Medizin Forum

Schadet Testosteron den Männerherzen?

Zur aktuellen Kontroverse über Testosteronersatzbehandlung bei älteren Männern

Der Late-onset Hypogonadismus (LOH), auch als Alters-assoziiertes Testosterondefizit bekannt, ist ein klinisches und biochemisches Syndrom, charakterisiert durch Alter, Libidoverlust, erektile Dysfunktion, abnehmende Muskelkraft, vermehrtes Viszeralfett, Anämie und Stimmungsschwankungen. In diesem Artikel werden die aktuellen Kontroversen um Diagnose und Behandlung dieses Krankheitsbildes diskutiert.



Zahlreiche Studien belegen sowohl enge Zusammenhänge mit der Entwicklung eines Metabolischen Syndroms als auch Hinweise darauf, dass ein Testosterondefizit (TD) durch Störung des Lipidprofils und der glykämischen Kontrolle sowie Obesitas und vermehrte Freisetzung von Entzündungsmediatoren zu erhöhter Mortalität führt (1, 2, 3).
Die zunehmende Beachtung dieses Krankheitsbildes hat die Testosteronverschreibungen in den letzten Jahrzehnten um das Siebenfache hochschnellen lassen (4, 5). Studien schätzen, dass in den USA aktuell 2.4 Mio. Männer im Alter zwischen 40-60 Jahren einen LOH aufweisen und für 2025 werden 6.5 Mio. geschätzt (6, 7, 8). Zu tiefe Testosteronwerte sollen direkt oder indirekt für jährlich 1.3 Mio. neue Fälle kardiovaskulärer Erkrankungen, 1.1. Mio. neue Diabeteskranke und rund 600 000 Osteoporosefälle pro Jahr mitverantwortlich sein (das − oft schicksalhafte − Frakturrisiko dagegen scheint verminderten Serum-Estradiolwerten anzulasten zu sein (12)). Für die nächsten zwei Dekaden werden Kosten für das amerikanische Gesundheitswesen durch Testosteronmangel von bis zu 500 Milliarden USD entstehen (9).
Positive Effekte einer korrekten Testosteron-Ersatztherapie (TET) auf Insulinresistenz, Diabetes mellitus 2 (Dm2), Dyslipidämie, Zytokinbildung, Viszeralfettmasse, Hypertonie, subdepressive Verstimmungen, Knochenmineralisation und Muskelkraft sind in zahlreichen Studien längst und bestens belegt (10, 11). Eine Reihe beachtenswerter Untersuchungen belegen die engen Assoziationen zwischen tiefen Testosteronwerten und erhöhter Mortalität (13-20), respektive in nicht randomisierten Studien sogar eine reduzierte Mortalität unter TET bei Männern mit tiefen Testosteron-Spiegeln (21, 22). Leider aber wird Testosteron nach wie vor oft inadäquat verschrieben – oft sogar ohne vorgängige Hormonbestimmung (23).
Trotz all dieser positiven Erkenntnisse hat in den vergangenen Jahren eine heftige Kontroverse stattgefunden, die sich um die Frage der Sicherheit einer TET und ein möglicherweise erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse drehte. Die schwache Datenlage führte dazu, dass noch 2015 die FDA die TET nur bei kongenitalem Hypogonadismus und nicht beim LOH unterstützte. Damit fällt aber nur eine kleine Zahl von Patienten in diese Kategorie, während die erdrückende Mehrheit der Hormonmangelpatienten eben Komorbiditäten wie Dm2, Adipositas, metabolisches Syndrom aufweisen (8). Die Position der FDA, insbesondere ihre Forderung nach obligatem Warnhinweis auf ein CV Risiko einer TET, wurde allerdings rasch in Frage gestellt.
Basis für diese drastischen, staatlich verordneten Einschränkungen bei der Therapieempfehlung waren zwei Übersichtsartikel, die eine Gefährdung für CVE bzw. Schlaganfälle unter TET glaubten nachweisen zu können (24, 25). Sie lösten heftige Kontroversen und nachgeordnete Massnahmen aus und hallten – erwartungsgemäss – in der Laienpresse lange nach (26). Bereits 2014 fand die European Medicines Agency EMA in einem Review aber keine Hinweise auf eine erhöhte kardiovaskuläre Gefährdung unter Testosterontherapie und teilte ausdrücklich die Einschätzung der FDA nicht (27).
Obschon bei genauer Betrachtung beide Studien erhebliche fachliche und statistische Fehler aufwiesen (so wiesen beispielsweise behandelte Männer deutlich tiefere Testosteron-Basiswerte auf als die Kontrollen und die Kontrollgruppe in der einen Studie erhielt PD5-Hemmer mit bekannt positiver kardiovaskulärer Wirkung) und obschon gemeinhin Entwarnung gegeben wurde, sitzt in der Ärzteschaft die Verunsicherung immer noch tief und muss Anlass zu einer kritischen aktuellen Lagebeurteilung sein:

