- Sollte Bluthochdruck beim multimorbiden älteren Patienten behandelt werden?
Die Vorteile der Behandlung von Bluthochdruck auf die kardiovaskuläre Mortalität und Morbidität sind offensichtlich und wurden in zahlreichen randomisierten kontrollierten Studien eindeutig nachgewiesen. Können diese Ergebnisse auch auf 80-Jährige, auf Menschen mit mehreren Komorbiditäten, auf Menschen, die zu der Gesundheitskategorie der Gefährdeten oder Abhängigen gehören, angewendet werden? Dieser Artikel fasst die verschiedenen Empfehlungen der Fachgesellschaften zusammen und stellt die Frage, ob sie bei älteren Menschen mit orthostatischer Hypotonie oder Polymedikation angewendet werden können, und schlägt Behandlungsziele vor, die an den funktionellen und kognitiven Zustand des Patienten angepasst sind.
The benefits of treating arterial hypertension on cardiovascular mortality and morbidity are obvious and have been clearly demonstrated by numerous randomised controlled trials. Can these results be applied to subjects in their eighties, those with multiple co-morbidities, or those in the vulnerable or frail health category? This article reviews the various recommendations made by Academic Societies, and looks at their application to frail or dependent elderly subjects suffering from orthostatic hypotension or with polymedication. It also suggests treatment goals specific to each patient’s functional and cognitive capacities.
Key Words: Hypertonie, Blutdruck, hohes Alter, Gebrechlichkeit
Die mit dem Alter zunehmende Steifheit der Arterien führt zu einem Anstieg des peripheren Gefässwiderstandes und des Blutdrucks. Die daraus resultierende isolierte systolische Hypertonie betrifft mehr als 75% der über 75-Jährigen unabhängig vom Geschlecht (1, 2). Sollte man ihnen deshalb ein blutdrucksenkendes Mittel verschreiben? Die kardiovaskulären Vorteile einer Senkung des Blutdrucks sind in der Literatur gut beschrieben. In einer australischen Metaanalyse, die 123 randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) und mehr als 613’000 Patienten umfasste, zeigte Ettehad, dass eine Senkung des systolischen Blutdrucks um 10 mmHg das Auftreten von schweren kardiovaskulären Ereignissen um 20%, die koronare Herzkrankheit um 28%, Schlaganfälle um 27% und die Mortalität aller Ursachen um 13% senkt (3). Ein weiterer systematischer Review (21 RC-Studien und 3 Beobachtungsstudien), in den nur Personen über 65 Jahre einbezogen wurden, ergab, dass eine Senkung des BD von 160 mmHg auf unter 150 mmHg die Mortalität, das Schlaganfallrisiko und die kardiovaskulären Ereignisse senkt (4).
Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2021 mit 320’000 Patienten (51 RC-Studien), davon über 187’000 über 65 Jahre und 60’000 über 75 Jahre, zeigte, dass eine Senkung des BD um 5 mmHg das Auftreten von kardiovaskulären Ereignissen in der Altersgruppe von 65 bis 85 Jahren um 9% reduzierte, während es bei Personen ab 85 Jahren keinen Nutzen gab (5).
Welche Informationen lassen sich aus Interventionsstudien herauslesen?
Im Jahr 2008 war die HYVET-Studie die erste RC-Studie, die den Nutzen einer blutdrucksenkenden Behandlung bei 80-Jährigen belegte, indem sie die Gesamtmortalität um 21% und die Herzinsuffizienz um 64% senkte (6). Die SPRINT- und STEP-Studien zeigen ebenfalls eine 25-prozentige Reduktion von Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch die Senkung des Zielblutdrucks auf Werte unter 120 mmHg (SPRINT) oder zwischen 110 und 130 mmHg (STEP) bei Personen über 66 Jahren in grossen Gruppen (9’361 bzw. 8’500 Teilnehmer) (7, 8).
Die Ergebnisse dieser Studien sind jedoch nur schwer auf eine gebrechliche ältere Bevölkerung übertragbar. Obwohl 25% der Teilnehmer der SPRINT-Studie älter als 75 Jahre waren, wurden gebrechliche Personen ausgeschlossen, d. h. Personen mit Diabetes, Herzinsuffizienz, Demenz, chronischer Niereninsuffizienz, orthostatischer Hypotonie und Personen, die in Pflegeheimen leben (9). Ausserdem ist die Methode der Blutdruckmessung (Ablesen durch ein automatisches Gerät in einem separaten Raum, ohne Anwesenheit einer Pflegeperson) ungewöhnlich und unterschätzt den Blutdruck, der normalerweise in Anwesenheit einer Pflegeperson oder eines Arztes gemessen wird (in der Regel um ca. 5 bis 10 mmHg) (10). In der STEP-Studie wurden auch institutionalisierte Personen und Personen mit Schlaganfällen in der Vorgeschichte ausgeschlossen, und der verwendete Gebrechlichkeitsindex ist sehr ungewöhnlich und nicht validiert.
