Editorial

Wer entscheidet über die Zumutbarkeit ­einer Therapie?



Die Präimplantationsdiagnostik ist ein noch junges, spannendes Gebiet. Auf den ersten Blick scheinen die gesetzlichen Vorgaben in Bezug auf die Fortpflanzungsmedizin (FMedG) klar und sind doch beim näheren Betrachten unscharf.

Eine junge Frau ist heterozygote Trägerin einer MLH1-Mutation. Solche Mutationen sind für ein hochpenetrantes Lynch-Syndrom verantwortlich, welches mit einem Lebenszeitrisiko von über 75-85 % für Kolon- und/oder Endometriumkarzinom, sowie einem relevant erhöhten Risiko für weitere Karzinome einhergeht. Die Mutter der Patientin ist mit 46 Jahren an einem metastasierenden Kolonkarzinom verstorben; die Krankheitsgeschichte und der Verlust der Mutter sind für die Patientin prägend. Die empfohlenen häufigen Surveillance Untersuchungen und die präsente Tumor­angst bei einem ungewissen Restrisiko sind belastend. Diese Belastung möchte sie ihren Nachkommen möglichst nicht zumuten und entscheidet sich für eine In-vitro-Fertilisation (IVF) und eine gezielte Testung der Embryonen auf die für das Lynch-Syndrom bekannte Genmutation MLH1. Dieser Entscheid ist gut nachvollziehbar und international besteht ein breiter Konsens, dass P/LP-MLH1-Mutationen für eine PGT-M (Präimplantations-Gentest zur Erkennung von monogenen Krankheiten) qualifizieren. Wo liegt also das Problem?

Die gesetzlichen Bestimmungen in der Schweiz verlangen für eine PGT-M, dass es sich um eine vererbbare und schwere Krankheit handelt und diese vor dem 50. Altersjahr auftritt. Diese Bedingungen werden mit einem Lynch-Syndrom sicher erfüllt. Weiter verlangt das Gesetz, dass für die Krankheit keine wirksamen und zweckmässigen Therapieoptionen vorliegen. Dieser Punkt kann kontrovers diskutiert werden und zeigt die Unschärfe der gesetzlichen Vorgaben. Grundsätzlich gibt es wirksame und zweckmässige Vorsorgeuntersuchungen und Therapieoptionen für Tumorerkrankungen, allerdings wissen wir auch, dass diese aufwändig, für die Patienten belastend und leider nicht immer erfolgreich sind. Ähnlich verhält es sich mit den BRCA1/2-Mutationen, welche mit einem im Vergleich zur Normalbevölkerung massiv erhöhten Brust- und Ovarialkarzinom einhergehen. Mit dem Argument, dass eine sorgfältige Vorsorgeuntersuchung und rechtzeitige bilaterale Mast-/Salpingo-Ovarektomie eine wirksame und zweckmässige Therapieoption darstellt, wird teilweise dem Wunsch nach einer PGT-M aus rechtlicher und medizinethischer Sicht nicht entsprochen.

In den 2022 verfassten Richtlinien zur PGT-M der NEK (Nationale Ethikkommission) steht, dass eine Therapie zweckmässig ist, wenn die Risiken und Belastungen der Therapie für die von der schweren Krankheit betroffene Person und für das Paar zumutbar sind. Wer bestimmt, was und für wen und in welcher Situation zumutbar ist?

Aus meiner langjährigen internistischen Tätigkeit weiss ich, dass ein Mammakarzinom oder Colonkarzinom nicht immer langfristig beherrscht werden kann, dass häufige Vorsorgeuntersuchungen wie z.B. beim Lynch-Syndrom grosse Sorgen und Unsicherheiten auslösen können und dass eine elektive bilaterale Mastektomie für die betroffene Frau eine massive emotionale Belastung darstellt.

In der Schweiz wird jeder einzelne Fall in einem individuellen PGT-M Board behandelt und gegebenenfalls auch über den Aspekt der Zumutbarkeit einer Therapie entschieden. In den UK wird von der Human Fertilization and Embryology Authority (HFEA) eine Liste mit über 600 Krankheiten/Mutationen geführt, welche für eine PGT-M qualifizieren, so dass vergleichbare Fälle gleich beurteilt werden. Und selbstverständlich gibt es auch Länder ohne jegliche Regulationen in Bezug auf genetische Testung von Embryonen.

Die genetische Testung von Embryonen muss ein unbedingt wichtiges gesellschaftliches und politisches Thema bleiben.
Eine Selektion von Embryonen mittels polygenetischer Testung (PGT-P) und Risikoscores sind bereits in diversen Ländern Realität und lassen aufhorchen. Auch mit der in der Schweiz erlaubten monogenetischen Testung müssen mit dem Wunschpaar sorgfältige Gespräche geführt werden und immer die Option offengelassen werden, dass nicht gleichzeitig auch eine Testung auf Aneuploidie (Abweichung der Chromosomenzahl) erfolgen muss. Aber es liegt mir sehr am Herzen, dass auch Gynäkologen, Onkologen und Internisten, welche die Belastung betroffener Patienten z.B. Lynch-Syndrom oder BRCA1/2-Mutation kennen, in die medizinethische Diskussion rund um Wirksamkeit und Zumutbarkeit einer Therapie miteinbezogen werden und möglichst eine einheitliche, transparente und rechtsgleiche Praxis in Bezug auf PGT-M in der Schweiz erreicht werden kann.

Dr. med. Vera Stucki-Häusler

Dr. med.Vera Stucki-Häusler

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Dr. med. Vera Stucki-Häusler
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  • Vol. 14
  • Ausgabe 4
  • April 2024