Das aktuelle Interview

Interview von Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen mit Prof. Dr. med. Gabriele S. Merki

Expertenbrief zum Thromboembolierisiko unter hormonaler Kontrazeption



Prof. Dr. med. Gabriele S. Merki Leiterin Kontrazeption Universitätsspital, Zürich

Frau Prof. Gabriele S. Merki ist Leiterin Kontrazeption am Universitätsspital Zürich und war langjährige Präsidentin der ESC (European Society of Contraception). Sie publizierte zum Thema Kontrazeption viele Original- und Übersichtsarbeiten in renommierten internationalen Journals und ist mit Vorlesungen im Medizinstudium an der Universität Zürich und an der ETHZ engagiert. Sie ist somit eine national und international renommierte Expertin sowohl im praktischen Umgang im Gebiet der Kontrazeption als auch in Lehre und Forschung. Daher ist es naheliegend, dass sie den Expertenbrief zum Thromboembolie-risiko unter hormonaler Kontrazeption federführend erarbeitet hat.

Warum war es notwendig, den Expertenbrief Nr. 35 zum gleichen Thema jetzt zu überarbeiten?

Die wissenschaftlichen Daten waren zuvor bis zum Jahre 2013 zusammengestellt worden und für interessierte Leser war es natürlich schwierig zu beurteilen, ob diese Daten überhaupt noch aktuell sind und ob man sich auch weiterhin nach dem Expertenbrief richten kann. Ich habe zwar die Literatur immer im Auge behalten als federführende Autorin und hätte mich gemeldet, wenn es inzwischen etwas sehr Wichtiges Neues gegeben hätte. Jetzt war es aber Zeit für eine Neuauflage.

Was sind die wichtigsten Änderungen im Vergleich zum Expertenbrief Nr. 35 aus dem Jahre 2013?

Es gibt keine so bahnbrechenden Neuerungen. Einige neuere Studien bestätigen, was wir bereits empfohlen haben. Unsicherheit wegen fehlender Daten im letzten Expertenbrief gab es für die Pillen mit natürlichen Östrogenen (Estradiol und Estradiolvalerat) und das Kombinationspräparat mit Ethinylestradiol/Dienogest. Von den Pillen mit natürlichen Östrogenen hat man sich ein niedrigeres Thromboserisiko erhofft. Die Studien zur kombinierten Pille mit Estradiolvalerat zeigt, dass das Präparat hinsichtlich der Thromboserate wahrscheinlich zwischen den Zweit- und Drittgenerationspillen liegt und somit punkto Thromboserisiko leider nicht wirklich besser ist als die gängigen Pillen. Das Präparat hat jedoch andere Vorteile und erweitert das Spektrum der Kombinationspräparate positiv.
Eine neue Metananlyse zur obgenannten Pille mit Ethinylestradiol/Dienogest zeigt, dass auch diese Pille mit einem 1,5- bis zweifach höheren Risiko assoziiert ist als die kombinierte Pille mit Levonorgestrel. Dies entspricht der Risikoerhöhung bei den sogenannten Drittgenerationspillen.
Das heute zu erwartende Risiko in Zahlen beträgt bei gesunden Frauen 2-5 Thrombosen auf 10 000 Frauenjahre (FJ), bei Frauen unter der Zweitgenerationspille mit Levonorgestrel 6-8 Thrombosen auf 10 000 FJ, und bei den Frauen, die andere Pillen nehmen, liegt es zwischen 9 und 12 auf 10 000 FJ.

Aussergewöhnlich an diesem Expertenbrief Nr. 72 wie auch am Expertenbrief Nr. 35 ist, dass diese mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) diskutiert wurden. Was ist der Grund dafür?

