- Grenzen von Guidelines im klinischen Alltag
Trotz oder gerade weil die Guidelines eine grosse Bedeutung haben, ist es sinnvoll darüber nachzudenken, wo die Guidelines ihre Grenzen haben und wo sie im klinischen Alltag gar versagen. Die Grenzen ergeben sich aus den Grenzen der Studien, auf denen sie beruhen. Klinische Studien überprüfen vom Prinzip her in einer umschriebenen – durch Einschluss- und Ausschlusskriterien gewählten – Anzahl von Teilnehmenden den grösstmöglichen Nutzen und kleinsten Schaden einer Therapie (1). Um das zu erreichen, werden polymorbide Patienten, Schwangere sowie betagte und gebrechliche Patienten in der Regel von Studien ausgeschlossen (2). Deshalb gilt die aus einer Studie gewonnene Evidenz für die untersuchte Patientenpopulation und ist nur bedingt auf alle Patientengruppen übertragbar. Zur Illustration dieses Punktes seien die Studien, welche der Empfehlung einer doppelten Plättchenhemmung (DAPT) über 12 Monate nach einer Stentimplantation zugrunde lagen, erwähnt. Diese Studien belegten, dass eine DAPT die Rate an Stentthrombosen und ischämischen Ereignissen reduziert (3). Alle diese Studien schlossen aber Patienten mit hohem Blutungsrisiko (z.B. Alter >75 Jahre, gleichzeitige orale Antikoagulation, Leberschaden, frühere Blutungen, Karzinome etc.) aus. Erst als Studien zur DAPT bei Patienten mit hohem Blutungsrisiko durchgeführt wurden, zeigten sich die häufigen Blutungskomplikationen, die durch diese Empfehlung bei ihnen verursacht wurden (4). Die Guidelines sind in der Folge differenziert und angepasst worden.
Es ist somit problematisch den in randomisierten Studien gefundenen Nutzen einer Therapie für alle Patientengruppen anzunehmen. Noch schwieriger ist es deren Nutzen auf den einzelnen Patienten zu übertragen (5). Dazu müsste man wissen, wie hoch das Risiko des individuellen Patienten ist, den in der Studie festgelegten Endpunkt zu erleiden. Studienresultate werden als Mittelwerte kommuniziert (2, 5). Mit anderen Worten: Von einer Therapie oder Intervention werden einige profitieren, viele haben keinen Nutzen und ein Teil der Studienteilnehmer wird einen Schaden nehmen. Um beim Beispiel der Empfehlung DAPT über 12 Monate zu bleiben: In den Studien stand der Reduktion der ischämischen Ereignissen von 2-3% eine vermehrte Blutungsrate von ebenfalls 2-3% gegenüber (3). Über 90% der Patienten hatten weder einen Gewinn, noch einen Schaden durch die Therapie erfahren. Der in letzter Zeit neben dem Endpunkt für den Nutzen (Efficacy) eingeführte Endpunkt für die Sicherheit (Safety Endpoint) hilft da wenig. Wünschenswert wäre eine risikobasierte Evaluation der Studien (5): Wer profitiert wirklich und wem schadet die Intervention?