In einer Sekundäranalyse von 6 randomisierten kontrollierten Studien (SPRINT, ACCORD BP, Cardio-sis, JATOS, VALISH, STEP) hat Tao 27’400 Personen mit einem Durchschnittsalter von 70 Jahren untersucht und gezeigt, dass eine Senkung des BDs auf unter 140 mmHg das Risiko eines kardiovaskulären Ereignisses um 21% senkt. Diese Intervention ist bei älteren Menschen sinnvoll, wenn ihre Lebenserwartung mehr als 3 Jahre beträgt (11).
Studien, in denen die ältesten Probanden zusammengefasst wurden
Die Assoziation von hohen Blutdruckwerten mit einer erhöhten kardiovaskulären Mortalität wird bei sehr alten Menschen nicht mehr systematisch beobachtet, insbesondere wenn sie als gebrechlich eingestuft werden und an mehreren Komorbiditäten leiden. In dieser Bevölkerungsgruppe ist die Beobachtung umgekehrt: Niedrige Blutdruckwerte sind mit einer erhöhten Mortalität verbunden! Sind dies die Folgen der Mehrfachmedikation, die in dieser Gruppe von abhängigen Personen häufig vorkommt, oder eine schwere Verschlechterung des Gesundheitszustands?
Von 2008 bis 2020 ermittelte Bogaerts 34 Leitlinien mit Empfehlungen zu Behandlungszielen für Bluthochdruck bei 80-Jährigen (12). Leider sind diese Leitlinien inkonsistent und richten sich eher nach dem chronologischen als nach dem biologischen Alter. 18 Leitlinien empfehlen einen systolischen Zielblutdruck von unter 150 mmHg, während 4 Leitlinien einen Zielblutdruck von 130 mmHg oder weniger vorschlagen. Nur 3 Studien berücksichtigen den Grad der Gebrechlichkeit bei der Bestimmung des empfohlenen Blutdruckwerts.
In einer Kohorte von 79’379 Personen (Durchschnittsalter 82,1 Jahre), die 4 bis 6 Jahre nachbeobachtet wurden und weder an Demenz, Krebs, koronarer Herzkrankheit, Schlaganfall, Herz- oder terminaler Niereninsuffizienz litten, beschreibt Delgado, dass die niedrigste Mortalität mit einem Blutdruckzielwert zwischen 145 und 155 mmHg in Verbindung steht (13). Die prospektive elektronische Aufzeichnung des Blutdrucks bei über 415’000 Personen im Alter von 79,5 Jahren, die nach dem Grad der Gebrechlichkeit (robust, leichte, mittlere oder schwere Gebrechlichkeit) unterteilt wurden, ergab, dass ein Blutdruck unter 130/80 mmHg die Sterblichkeit bei Personen im Alter von 75 Jahren und älter erhöht (14). In dieser Altersgruppe gab es keinen Zusammenhang mehr zwischen Bluthochdruck und Mortalität bei Patienten mit mässiger und schwerer Gebrechlichkeit. Mehrere Beobachtungsstudien bestätigen, dass ein systolischer Blutdruck von unter 140-150 mmHg bei sehr alten und gebrechlichen Menschen schädlich ist, insbesondere wenn sie in einer Einrichtung leben (15-18).
Die altersbedingten physiologischen Veränderungen, die Häufung von Komorbiditäten und die Mehrfachmedikation können das Risikoprofil älterer Menschen erheblich verändern und die erhöhte Mortalität erklären, die mit einem Blutdruck von unter 130 mmHg einhergeht, ohne dass das kardiovaskuläre Risiko reduziert wird. Bei dieser Bevölkerungsgruppe kann die erhöhte Sterblichkeit auf eine längere Lebenszeit mit niedrigen Blutdruckwerten zurückzuführen sein, die mit Krebs, Demenz, Herzinsuffizienz oder allgemeiner Gebrechlichkeit in Verbindung steht (19, 20).