In den Jahren 2011, 2012 gab es immer mehr Berichte über Thrombosen bei jungen Pillenanwenderinnen. Es wurde darauf in der Fachliteratur weltweit diskutiert, dass möglicherweise die neueren Drittgenerationspillen mit einem höheren Thromboserisiko assoziiert sind. Als die Datenlage dann aufgrund von mehreren qualitativ hochstehenden Studien sehr klar war, hat das BAG richtigerweise kritisiert, dass in der Schweiz deutlich mehr die Pillen mit hohem Thromboserisiko verschrieben würden als solche mit dem etwas niedrigeren Risiko und empfahl die diesbezügliche Schulung der ÄrztInnen durch die Fachgesellschaft SGGG. Falls sich die Verschreibungspraxis nicht ändere, müsse das BAG Vorschriften erlassen, dass eine Erstverschreibung mit levonogestrelhaltigen Präparaten zu erfolgen habe. Zur Schulung der ÄrztInnen wurde die Datenlage zum VTE-Risiko unter hormonaler Kontrazeption und die Wertigkeit der verschiedenen Risikofaktoren in einem Expertenbrief zusammengefasst und an Kongressen und in Zeitschriften immer wieder publiziert. Weiterhin wurden dazugehörig Dokumente für die Praxis erstellt: Eine Checkliste für die verschreibenden ÄrztInnen zum Ausschluss von Kontraindikationen und zum Abschätzen der Risikofaktoren sowie ein Formular gemacht für die Patientinnen, in welchem erklärt wird, welche Symptome auf eine Thrombose hinweisen, damit diese in einer solchen Situation schnell ärztliche Hilfe suchen und die Thrombose früh diagnostiziert wird, um möglichst eine Lungenembolie oder weitere Komplikationen zu verhindern. Weiter haben wir ein Aufklärungsformular für die Patientin erstellt, damit sie die Unterschiede zwischen den Präparaten bezüglich des Thromboserisikos kennt, und auf dem sie sich einverstanden erklärt, dass sie das wenig höhere Thromboserisiko mit den Drittgenerationspillen, dem Verhütungspatch oder dem Vaginalring in Kauf nimmt. Dieses Formular ist besonders wichtig, wenn Gründe gegen die Verschreibung der Pille mit Levonorgestrel sprechen.

Seit einigen Jahren ist das Thromboembolierisiko unter hormonaler Kontrazeption ein grosses Thema sowohl in der Wissenschafts-Community, aber auch in den Medien. Hat das Thromboserisiko zugenommen?

Das Thromboserisiko durch die Pille hat natürlich nicht zugenommen. Ich bin der Meinung, dass in der Schweiz das Thromboserisiko durch die verschiedenen Schulungen nicht nur bei den Frauenärzten, sondern auch bei den Allgemeinärzten und den Neurologen eher abnimmt, weil man eine bessere Risikoanamnese macht. Das Hauptrisiko liegt, wenn man jungen Frauen die Pille verschreibt, bekanntlich in der belasteten Familienanamnese. Bei Frauen > 35 Jahre gibt es andere Risiken, auch auf der arteriellen Seite. Nikotin, Adipositas, das Alter selbst, hoher Blutdruck und Dyslipidämien stehen hier im Vordergrund. Es können mit modernen diagnostischen Methoden heute viel kleinere Thrombosen und kleinere Lungenembolien diagnostiziert werden. Das erhöht natürlich in der Summe die absolute Anzahl der Fälle, die wir sehen. Früher hat man gesagt, dass jede hundertste Thrombose zu einer Lungenembolie führt. In den neueren Studien ist das ungefähr jede zehnte, weil auch kleinere Embolien diagnostiziert werden.

Wo ist heute der Stellenwert der Kombinationspräparate im Vergleich zur reinen Gestagenverhütung und zur nicht-hormonellen Kontrazeption?

Es ist tatsächlich so, dass weniger junge Frauen nach Kombinationspräparaten fragen. Sie wollen sicher verhüten, kein Risiko eingehen und nicht die potentiellen Nebenwirkungen der kombinierten Präparate und der reinen Gestagenkontrazeption in Kauf nehmen. Von den Benefits wird heute fast nicht mehr gesprochen, wie zum Beispiel dem Schutz vor dem Ovarialkarzinom und der Risikoreduktion für das Darmkarzinom. Es braucht häufig ein längeres informatives Gespräch, um eine geeignete Methode zu finden. Ich denke, dass es eine grosse Verunsicherung durch die Medien gibt, wo auch viele falsche Informationen kursieren. Eine Alternative für Frauen, die keinesfalls Hormone möchten, aber dennoch sicher verhüten wollen, ist die Kupferspirale. Nachteile sind eine stärkere und längere Menstruationsblutung und mehr Schmerzen bei der Menstruation. Jede Frau muss für sich entscheiden, welche Methode ihr am ehesten entspricht. Es gibt keine sichere Verhütung ohne ein minimales Zusatzrisiko oder Nebenwirkungen. Ich denke aber, dass die heutigen Pillen für gesunde Frauen enorm sicher sind.

Was sind die Vor- und Nachteile der zunehmend benützten Verhütungs-Apps?