Die Guidelines formulieren allgemein gültige Empfehlungen. Dazu müssen die oft komplexen Studienresultate komprimiert und verallgemeinert werden. Die Empfehlungen gelten für alle – für Männer und Frauen, für alte und junge – unabhängig davon von welcher Patientengruppe die Evidenz stammt. Des Weiteren werden häufig Mittelwerte aus Studienresultaten als Zielwerte für Therapien oder als Schwelle für eine Intervention empfohlen. Die Problematik solcher Zielwerte kann anhand des folgenden Beispiels aufgezeigt werden. Der Zielwert für das LDL-Cholesterin in der Sekundärprävention beträgt <1,4 mmol/l (6). Dieser Zielwert beruht auf den Resultaten der IMPROVE-IT, der FOURIER und der ODISSEY Studie. Die Studien schlossen Patienten nach einem Myokardinfarkt oder Schlaganfall ein, wenn sie unter maximal tolerierter Statintherapie ein LDL>2,6 mmol/l aufwiesen. Durch die Gabe von Ezetimib oder eines PCSK-9 Inhibitors sank das LDL-Cholesterin auf einen Mittelwert von 1,4 mmol/l. Der Mittelwert bedeutet, dass bei der Hälfte der Patienten ein Wert von LDL-Cholesterin >1,4 mmol/l, bei der anderen Hälfte <1,4 mmol/l erreicht wurde. Die Patienten erfuhren also einen Nutzen durch die Medikamente, welche sie zusätzlich zum Statin erhielten, aber nicht durch das Erreichen des Zielwertes. Anzunehmen, dass wir bei allen Patienten, wie von den Guidelines empfohlen, einen LDL-Wert <1,4 mmol/l erreichen, wiederspricht der Evidenz aus den Studien, auf denen dieser Zielwert beruht.
Die Grenzen der Sinnhaftigkeit von strikter Anwendung der Guidelines beim individuellen Patienten wird bei polymorbiden Patienten offensichtlich. Für alle Komorbiditäten des polymorbiden Patienten bestehen Guidelines. Der Patient wird bei Guideline konformer Behandlung sehr viele Medikamente einnehmen müssen (7). Hinweise auf mögliche Medikamenteninteraktionen finden sich in keiner Guideline (7). Therapieentscheide aufgrund von aus Studiengruppen gewonnener Evidenz ist bei polymorbiden Patienten nicht möglich, weil sie nicht in Studien eingeschlossen sind. Bei polymorbiden Patienten muss der behandelnde Arzt zusammen mit dem Patienten die Prioritäten für die Therapie festlegen. Dazu ist ein Abwägen der zu erwartenden Morbidität und Mortalität und ein pathophysiologisches Verständnis der einzelnen Krankheiten nötig. Dieses Wissen ist nicht aus den Guidelines zu gewinnen.
Was bleibt zu tun? Guidelines sind hilfreich als Empfehlung, können aber nicht unbedacht angewendet werden. Guidelines entbinden uns nicht vom Reflektieren der Evidenz auf der sie beruhen und vom sorgfältigen Abwägen des Nutzens gegen den Schaden einer Therapie beim einzelnen Patienten, insbesondere beim betagten, polymorbiden Patienten.
Prof. Dr. med. Franz Eberli
Stadtspital Zürich Triemli
Klinik für Kardiologie
Birmensdorferstrasse 497
8063 Zürich
franz.eberli@triemli.zuerich.ch
1. Swedberg K. Fallacies in clinical cardiovascular trials. Heart. 2009;95(17):1464-8.
2. Rothwell PM, Mehta Z, Howard SC, Gutnikov SA, Warlow CP. Treating individuals 3: from subgroups to individuals: general principles and the example of carotid endarterectomy. Lancet. 2005;365(9455):256-65.
3. Giustino G, Baber U, Sartori S, Mehran R, Mastoris I, Kini AS, et al. Duration of dual antiplatelet therapy after drug-eluting stent implantation: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. J Am Coll Cardiol. 2015;65(13):1298-310.
4. Urban P, Meredith IT, Abizaid A, Pocock SJ, Carrie D, Naber C, et al. Polymer-free Drug-Coated Coronary Stents in Patients at High Bleeding Risk. N Engl J Med. 2015;373(21):2038-47.
5. Kent DM, Hayward RA. Limitations of applying summary results of clinical trials to individual patients: the need for risk stratification. JAMA. 2007;298(10):1209-12.
6. Mach F, Baigent C, Catapano AL, Koskinas KC, Casula M, Badimon L, et al. 2019 ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipidaemias: lipid modification to reduce cardiovascular risk. Eur Heart J. 2020;41(1):111-88.
7. Dumbreck S, Flynn A, Nairn M, Wilson M, Treweek S, Mercer SW, et al. Drug-disease and drug-drug interactions: systematic examination of recommendations in 12 UK national clinical guidelines. BMJ. 2015;350:h949.
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- April 2023