Fortbildung

Müdigkeit hat viele Gesichter – Hintergründe und Abklärungsstrategie

Tatsächlich bleibt die Müdigkeit eines der häufig genannten Symptome in der Sprechstunde. Wichtig dabei zu beachten ist, dass es sich um ein subjektives Gefühl handelt: Was für die einen bereits einen grossen Einschnitt in die Gestaltung des All­tags bedeutet, ist für andere durchaus noch zu bewältigen. Entsprechend braucht dieses Symptom eine sehr individuelle Herangehensweise. Und trotzdem gibt es einige strukturierte Hilfestellungen bezüglich Abklärung und Anamnese, die hier ausgeführt werden.



In fact, fatigue remains one of the frequently mentioned symptoms in the consultation. It is important to note that is a subjective feeling: what is already a big cut in the design of everyday life for some is still manageable for others. Accordingly, this symptom needs a very individual approach. And yet there are some help points regarding clarification and anamnesis, which are carried out here.

Key Words: fatigue, myalgic encephalomyelitis (ME), chronic fatigue syndrome (CFS)

Über Müdigkeit klagen viele Patienten in der Sprechstunde – dabei die nötigen und sinnvollen Abklärungen einzuleiten, bleibt eine Herausforderung. Im Grundsatz ist die Müdigkeit eine physiologische Reaktion, das Signal schlafen zu müssen und dem Körper die nötige Ruhe zur Regeneration zu geben. Wann wird Müdigkeit zum Symptom? Vom einfachen Schlafmangel bis hin zur Addison-Krise, von Depression bis zur Krebserkrankung gibt es viele Diagnosen, die als Ursache in Betracht gezogen werden müssen. Wie kann also eine sinnvolle Abklärungsstrategie aussehen?

Definition

Die Definition der Müdigkeit umfasst verschiede Aspekte (1, 2):

  • Emotionale Müdigkeit mit Antriebslosigkeit, Niedergeschlagenheit, Unlust.
  • Kognitive Müdigkeit mit Konzentrationsschwäche, reduzierter geistiger Leistungsfähigkeit.
  • Körperliche Müdigkeit mit rascher Ermüdung bei nicht-adäquater Belastung und der Unfähigkeit, ein gewohntes Aktivitäts­niveau beizubehalten.

Das Empfinden dieser Aspekte kann für den einen normal sein, für den anderen eine krankhafte Einschränkung bedeuten – Müdigkeit ist subjektiv. Zeitlich lassen sich eine akute Müdigkeit < 1 Monat und eine persistierende < 6 Monate von einer chronischen Müdigkeit > 6 Monate abgrenzen (3).

Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrom (ME/CFS)
ME/CFS ist eine Form der chronischen Müdigkeit. Die Definition nach CDC (4):

  • Eine substantielle Verschlechterung des möglichen Aktivitäts­levels im Vergleich zu der Zeit vor der Erkrankung
  • Post-exertional Malaise (PEM) (Tab. 1)
  • Unerholsamer Schlaf

Die Ursache dieses Beschwerdekomplexes bleibt unklar, es werden u.a. (auto)immunologische Phänomene diskutiert, da eine Häufung nach bestimmten Infektionen zu finden ist (1). Auch im Rahmen der Long Covid-Erkrankung mit dem Leitsymptom Fatigue werden verschiedene Hypothesen als Ursache diskutiert. Im Prinzip ist Long COVID aber zeitlich definiert: liegen länger als 12 Wochen nach akutem Infekt noch Symptome vor, spricht man von einem Post-Covid-/ Long Covid Syndrom (6).

Epidemiologie

In bis zu 10% der Fälle ist Müdigkeit der Grund der Vorstellung in der Hausarztpraxis. Je nach Studie schwankt die Prävalenz um 6-7.5% (populations-basierte Surveys GB/USA) (7, 8) bis zu 38% (US-Beamtenschaft) (9). In einer Umfrage in Deutschland 1993-1997 (1) gaben 31% der über Sechzehnjährigen an, gelegentlich oder häufig an Müdigkeit zu leiden. Die Prävalenz nimmt mit dem Alter zu (10), Frauen sind häufiger betroffen als Männer (1, 11).

