Genetik Sprechstunde

Dilatative Kardiomyopathie: Liegt eine Veranlagung vor?

Personen, die von einer dilatativen Kardiomyopathie (DCM) betroffen sind, zeigen oft erst bei fortgeschrittenem Krankheitsverlauf Symptome. Das Einleiten einer frühzeitigen Behandlung wäre für die Verbesserung des Langzeitergebnisses und die Verhinderung von Komplikationen hingegen essentiell. Entsprechend wichtig ist die Erkenntnis, ob ein genetisch bedingtes Risiko vorliegt, um zeitnah zielführende Präventions- und Behandlungsmassnahmen einzuleiten. Dieser Artikel erklärt den Fall einer 40-jährigen Patientin.



Individuals affected by dilated cardiomyopathy (DCM) often do not show symptoms until disease progression is advanced. However, initiating early treatment would be essential to improve long-term outcome and prevent complications. Accordingly, it is important to know whether there is a genetic risk in order to initiate timely and targeted prevention and treatment measures. This article explains the case of a 40-year-old female patient.
Key Words: dilated cardiomyopathy, genetic risk, cardiogenetics, cardiomyopathy

Die dilatative Kardiomyopathie (DCM = Dilated Cardiomyopathy) ist durch eine Vergrösserung des linken Ventrikels und eine eingeschränkte myokardiale Kontraktion charakterisiert. Sie manifestiert sich meistens zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr, kann aber in jedem Alter auftreten. Personen mit einer DCM können lange asymptomatisch bleiben; klinische Manifestationen treten häufig erst bei fortgeschrittenem Krankheitsverlauf auf, dies mit Zeichen einer Herzinsuffizienz (Stauungssymptome und/oder Müdigkeit, Belastungsdyspnoe) sowie Erkrankungen des Reizleitungssystems oder Arrhythmien.

Eine DCM kann erworben oder veranlagungsbedingt, also genetisch sein. Im Hinblick auf die Veranlagung ist zwischen syndromalen oder nicht-syndromalen Formen zu unterscheiden. Unter «syndromal» sind jene DCMs zu verstehen, die als Komplikation eines umschriebenen Syndroms oder einer Erbkrankheit wie den Muskeldystrophien Duchenne und Becker auftreten, wobei Überträgerinnen dieser X-gonosomal vererbten Muskelkrankheiten auch eine isolierte DCM aufweisen können. Bis zu 40% der DCM-Fälle gehören zu den nicht-syndromalen Formen. Auf sie wird in diesem Fallbeispiel eingegangen. Die Veranlagungen werden meistens autosomal-dominant vererbt.

Fallbeispiel: Verdacht auf nicht-syndromale DCM

Eine knapp 40-jährige Frau wird von ihrer Hausärztin zur genetischen Beratung überwiesen, weil der Verdacht besteht, dass sie eine Veranlagung für die dilatative Kardiomyopathie geerbt haben könnte. Anamnestisch lassen sich keine Umwelteinflüsse feststellen, die die Entstehung einer DCM begünstigen würden. Sie sei immer gesund gewesen und hätte nie über längere Zeit Medikamente eingenommen. Alkohol trinkt sie nur gelegentlich. Hinweise für ein genetisches Syndrom bestehen nicht. Eine ischämische Verletzung hat sie nie erlitten. Herzklappenfehler/angeborene Herzerkrankungen wurden bei einer spezialärztlichen Abklärung ausgeschlossen. Sie berichtet aber, dass während ihrer Militärdienstleistungen in Mazedonien neben einem tiefen Blutdruck gelegentlich Arrhythmien festgestellt wurden. Bei der klinischen Untersuchung ist ebenfalls der recht niedrige Blutdruck aufgefallen.

Die Familienanamnese hat die Ratsuchende in das ihr vorgängig zugesandte Stammbaumschema eingetragen (1). Ihre Mutter verstarb angeblich 62-jährig an den Folgen einer DCM, ebenso 68-jährig einer deren beiden Brüder. Diesbezügliche medizinische Dokumente sind nicht verfügbar. Auch die Grosseltern mütterlicherseits hätten an Herzproblemen gelitten. Väterlicherseits sind keine Herzprobleme bekannt. Der 12-jährige Sohn ist gesund.

Somit besteht der Verdacht, dass die Mutter der Ratsuchenden an einer nicht-syndromalen DCM, einer familiären DCM, gelitten hat. Demzufolge hat ihre Tochter formalgenetisch ein Risiko von 50%, diese Veranlagung geerbt zu haben. Die Arrhythmien und der niedrige Blutdruck sind zudem Hinweise dafür, dass eine DCM-Veranlagung vorliegen könnte.

