kohlenhydratfaktoren entscheidend. Unter dem Motto «ohne Kenntnis der Kohlenhydratemenge keine Kontrolle des Blutzuckers» muss der Patient in der Lage sein, den Kohlenhydratgehalt seiner Mahlzeiten exakt zu erfassen. Dazu ist es unerlässlich, den Kohlenhy-dratanteil einzelner Nahrungsmittel zu kennen. Müsli, Mehl und Haferflocken bestehen zu 2/3 aus Kohlehydraten, Brot 1/2, Reis und gekochte Teigwaren 1/4, Kartoffeln 1/7, Früchte 1/10, Milch, Joghurt Nature 1/20, Gemüse, Fleisch, Fett 0. Heute sind Projekte wie GoCarb in Entwicklung, welche eine automatische Erkennung von Kohlenhydraten erlauben, zum Beispiel mit Fotografie von Essen aus 2 Winkeln oder Apps mit Segmentation, Nahrungserkennung und 3-D Rekonstruktion (Abb. 6).

Da die ganze Insulinausschüttung von der korrekten Bestimmung des Blutzuckers abhängt, muss zusätzlich der Sensor 2- bis 3-mal kalibriert werden. Abschliessend legt der Referent Wert auf folgende Punkte: Technik kann immer versagen, deshalb braucht es für den Notfall eine eingehende Schulung. Empathie, Motivation und Individualisierung sind heute von grösster Bedeutung. Offenheit gegenüber Technologie und Verständnis ist die Grundvoraussetzung für die Diabetestherapie der Zukunft.
Als Ausblick in die Zukunft präsentiert der Referent die bahnbrechende Entdeckung einer Subpopulation von Lymphozyten bei Patienten mit Typ 1 Diabetes, welche sowohl B-Zell- wie auch T-Zell-Rezeptoren exprimieren. Diese Zellen codieren für ein Peptid, welches mit 1000-fach höherer Affinität als Insulin an Antigen- präsentierende Zellen bindet. Diese präsentieren das Peptid den T-Zellen, welche in Folge expandieren und die Betazellen zerstören. Wenn hier ein therapeutischer Ansatz gefunden würde, könnte eventuell auch die Autoimmunität behandelt werden.
Facharzt FMF Innere Medizin und Gastroenterologie
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