Kurzer geschichtlicher Abriss

  • Testosteron ist ein «junges» Hormon – nach seiner 1937 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten, chemischen Identifizierung (vor allen anderen durch Butenandt und Ruzicka in Zürich) wurde es sehr rasch therapeutisch eingesetzt. So berichten erste Studien bereits nach 1940 (28-31) über günstige Effekte von Testosteron auf periphere Gefässkrankheiten und Angina pectoris.
  • In der Folge erschienen zahllose Publikationen, die einerseits einem möglichen Risiko eines Testosteronmangels nachgingen und andererseits bereits früh die positiven Effekte eines entsprechenden Ersatzes belegten (32-34).
  • Erste ernsthafte Einwände gegen den therapeutischen Einsatz von T finden sich 2010 in einer Studie zur Auswirkung einer TET auf Muskelkraft und Mobilität älterer Männer: die Untersuchung wurde wegen vermehrten CVE im Vergleich mit der Plazebo-Gruppe frühzeitig abgebrochen (35).
  • 2013 verursachte die retrospektive National Cohort Study (24) enormen Publizitätswirbel durch Hinweise auf vermehrte Herzinfarkte, Schlaganfälle und Todesfälle unter TET. Obschon diese Studie wegen grober Fehler und paradoxer Einschätzung der Resultate heftig kritisiert wurde (36) und in der Folge einige Fachgesellschaften ihren Rückzug verlangten, wird sie vor allem in der Laienpresse immer noch unkritisch zitiert.
  • 2014 beobachteten Finkle und Mitarbeiter (25) in einer retrospektiven Kohortenstudie an 55 593 Patienten ein relativ erhöhtes Risiko für Herzinfarkte nach einer TET von 1.36 im Vergleich mit 167 270 Kontrollen. Allerdings basieren die Meldungen nicht auf ärztlicher Diagnose, sondern auf Versicherungsmeldungen, was allein bekanntlich mit einer Irrtumsrate von 12% behaftet ist (1). Komorbiditäten wurden schlichtweg nicht berücksichtigt und als Kontrollgruppe funktionierten Männer unter Medikation mit Phosphodiesterase-Hemmern Typ 5, also einer völlig abweichenden Indikation. Die FDA folgerte aus dem meist nur 30-90 Tage dauernden kurzen Therapieregime die Möglichkeit, dass Patienten nach diesen wenigen Wochen immer noch hypogonadal sein und das erhöhte CVE Risiko eben gerade durch zu tiefe Testosteronwerte bedingt sein könnte (37).
  • Seit 2005 kommen über 100, auch interventionelle klinische Studien zur Frage möglicher negativer Korrelationen von TET und CVE (exzellent zusammengestellt in der Übersicht von Clavell-Hernandez und Wang (34)) zum Schluss, dass keine Korrelation besteht zwischen TET und der Entwicklung von CVE. Bemerkenswert sind neben diesen Meta-Analysen auch Studien, die auf eine antiarrhythmische Wirkung bei Vorhofflimmern einer TET zur Normalisierung einer Hypoandrogenämie hinweisen (38, 39) – auch wenn die genauen Mechanismen bis heute noch nicht aufgeklärt sind.
  • Einen interessanten Denkansatz vertritt Yeap (40): Er vermutet eine U-förmige Kurve der Konzentration zirkulierender Androgene mit theoretisch erhöhtem Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse wie auch die Entwicklung von Begleitkrankheiten bei zu tiefen wie auch zu hohen Werten – einzig mittlere Konzentrationen würden schützende Wirkung entfalten. Diese sogenannte U-These harrt noch aber ihrer Bestätigung.

Welches sind die vaskulären Mechanismen von Testosteron?