Es gibt eigentlich nur eine wirklich zugelassene Verhütungs-App, alle anderen sind eher Zyklusbeobachtungs-Apps, die in der Regel dazu entwickelt wurden, den Zeitpunkt des Eisprungs zu eruieren. Dies ursprünglich für Frauen, die schwanger werden möchten. Die eine zugelassene Verhütungs-App verlangt natürlich, dass man täglich die Temperatur misst, etwa um die gleiche Zeit. Wenn man die Packungsbeilage liest, sieht man, dass man am Abend keinen Extremsport gemacht haben darf, dass man nicht zu viel Alkohol getrunken haben darf und dass man so und so viel Schlaf gehabt haben muss. Diese App ist zugelassen in Deutschland und in den USA. Es sind aber Berichte erschienen, z.B. aus Schweden, dass überraschend viele Frauen mit dieser Methode schwanger werden. Die Frage ist, ob Paare bereit sind, die mit der App verbundenen Einschränkungen auf sich zu nehmen. Bei falscher Anwendung nimmt die Sicherheit ab. Ich denke, dass dies nicht für ein Paar geeignet ist, das auf keinen Fall eine Schwangerschaft möchte. Die App ist auch weniger sicher bei Frauen, die eine unregelmässige Menstruation haben. Die Anforderungen passen eigentlich nicht zum Lebensstil einer jungen Frau von heute.

Die Tubensterilisation kann als Ligatur oder als Salpingektomie durchgeführt werden. Welche Vorgehensweise ist heute zu favorisieren?

Ausser nach Geburt des letzten Wunschkindes wird die Tubensterilisation in der Schweiz eher selten durchgeführt. Bei einigen Paaren liegt der Grund darin, dass die Kosten nicht von der Krankenkasse übernommen werden. Es ist so, dass die Tubensterilisation als Ligatur zu einer Reduktion des Risikos für ein Ovarialkarzinom führt. Die Salpingektomie führt zu einer noch etwas höheren Risikoreduktion. Wie gross genau der Unterschied ist, ist aus den verfügbaren Zahlen nicht ganz klar fassbar. Doch wenn man heute so einen Eingriff plant, ist die Salpingektomie meiner Meinung nach die Methode der Wahl. Es muss jedoch ganz klar sein, dass der Kinderwunsch bei dem Paar abgeschlossen ist. Falls es sich um eine Patientin mit abdominalen Vor-operationen und Verwachsungen handelt, ist eine normale Sterilisation vertretbar. Ich empfehle als Alternative oft die wesentlich günstigere und weniger aufwendige Vasektomie.

Was ist mit den Männern? Wie populär sind Vasektomien? Sie könnten mit einer Vasektomie risikoarm für beide Partner die Frage des Thromboembolierisikos unter hormonaler Kontrazeption eliminieren.

Was ich immer wieder höre ist, dass Frauen sagen, dass dies für ihren Mann nicht in Frage käme. Wenn ich aber die Männer mit in der Sprechstunde habe, merke ich, dass die Männer diesbezüglich auch zugänglich sind und sich nach Aufklärung einen solchen Eingriff durchaus überlegen. Ich weiss nicht, ob dies eine Generationenfrage ist. In den Niederlanden ist die Vasektomie weit verbreitet. Hier in der Schweiz, denke ich, dass Männer vielleicht zu wenig darüber wissen. Wir achten bei Frau und Mann darauf, so einen definitiven Eingriff wie die Unterbindung nicht in zu jungen Jahren zu machen.

Hat die COVID-19-Pandemie zu einer Änderung des kontrazeptiven Verhaltens und der Zahl unerwünschter Schwangerschaften geführt?

In der Schweiz sicher nicht. Wir haben das gut im Griff, global aber ja. Die europäische Gesellschaft für Kontrazeption ist sehr besorgt, die WHO auch. Das Problem ist, dass Patientinnen vieler Länder mit hohen COVID-19-Infektionsraten keinen Zugang haben zu den sehr wichtigen und zuverlässigen Langzeitmethoden, den Verhütungsimplantaten und Spiralen. Nicht in allen Ländern und Regionen ist es aktuell möglich, die Pillenverschreibung zu verlängern. Ausserdem ist im Fall unerwünschter Schwangerschaften, wegen Überlastung der Krankenhäuser, der Zugang zum Schwangerschaftsabbruch nicht gewährleistet. Das ist in vielen Ländern und für viele Frauen ein sehr schwieriges und grosses Problem. In der Schweiz haben wir am Anfang der Pandemie Telefonsprechstunden gemacht. Spiralen und Implantationseinlagen waren ebenfalls kein Problem, Tubenligaturen mussten sicher in einigen Kliniken verschoben werden. Diese Frauen hatten aber für den Übergang Zugang zu den anderen Verhütungsmethoden.

Vielen herzlichen Dank, Frau Professor Merki, für dieses sehr aufschlussreiche und interessante Interview!

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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  • Vol. 11
  • Ausgabe 3
  • Juni 2021