Über 50 Gene sind bekannt, deren Varianten (Mutationen) zu einer DCM prädisponieren. Für deren molekulargenetische Analyse werden Multigen-Panels angeboten. Eine Liste bekannter DCM-bezogener Gene, geordnet nach Stärke der ClinGen-Klassifikation (Clinical Genome Resource DCM Gene Curation Expert Panel), findet sich bei Jordan et al. 2021 (2). Die molekulargenetische Abklärung sollte allen Personen jeden Alters mit nicht-ischämischer DCM angeboten werden (3). Das kardiovaskuläre Screening von asymptomatischen Familienmitgliedern ersten Grades einer Person mit DCM ermöglicht eine frühzeitige Dia­gnose, die sofortige Einleitung der Behandlung und eine Verbesserung der Betreuung (Häufigkeit des kardiovaskulären Screenings).

Auf Wunsch der Ratsuchenden wurde bei ihrer Krankenkasse ein Kostengutsprach-Gesuch für einen Genpanel gemäss «Orphandisease»-Position für 11-100 Gene gestellt und in diesem auch die relevante wissenschaftliche Literatur genannt. Dieses wurde mit der Begründung abgelehnt, dass die Beurteilung des Vertrauens­arztes ergeben habe, «dass es sich bei der beantragten Genpanel-Analyse nicht um eine Pflichtleistung der Grundversicherung handelt, da eine familiäre Häufung der Erkrankung bereits vorliegt und die Durchführung einer genetischen Untersuchung nichts am medizinischen Management ändert, welches sich auf das Verhindern einer Herzinsuffizienz konzentriert. Somit sind keine relevanten, beziehungsweise richtungsweisenden diagnostischen und therapeutischen Konsequenzen einer definitiven Diagnosestellung durch weitere genetische Untersuchungen zu erwarten». Ein Wiedererwägungsgesuch des Antrags ist zur Zeit in Bearbeitung.

Zusatz: Welche Resultate werden vermutet?

Befürchtet wird das Vorliegen einer pathogenen Variante eines jener Gene (LMNA, FLNC, RBM20, SCN5A, DES, PLN oder DSP), die neben der DCM auch zur Arrhythmie und Erkrankung des Reiz­leitungssystems prädisponiert. Diese haben eine schlechtere Pro­gnose als andere Ursachen. Bei einem positiven Befund würde ein spezialisierter Kardiologe / eine spezialisierte Kardiologin zugezogen, um angezeigte therapeutische Massnahmen einzuleiten. Falls medikamentös oder mit einem Herzschrittmacher nicht geholfen werden kann, steht die Herztransplantation zur Diskussion.

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Prof. em. Dr. med. Hansjakob Müller

Schönbeinstrasse 40
4031 Basel

hansjakob.mueller@unibas.ch

Der Autor hat keinen Interessenskonflikt in
Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Die molekulargenetische Abklärung einer Person mit Verdacht auf eine familiäre DCM ermöglicht dank einer frühzeitigen Diagnose das sofortige Einleiten der Behandlung und eine Verbesserung des Langzeitergebnisses (Verhinderung von Komplikationen) (3). Die Prognose der arrythmogenen Erkrankung hängt wesentlich von der zugrunde liegenden ursächlichen Mutation ab (4). Eine Zusammenfassung der für jedes Gen verfügbaren Daten kann über GeneReviews® und OMIM abgefragt werden.
◆ Interdisziplinarität ist bei der Erfassung und Beurteilung von Kardiomypathien angesichts der zahlreichen involvierten Gene und deren Varianten angezeigt, um deren Bedeutung für die medizinische Überwachung und Behandlung der betroffenen Personen zu erfassen und verstehen zu lernen. Analog zu den etablierten Tumorboards, die zunehmend durch «Molecular Tumour Boards» ergänzt werden, sind daher an grösseren Klinken auch Kardioboards einzurichten. Diese können Anträge für Kostengutsprachen zuhanden von Krankenkassen einreichen.
◆ Für Veranlagungen von Krebskrankheiten wurde in den
letzten Jahren dank international koordinierten Forschungsbemühungen grosse Fortschritte in der medizinischen Betreuung von Anlageträgerinnen/-trägern erzielt. Es ist zu hoffen, dass dies dank einer konzertierten genetischen Abklärung von Personen mit Kardiomyopathien ebenso der Fall sein wird und dass die diesbezüglichen Veranlagungen in Fachbüchern und Fachzeitschriften mehr Aufmerksamkeit gewinnen werden.
◆ Der Vertrauensarzt hat bei einer negativen Einschätzung eines Antrags zur Vergütung einer Orphan Disease-Position der Analysenliste gemäss den Richtlinien der Schweizerischen Gesellschaft für Medizinische Genetik (SGMG) und der Schweizerischen Gesellschaft der Vertrauens- und Versicherungsärzte (SGV) zu dessen Beurteilung einen Experten der SGMG zuzuziehen, was offensichtlich nicht geschah.

 

1. unispital-basel.ch/medizinische-genetik (Reiter: Formulare Medizinische Genetik»)
2. Jordan E, Hershberger RE. Berücksichtigung der Komplexität bei der genetischen Bewertung der dilatativen Kardiomyopathie. Herz 2021; 107: 106 -112
3. Hershberger RE et al: Genetische Bewertung der Kardiomyopathie: eine klinische Praxisressource des American College of Medical Genetics and Genomivs (ACMG) Genet Med. 2018; 20: 899-909