Editorial

Föderal in die Sackgasse



Kein Tag vergeht ohne mediale Kommunikation von Versorgungsproblemen in Spitälern und Arztpraxen. Ich hätte einen Vorschlag für das Wort des Jahres: Fachkräftemangel! Ich erinnere mich an die Zeit der frühen 2000er-Jahre, als wir in den Spitälern einen substantiellen Pflegekräftemangel hatten und Operationssäle, Intensivstationen und Pflegestationen stark reduziert oder sogar geschlossen werden mussten. Auch damals brummte die Wirtschaft, die Arbeitslosenzahl lag so tief wie seit Jahrzehnten nicht mehr und die Pflege­personen wurden von Unternehmen aufgesogen, welche keine Nachtdienste und Wochenenddienste anbieten mussten. Die Situation ist vergleichbar mit heute, war aber doch anders.

Die Medizin hat sich stark entwickelt. Die Innovation hat bessere Therapien geschaffen. Die personalisierte Medizin schaffte in den letzten zehn Jahren fast Unglaubliches. Die Heilungsraten der Krebstherapien sind nicht nur um 5, sondern teilweise um 10 bis 20% und in einzelnen Bereichen sogar noch stärker angestiegen. Leider haben wir es nicht geschafft, Effizienz und Arbeitsergonomie im Gleichschritt mit dem medizinischen Fortschritt zu innovieren. Gesundheitspersonal verbringt heute zunehmend mehr Zeit im Büro und am Computer und weniger bei den Patienten. Es herrscht der Irrglaube, dass mit mehr Dokumentation, längeren krankenkassenfragebogen und noch mehr Qualitätskontrolle die Patienten besser behandelt werden. Es herrscht der Irrglaube, dass Fortschritt, Innovation, verbesserte Qualität zu gleichen oder niedrigeren Tarifen erfüllt werden kann. Der Nachwuchs wünscht sich wertvolle Arbeitsinhalte, eine Vereinbarkeit von Familie, Freizeit und Beruf und sieht ein in Traditionen verhaftetes Arbeitssystem mit alten Hierarchien und Aufruf zu Durchhaltewillen, Berufsethos und Patientenzentriertheit. Die nationale Gesundheitspolitik fährt föderal in die Sackgasse und lässt Mut und Innovationskraft vermissen, anstatt Synergien und Effizienz in überkantonalen Gesundheitsregionen zu schaffen.

Wie würde die Arbeit der Gesundheitsberufe wohl aussehen, wenn nur 1% der Gelder, die in die Pharmaforschung fliessen, zur Erforschung und Veränderung der Arbeitswelt in den Gesundheitsinstitutionen eingesetzt würde. Ich wünsche mir die Innovationskraft der Hightech- und Pharmabranche in der Gesundheitsbranche und der Arbeitswelt unserer Spitäler. Ich wünsche mir den Mut der SpitalmanagerInnen, die Erkenntnisse aus dieser Forschung in den Alltag umzusetzen. Braucht es wirklich noch mehr Krise bis sich substantiell etwas verändert?

Prof. Dr. med. Gabriel Schär

Prof. Dr. med. Gabriel Schär

Aarau

gabriel.schaer@usz.ch

info@gynäkologie

  • Vol. 12
  • Ausgabe 5
  • Oktober 2022