Die entscheidende vasodilatatorische Wirkung von Testosteron wird in erster Linie dem aktivierenden Einfluss auf die K-Kanäle bzw. dem inaktivierenden Effekt auf die Ca-Kanäle zugeschrieben. Interessanterweise scheint es sich bei der raschen Vasodilatation durch Testosteron um eine Androgen-Rezeptor (AR) unabhängige, nicht-genomische Funktion zu handeln (39).
Der AR ist dagegen bei den Langzeitwirkungen auf den Tonus in Schlüsselfunktion: AR finden sich ubiquitär in den Gefässstrukturen und Testosteron wie auch sein aktiver Metabolit DHT erhöhen die endothelialen NO (eNO) Konzentrationen (41). Bemerkenswerterweise konnte aber gezeigt werden, dass DHT selber – und zwar unabhängig vom AR-vermittelten Prozess (33) – die Freisetzung von Entzündungsmediatoren wie COX2 durch die Muskulatur der Koronararterien hemmt.
Wieweit bei den raschen, nicht-AR-abhängigen Prozessen auch die Estradiol-Rezeptoren ins Spiel kommen, wird noch zu klären sein, denn Aromatase wird in den Gefässstrukturen exprimiert und hat identische Einflüsse auf die eNO Bildung (42).
Neben den zahlreichen Untersuchungen mit Frage nach erhöhtem CV Risiko, Häufigkeit von CV Ereignissen, Arrhythmien und Meta-Analysen ist es nach wie vor die zentrale Frage, wie die antientzündlichen, durch T ausgelösten Prozesse in Gang kommen:
Proinflammatorische Zytokine wie IL-1-beta, IL-6, TNF-alpha und CRP standen im Fokus des Interesses: Zwar scheinen die Ergebnisse durchaus widersprüchlich, doch in der Mehrheit konnten positive Effekte auf die genannten Zytokine und CRP nachgewiesen werden (43). Damit bedarf auch die 2017 publizierte Beobachtung noch der Erklärung, weshalb unter TET mehr nichtkalzifizierte Koronarplaques auftreten sollen (44). Ob damit ein echtes kardiovaskuläres Risiko entsteht oder aber ob eventuell auch andere potentiell schädigende Mechanismen wie Flüssigkeitsretention unter Testosteronbehandlung in Gange kommen, wird derzeit diskutiert (40, 45, 46).

Aktuelle Datenlage zum Risiko eines CVE unter TET

T ist ein Gefässhormon mit direkter vasoreaktiver Wirkung und günstigen Einflüssen auf Atheroprotektion und Freisetzung von Entzündungsmarkern und damit direkten antientzündlichen Effekten auf die Blutgefässe. Obschon fast alle einschlägigen Untersuchungen zum positiven Effekt einer TET beim LOH durch Komorbiditäten kompliziert sind, zeigt doch eine überwiegende Mehrzahl, dass Testosteron über endothelabhängige Faktoren sowohl in physiologischen wie auch supraphysiologischen Konzentrationen kurz- wie langzeitige vasodilatatorische Effekte hat. Dabei überwiegen die Kalzium-antagonistischen Wirkungen über die Aktivierung der Endothelzellen durch Kalium-Kanalinaktivierung (47).
Nach Auswertung von Studiendaten von über 210 000 mit Testosteron behandelten Männern zeigen sich keine Zusammenhänge mit erhöhtem Risiko für Myokardinfarkte, Mortalität, Schlaganfälle oder thromboembolischen Ereignissen (48, 49, 50, 51, 52, 53). Einzig bei Männern über 65 Jahren, transkutaner Ersatzbehandlung und nur in den ersten Therapiemonaten wurde in einer Untersuchung auf ein mögliches kardiovaskuläres Risiko verwiesen (54). Kelly und Jones (43) folgern deshalb in ihrer Meta-Analyse 2013 aus der eindrücklichen Summe der günstigen Effekte, dass TET mögliche therapeutische Benefits bei der CVD haben wird.
Mehrere führende Fachgesellschaften haben in vergangenen Jahren Reviews veröffentlicht und darin im Sinne von Richtlinien ausführlich zur Problematik allfälliger CV Risiken unter TET Stellung genommen. Dabei sticht das Statement der EMA (27) hervor, die keine erhöhte Gefährdung erkennen kann – dies im Gegensatz zu den Erkenntnissen der FDA (37). Andere Fachgesellschaften konzentrieren sich auf den Ausschluss möglicherweise gefährdeter Männer mit schweren, nicht bekannten Herzleiden oder Zustand nach Myokardinfarkten (Endocrine Society; 55). Die European Association of Urology reiht schwere chronische Herzleiden NYHA Klasse IV ebenfalls unter den Kontraindikationen zur TET ein, definiert aber keine weiteren Gefahrensituationen (56). Zu einem anderen Schluss gelangt die Canadian Men’s Health Foundation in ihren Empfehlungen: «…Testosterone treatment is appropiate for men with low testosterone and cardiovascular disease» (57).
Unabhängig von diesen Disputen und unwidersprochen gelten nach wie vor erhöhte Hämatokritwerte sowie Fälle von Mammakarzinom beim Mann als Kontraindikationen für eine TET (56) , wogegen die Vorbehalte gegen eine solche Behandlung wegen potentieller Auslösung eines Prostatakarzinoms endgültig als ausgeräumt gelten.
Zwar fehlt nach wie vor die grosse, prospektive, randomisierte, doppelblinde und Placebo-kontrollierte Studie zur Sicherheit der TET. Bei offensichtlich überwiegenden Benefits des Männerhormons auf das kardiovaskuläre System sind aber alle Anstrengungen zu unterstützen, die zur endgültigen Aufklärung der zugrundeliegenden Gefässreaktionen führen (39). Leider tun sich viele Fachgesellschaften bis heute noch schwer, sich auf einheitliche Indikationslisten zur TET zu einigen. So variieren bei den entscheidenden Richtlinien beispielsweise die einer TET zugrunde liegenden Hormonuntergrenzen zwischen 8 – 14 nmol/l (siehe Tabelle 1) (55-57).
Leider haben es die andrologischen Fachgesellschaften bis heute nicht geschafft, sich auf einheitliche Indikationslisten und Richtlinien zur TET zu einigen. Damit wird möglicherweise Generationen von Männern ein in praktisch jeder Hinsicht günstig wirkendes Hormon als Ersatz bei altersbedingtem Verlust vorenthalten – ein Versäumnis, das die Nachwelt wohl kritisch beleuchten wird.