Die Prävalenz der orthostatischen Hypotonie steigt mit zunehmendem Alter (20 % bei über 60-Jährigen, über 50 % bei Heimbewohnern), und die Dysfunktion der Barorezeptoren ist bei dieser Personengruppe zu beachten. Diuretika und Antihypertensiva, die die sympathische Aktivität hemmen, wie Betablocker und Antipsychotika, erhöhen das Risiko für orthostatische Hypotonie erheblich (21).
Neueste Guidelines
Im August 2022 fasste Paul K Whelton, beeinflusst von den Ergebnissen der SPRINT- und STEP-Studien, in einer Veröffentlichung im European Heart Journal die neuesten europäischen (2018) und US-amerikanischen (2019) Leitlinien zusammen, die auf die Empfehlungen für die Behandlung von Bluthochdruck abzielen (22). Vor kurzem hat die Europäische Gesellschaft für Hypertonie (ESH) die neuen Empfehlungen 2023 veröffentlicht, in denen sie Behandlungsschwellen und -ziele je nach Gesundheitskategorie des älteren Menschen vorschlägt (23). Bevor eine Behandlung eingeleitet wird, sollte der Grad der Gebrechlichkeit des Patienten beurteilt werden (z.B. mithilfe der validierten Skala des klinischen Gebrechlichkeitsscores), wobei die Bewertung der Aktivitäten des täglichen Lebens, der funktionelle Score, der kognitive Status und die Auswirkungen von Komorbiditäten zugrunde gelegt werden sollten, um drei Patien-tenkategorien zu definieren: robust, verletzlich und abhängig (23-24).
Ein BD-Zielwert von unter 130/80 mmHg, aber nicht unter 120/70 mmHg, wird für alle erwachsenen Hypertoniker empfohlen, wenn die Verträglichkeit gut ist. Die Empfehlung gilt auch für ältere Menschen ab 65 Jahren, sofern sie sich nicht in einem Pflegeheim befinden und die eingeleitete Behandlung gut vertragen wird. Bei älteren Menschen mit schweren Komorbiditäten und begrenzter Lebenserwartung (abhängige Kategorie) sollte die Wahl und Intensität der antihypertensiven Therapie unter Berücksichtigung der klinischen Beurteilung, der Nutzen-Risiko-Abwägung und der Präferenzen des Patienten erfolgen.
Bei 80-Jährigen sollte das Behandlungsziel 150/90 mmHg betragen, wobei der Blutdruck im Stehen und an beiden Armen gemessen werden sollte (23, 25). Wenn die medikamentöse Behandlung schlecht vertragen wird, der BD unter 130 mmHg liegt oder eine orthostatische Hypotonie vorliegt, sollte das Absetzen des Antihypertensivums stark in Betracht gezogen werden (Depressivität) (23).
Schlussfolgerung
Obwohl die meisten grossen randomisierten Studien zur Senkung des systolischen Blutdrucks bei älteren Menschen unbestreitbar einen positiven Effekt auf das kardiovaskuläre Risiko und das Auftreten von Schlaganfällen belegen, ist die Auswahl der in diese Studien eingeschlossenen Hypertoniker mit Vorsicht zu geniessen. Wie können diese Ergebnisse auf polymorbide und gebrechliche ältere Menschen übertragen werden, von denen die meisten bei der Randomisierung ausgeschlossen wurden?
Bei Menschen in den Achtzigern und darüber sowie bei gebrechlichen Menschen sollten das biologische Alter, der Grad der Gebrechlichkeit, die Lebenserwartung und die Zeit bis zum Erreichen des Nutzens der vorgeschlagenen Behandlung berücksichtigt werden, bevor in einer gemeinsamen und personalisierten Entscheidung über das angestrebte Ziel befunden wird, wobei die Präferenzen des Patienten oder seine Patientenverfügung zu berücksichtigen sind.
Übersetzung aus la gazette médicale 06-2023
Copyright Aerzteverlag medinfo AG
Hôpital du Valais (RSV) /
Centre Hospitalier du Valais Romand (CHVR)
Avenue de la fusion 27
1920 Martigny
Der Autor hat keinen Interessenskonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
◆ Hohe Blutdruckwerte sind bei robusten älteren Menschen mit einer erhöhten kardiovaskulären Mortalität verbunden.
◆ Bei älteren Menschen, die durch zahlreiche Komorbiditäten geschwächt sind, erhöhen niedrige Druckwerte die Mortalität.
◆ Die Häufigkeit der orthostatischen Hypotonie steigt mit dem Alter und bei Bewohnern von Pflegeheimen.
◆ Bei älteren Menschen sollte der Blutdruck auch im Stehen gemessen werden
◆ Im Alter von 80 Jahren und älter sollte der Zielblutdruck bei
150/90 mmHg liegen.