Ursachen

Kurzdauernde Müdigkeit < 1 Monat ist häufig auf eine akute Erkrankung (viral) oder psychosoziale Belastung zurückzuführen, welche sich über die Anamnese gut erkennen lässt. Bei persistierender Müdigkeit liegt eher eine chronische Erkrankung zu Grunde. Eine somatische Diagnose lässt sich allerdings nur in weniger als der Hälfte der Fälle stellen (12).

Somatische Ursachen sind insgesamt unwahrscheinlicher, je weniger Begleitsymptome bestehen. Ein Eisenmangel findet sich in nur 2.8%. Weitere somatische Ursachen wie z.B. Diabetes mellitus, Schilddrüsenerkankungen etc. zeigen sich in nur gerade 4.3% (13) (Tab. 2).
Malignome sind in 0.8% der Fälle Grund für Müdigkeit, umgekehrt beklagen allerdings krebskranke Patienten in ca. 60% der Fälle Fatigue (14). Ohne wegweisende Anamnese ist Krebs als Ursache praktisch ausgeschlossen.

Interessanterweise konnte ein Kausalzusammenhang zwischen Anämie und Müdigkeit nie nachgewiesen werden. Möglicherweise entsteht ein Eindruck von Kausalität dadurch, dass bei müden Patienten ein Blutbild veranlasst wird und eine Anämie eher entdeckt wird (1, 13, 15).

Ein Zusammenhang allerdings zwischen Eisenmangel ohne Anämie und Müdigkeit konnte bei jungen Frauen mindestens subjektiv gezeigt werden: nach intravenöser Eisensubstitution gaben sie signifikant weniger Müdigkeit an, während der Hämoglobin-Wert unbeeinflusst blieb (16). Eine Cochrane Review von 2019 (17) ergibt keine einheitlichen Empfehlungen, die Degam-Leitlinie (1) spricht sich für eine Substitution bei einem Ferritin von <15ul/l aus.

Je nach Studie erklären psychische Störungen in 18.5% (13) – 45% (3) die Müdigkeit. Umgekehrt geben 75% der Patienten mit Depression oder somatoformer Störung Müdigkeit an (10).

Eine psychosoziale Ursache ist möglich, wenn Probleme am Arbeitsplatz (Mobbing, Kündigung), eine Überlastung wie z.B. eine Doppelrolle (Familie/Beruf) oder ein kürzlicher Verlust (Menschen, Tiere, Heimat) in der Anamnese herausgearbeitet werden können (18).
Ein einfaches Screening-Instrument für eine Depression ist der hochsensitive 2-Fragen-Test: Fühlten Sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen, traurig, bedrückt oder hoffnungslos? Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die Sie sonst gerne tun? Werden beide Fragen mit nein beantwortet, kann eine Depression zu hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden (19).
Ein ME/CFS ist als Ursache der Müdigkeit selten mit ca. 2% (13), allerdings dürfte sich diese Zahl aufgrund des Long Covid-Syndroms erhöhen (20).

Müdigkeit ist häufig assoziiert mit Schlafstörungen. Entsprechend soll eine Anamnese bezüglich Schlaf stets erfolgen.

Abklärung

Die meisten der somatischen Ursachen treten mit Begleitsymptomen auf, die gezielt erfragt, beurteilt und bei Vorhandensein mit Zusatzuntersuchungen abgeklärt werden sollten. So deuten z.B. imperative Einschlafneigung, morgendliche Kopfschmerzen, Adipositas auf eine schlafbezogene Atemstörung hin. Eine strukturierte Anamnese ist entsprechend unerlässlich (Tab. 3).
Eine reproduzierbare, gleiche Herangehensweise bei jeder Evaluation von Müdigkeit ist essentiell: der Patient sollte immer mit Anamnese, körperlicher und laboranalytischer Untersuchung abgeklärt werden.

Körperliche Untersuchung

Die körperliche Untersuchung umfasst einen vollständigen somatischen Status mit Fokus auf Organomegalien, vergrösserte Lymphknoten, Herz-Lungen-Status und neurologische Auffälligkeiten.