Dr. med. Christian Sigg

Forsterstrasse 61
8044 Zürich

dr.sigg@hispeed.ch

Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Die günstigen Effekte einer TET bei LOH auf Psyche, Teilaspekte des Metabolischen Syndroms, Sexualität und Muskelkraft liessen die Verschreibungen in letzten Jahrzehnten ums Siebenfache steigen
  • Bis heute liegen keine Hinweise auf ein erhöhtes CVE-Risiko unter TET vor – im Gegenteil: Hinweise auf entsprechende Benefits verdichten sich
  • Vasodilatatorische Effekte und eine verminderte Freisetzung von
    Entzündungsmediatoren wurden als protektive Mechanismen unter TET identifiziert
  • Bei nach wie vor inkonsistenten Richtlinien zur klaren Indikationsstellung könnte möglicherweise durch allzu grosse Zurückhaltung eine erwiesenermassen wirkungsvolle Behandlung des LOH der aktuellen «Hormonmangel-Generation» vorenthalten werden.

1. Tremlett H, Yinshan Z, Devonshire V. Natural history of secondary-progressive multiple sclerosis. Mult Scler 2008; 14: 314–24.
2. Scalfari A, Neuhaus A, Daumer M, Muraro PA, Ebers GC. Onset of secondary progressive phase and long-term evolution of multiple sclerosis. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2014; 85: 67–75.
3. Giovannoni G, Comi G, CookS, etal. A placebo-controlled trial of oral cladribine for relapsing multiple sclerosis. N. Engl. J. Med. 362(5), 416–426 (2010).
4. Giovannoni G, Soelberg Sorensen P, Cook S, Rammohan K, Rieckmann P, Comi G, Dangond F, Adeniji AK, Vermersch P. Safety and efficacy of cladribine tablets in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis: Results from the randomized extension trial of the CLARITY study. Mult Scler. 2018 Oct;24(12):1594-1604. doi: 10.1177/1352458517727603
5. Montalban X, Hauser SL, Kappos L et al.: Ocrelizumab versus Placebo in Primary Progressive Multiple Sclerosis. N Engl J Med 2017; 376: 209–220
6. Kappos L, Bar-Or A, Cree BA, Fox RJ, Giovannoni G, Gold R, et al. Siponimod versus placebo in secondary progressive multiple sclerosis (EXPAND): A double-blind, randomised, phase 3 study. Lancet. 2018;391:1263–73

der informierte @rzt

  • Vol. 9
  • Ausgabe 5
  • Mai 2019