Editorial

Die Blockade der «Bilateralen» wirft erste lange Schatten auf unsere Spitzen-Forschung



Die Schweizer Diplomatie geniesst weltweit einen hervorragenden Ruf und betreut seit Jahren internationale heikle Missionen. Leider ist das diplomatische Geschick des Bundesrates gerade weit darunter und schadet dem eigenen Land mit dem einseitigen Verhandlungsabbruch der Bilateralen.

Die Strategie, mit einem Eklat eine Blockade erfolgreich zu lösen, ist fürs Erste nicht aufgegangen. Was sich noch deutlicher abzeichnet ist die Illusion, dass hier zwei gleich starke Partner sich gegenüber­sitzen. Laut unseren stramm rechtsbürgerlichen Politikern müsse die EU gar froh sein, mit einem Partner wie der Schweiz verhandeln zu dürfen: so einmalig und erfolgreich, wie wir Rütli-Nachgeborenen schliesslich seien!?

Die Realität ist anders: Die Schweiz liegt nun mal seit je im Herzen Europas, ein unverzichtbar grosser Teil unserer Arbeitsleistung wird von EU-Bürgern täglich erbracht und unsere Produkte werden vor allem in Europa verkauft und zu einem guten Teil auch produziert. Der freie Waren- und Personenverkehrt ist Teil unserer «nationalen DNA» geworden, die jüngere Bevölkerung kennt es gar nicht anders. Wie nur konnte die Schweiz sich so überschätzen?

Die Folgen dieser unnötig irritierten Situation spüren inzwischen die Maschinen-Industrie in der Produkteanerkennung und insbesondere unsere Spitzenforschung in der ganzen Breite:
1. Der Zugang zum weltweit grössten milliardenschweren Forschungsprogramm «Horizon Europe» bleibt letzteren nun grösstenteils verwehrt.
2. Millionenschwere zugesprochene Grants für Forschende in der Schweiz dürfen nur ausbezahlt werden, wenn diese Arbeit an vom ERC (European Research Council) anerkannten Institutionen erbracht wird. Der EU-Forschungsrat behandelt die Schweiz neu nur noch als «nicht-assoziierten Drittstaat». Die Forschenden haben nun 2 Monate Zeit, sich zu entscheiden!
3. Dass die Eidgenossenschaft diese Gelder nun kompensieren will, ist leider kein gleichwertiger Ersatz für die ehrenvollen international kompetitiv erworbenen Grants. Der Wegfall dieser international anerkannten Netzwerk-Forschung und einer internationalen weit besser abgestützten Karriere sind ein monetär nicht kompensierbarer Attraktivitätsverlust. Dazu lastet auf dem Ganzen die Unsicherheit, wie es mit den Bilateralen weitergeht. Der SNF selber sagt klar, dass er keine Alternative zu «Horizon Europe» bieten kann.
4. Nun werden besonders erfolgreichen Forschenden in unserem Land bereits sehr attraktive Angebote gemacht, die Schweiz zu verlassen und in EU-Institutionen ihre Arbeit fortzusetzen. Wer annimmt, hat wieder Zugang zu den gewonnen Grants, den europäischen Forschungsnetzwerken und wieder die Zukunfts-Per­spektive, die aktuell in der Schweiz fehlt.
5. Durch den Weggang der besten Forschenden wird auch der Innovations-Werkplatz Schweiz für international führende Firmen in der Biomedizinischen Entwicklung in Diagnostik und Therapie, der Robotik, der Informatik und KI, der Physik und Chemie und vielen weiteren Bereichen an Attraktivität verlieren.

Ob sich dies noch aufhalten lässt? Was sich abzeichnen müsste, ist ein klarer politischer Wille der Schweiz, rasch zu handeln und einen glaubwürdig praktikablen bilateralen Weg aufzuzeichnen. Helfen Sie mit in ihrem Umfeld, dass dieses noch wenig beachtete Thema stärker in der Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert wird! Es hat viele Milliarden Geld und Jahrzehnte gebraucht, die kleine Alpen-Schweiz an der Front der weltweiten Forschungsspitze zu positionieren. Dieser Platz kann schneller verspielt werden als wir uns vorstellen können. Viele Länder sind heute auf einem ähnlichen Niveau wie die Schweiz, aber weniger belastet durch politische Unentschlossenheit und lähmende Tabus. Europa ist nun einmal unser gesetzter Platz auf diesem Planeten, Teil unserer Geschichte, Kultur, Identität und damit unserer Zukunft. Auf keinem anderen Kontinent gibt es vergleichbare Freiheiten und Chancen.

So wollen wir hoffen, dass die Schweiz zurückfindet zu einem realistischen Pragmatismus, zu einem diplomatischen erfolgreichen Verhandeln und zum Mut, den neuen globalen Herausforderungen Rechnung zu tragen.

Prof. em. Dr. med. Thomas Cerny
thomas.cerny@kssg.ch

Prof. em. Dr. med.Thomas Cerny

Rosengartenstrasse 1d
9000 St. Gallen

thomas.cerny@kssg.ch

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  • Vol. 12
  • Ausgabe 4
  • August 2022