Labor (adaptiert nach 1, 10)

Als Screening: Blutbild, CRP, TSH, ALAT, Glucose (HbA1c), Ferritin, LDH, Albumin

  • bei Hinweisen auf Nierenerkrankung/Risikofaktoren: Kreatinin,
  • bei entsprechenden Medikamenten: Bestimmung der Elektrolyte (Natrium, Kalium, Calcium)
  • bei Muskelschwäche resp. Muskelschmerzen: CK als Hinweise für eine Myopathie
  • bei Risikopatienten: HIV-, Hepatitis-C-Serologien
  • bei Durchfall, Bauchschmerzen: Gesamt IgA, Transglutaminase-AK (Zöliakie)
  • Patienten < 40 nach viralem Infekt ggf. EBV-Serologie
  • Zudem die Patienten auf fällige Krebsvorsorgeunter­suchungen hinweisen.

Sonstige laboranalytische oder apparative Untersuchungen ohne entsprechende Leitsymptome sind nicht sinnvoll, führen zu Überdiagnostik und nicht selten zu Scheinattributionen. Leider fühlen sich Patienten oftmals erst ernstgenommen, wenn somatische Erklärungen geliefert werden, selbst solche, die keinerlei medizinische Evidenz haben wie z.B. ein Zusammenhang zwischen Vitamin D-Mangel und Müdigkeit.
Bleibt die Ursache unklar, sollte der Patient in 4-6 Wochen (10) bzw. nach 1 Monat (12) erneut auf die gleiche Weise beurteilt werden.

Management

Bei Diagnose einer somatischen Erkrankung ist diese entsprechend zu behandeln, bereits bekannte somatische Erkrankungen sollten optimal eingestellt werden. Ebenfalls müssen Patienten mit psych­iatrischen Erkrankungen angemessen behandelt werden: In milden Fällen können empathische Begleitung, Behandlung von Schlafstörungen und regelmässige Konsultationen in 4- bis 6-wöchentlichen Abständen ausreichen. Bei mittelgradigen und schweren Verläufen ist eine psychiatrisch-psychotherapeutische Anbindung empfohlen.

Bei chronischer Müdigkeit > 6 Monate ohne organische/psych­iatrische Ursache spricht man von einer idiopathischen Chronic Fatigue. Es gibt Hinweise, dass auch diese Patienten von einer antidepressiven Therapie profitieren (21). Hier empfehlen sich ausserdem kognitive Verhaltenstherapie und gezielte aktivierende Massnahmen. Beide Behandlungsansätze können auch Müdigkeit im Rahmen von schweren Grunderkrankungen wie COPD, Herzinsuffizienz, Malignome verbessern (10).

Allgemein sollten alle Patienten mit psychoedukativen Massnahmen begleitet werden; dazu zählen das Erklären der möglichen Ursachen, körperliche Aktivierung unter Vermeidung einer Überbelastung, Beratung zu Schlafhygiene, Coping-Strategien und Entspannungstechniken.
Zur Behandlung des Chronic Fatigue Syndroms sind folgende Ansätze relevant: die ärztliche Akzeptanz der Erkrankung und des Leidensdrucks, ein bio-psycho-sozialer Ansatz und somatische Betreuung mit Behandlung eventueller Komorbiditäten, leichte körperliche Aktivierung und kognitive Verhaltenstherapie zum Erlernen von Energiemanagementstrategien (Pacing) und Entspannungstherapien.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Schirin Frey

Oberärztin KIM Waid
Klinik Innere Medizin Waid
Stadtspital Zürich
Tièchestrasse 99
8037 Zürich

schirin.frey@stadtspital.ch

KD Dr. med. Elisabeth Weber

Chefärztin Klinik Innere Medizin Waid
Stadtspital Zürich
Tièchestrasse 99
8037 Zürich

elisabeth.weber@stadtspital.ch

Die Autorinnen haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel.

◆ Müdigkeit als Symptom muss stets als bio-psycho-soziales Ereignis betrachtet werden.
◆ Entsprechend soll die Abklärung strukturiert somatisch eingeleitet, aber auch die psychosozialen Ereignisse sollten stets exploriert werden.
◆ Die Behandlung richtet sich nach den Erkenntnissen in all diesen Bereichen.

1. S3-Leitlinie: Müdigkeit. AWMF-Register-Nr. 053-002 DEGAM-Leitlinie Nr. 2.
2. Markowitz AJ, Rabow MW. Palliative management of fatigue at the close of life: “it feels like my body is just worn out”. JAMA 2007; 298:217.
3. Baumann K, Krayenbühl P. Müdigkeit. Praxis 2009; 98: 465–471.
4. CDC. Center of Disease Control and Prevention. https://www.cdc.gov/me-cfs/healthcare-providers/clinical-care-patients-mecfs/treating-most-disruptive-symptoms.html
5. Iqbal FM, Lam K, Sounderajah V, Clarke JM, Ashrafian H, Darzi A. Characteristics and predictors of acute and chronic post-COVID syndrome: a systematic review and metaanalysis. EClinicalMedicine. 2021;36: 100899.
6. COVID-19 rapid guideline: managing the long-term effects of COVID-19. NICE guideline [NG188]. Published: 18 December 2020 Last updated: 11 November 2021.
7. Lawrie SM, Manders DN, Geddes JR, Pelosi AJ. A population-based incidence study of chronic fatigue. Psychol Med 1997; 27:343.
8. Walker EA, Katon WJ, Jemelka RP. Psychiatric disorders and medical care utilization among people in the general population who report fatigue. J Gen Intern Med 1993; 8:436.
9. Ricci JA, Chee E, Lorandeau AL, Berger J. Fatigue in the U.S. workforce: prevalence and implications for lost productive work time. J Occup Environ Med 2007; 49:1.
10. Maisel P, Baum E, Donner-Banzhoff N: Fatigue as the chief complaint—epidemiology, causes, diagnosis, and treatment. Dtsch Arztebl Int 2021;118:566–76. DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0192.
11. Kroenke K, Wood DR, Mangelsdorff AD, et al. Chronic fatigue in primary care. Prevalence, patient characteristics, and outcome. JAMA 1988; 260:929.
12. Hamilton W, Watson J, Round A. Müdigkeit: Abklärungen in der Grundversorgung. Praxis 2011;100(2):99–103.
13. Stadje R, Dornieden K, Baum E, Becker A, Biroga T, Bösner S, Haasenritter J, Keunecke C, Viniol A, Donner-Banzhoff N. The differential diagnosis of tiredness: a systematic review. BMC Fam Pract. 2016 Oct 20;17(1):147. doi: 10.1186/s12875-016-0545-5.
14. Al Maqbali M. Cancer-related fatigue: an overview. Br J Nurs. 2021 Feb 25;30(4):S36-S43. doi: 10.12968/bjon.2021.30.4. S36.
15. Wood MM, Elwood PC. Symptoms of iron deficiency anaemia. A community survey. Br J Prev Soc Med. 1966 Jul;20(3):117–21.
16. Sharma R, Stanek JR, Koch TL, Grooms L, O’Brien SH. Intravenous iron therapy in non-anemic iron-deficient menstruating adolescent females with fatigue. Am J Hematol. 2016 Oct;91(10):973-7. doi: 10.1002/ajh.24461. Epub 2016 Jul 20. PMID: 27351586.
17. Miles LF, Litton E, Imberger G, Story D. Intravenous iron therapy for non-anaemic, iron-deficient adults. Cochrane Database of Systematic Reviews 2019, Issue 12. Art. No.: CD013084. DOI: 10.1002/14651858.CD013084.pub2.
18. Horn B. Müdigkeit. Schweiz Med Forum. 2002;45:1074-1079.
19. Whooley MA, Avins AL, Miranda J, Browner WS. Case-finding instruments for depression. Two questions are as good as many. J Gen Intern Med. 1997 Jul;12(7):439-45. doi: 10.1046/j.1525-1497.1997.00076.x. PMID: 9229283; PMCID: PMC1497
20. Menges D, Ballouz T, Anagnostopoulos A, Aschmann HE, Domenghino A, Fehr JS, Puhan MA. Burden of post-COVID-19 syndrome and implications for healthcare service planning: A population-based cohort study. PLoS One. 2021 Jul 12;16(7):e0254523. doi: 10.1371/journal.pone.0254523. PMID: 34252157; PMCID: PMC8274847.
21. O’Malley PG, Jackson JL, Santoro J, et al. Antidepressant therapy for unexplained symptoms and symptom syndromes. J Fam Pract 1999; 48:98.