1. Chobanian AV. Isolated systolic hypertension in the elderly. N Engl J Med 2007; 357:789-96.
2. Buford TW. Hypertension and aging. Ageing Res Rev. 2016; 26:96–111.
3. Ettehad D, Emdin CA, Kiran A, et al. Blood pressure lowering for prevention of cardiovascular disease and death: a systematic review and meta-analysis. Lancet 2016; 387:957-67.
4. Weiss J, Freeman M, Low A, et al. Benefits and harms of intensive blood pressure treatment in adults aged 60 years or older. Ann Intern Med. 2017; 166:419-29.
5. Blood Pressure Lowering Treatment Trialist’ Collaboration. Age-stratified and blood-pressure-stratified effects of blood-pressure-lowering pharmacotherapy for the prevention of cardiovascular disease and death: an individual participant-level data meta-analysis. Lancet 2021; 398:1053-64.
6. Beckett NS, Peters R, Fletcher AE, et al. Treatment of hypertension in patients 80 years of age or older. N Engl J Med 2008; 358:1887-98.
7. The SPRINT Research Group. A randomized trial of intensive versus standard blood-pressure control. N Engl J Med 2015; 373:2103-16.
8. Zhang W, Zhang S, Deng Y, et al. Trial of intensive blood-pressure control in older patients with hypertension. N Engl J Med 2021; 385:1268-79.
9. Williamson JD, Supiano MA, Applegate WB, et al. Intensive vs standard blood pressure control and cardiovascular disease outcomes in adults aged ≥75 years. JAMA 2016; 315:2673-82.
10. Sheppard JP, Lown M, Burt J, et al. Generalizability of blood pressure lowering trials to older patients. Cross-sectional analysis. J Am Geriatr Soc 2020; 68:2508-15.
11. Chen T, Shao F, Chen K, et al. Time to clinical benefit of intensive blood pressure lowering in patients 60 years and older with hypertension. JAMA Intern Med 2022; 182: 660-67.
12. Bogaerts JM, von Ballmoos LM, Achterberg WP, et al. Do we agree on the targets of antihypertensive drug treatment in older adults: a systematic review of guidelines on primary prevention of cardiovascular diseases. Age and Ageing 2022; 51:1-14.
13. Delgado J, Masoli JAH, Bowman K, et al. Outcomes of treated hypertension at age 80 and older: cohort analysis of 79 376 individuals. J Am Geriatr Soc 2017; 65:995-1003.
14. Masoli JAH, Delgado J, Pilling L, et al. Blood pressure in frail older adults: associations with cardiovascular outcomes and all-cause mortality. Age and Ageing 2020; 49:807-13.
15. Odden MC, Beilby PR, Peralta CA. Blood pressure in older adults: the importance of frailty. Curr Hypertens Rep 2015; 17:55.
16. Ogliari G, Westendorp RG, Muller M, et al. Blood pressure and 10-year mortality risk in the Milan Geriatric 75+ Cohort Study: role of functional and cognitive status. Age and Ageing 2015; 44:932-37.
17. Benetos A, Labat C, Rossignol P, et al. Treatment with multiple blood pressure medications, achieved blood pressure, and mortality in older nursing home residents. JAMA Intern Med. 2015; 175:989-95.
18. Douros A, Tölle M, Ebert N, et al. Control of blood pressure and risk of mortality in a cohort of older adults: the Berlin initiative study. Eur Heart J 2019; 40:2021-28.
19. Masoli JAH, Sheppard JP, Rajkumar C. Hypertension management in older patients – Are the guideline blood pressure targets appropriate? Age and Ageing 2022; 51:1-3.
20. Delgado J, Bowman K, Ble A, et al. Blood pressure trajectories in the 20 years before death. JAMA Intern Med 2018; 178: 93-9.
21. Bhanu C, Nimmons D, Petersen I, et al. Drug-induced orthostatic hypotension: a systematic review and meta-analysis of randomised controlled trials. PLoS Med 2021; 18(11): e1003821.
22. Whelton PK, Carey RM, Mancia G, et al. Harmonization of the American College of Cardiology/ American Heart Association and European Society of Cardiology/European Society of Hypertension Blood Pressure/ Hypertension Guidelines. Eur Heart J 2022; 43: 3302-11.
23. Mancia G, Kreutz R, Brunstrom M, et al. 2023 ESH Guidelines for the management of hypertension. Journal of Hypertension 2023 Jun 21. doi: 10.1097/HJH.0000000000003480.
24. Abraham P, Courvoisier DS, Anweiler C, et al. Validation of the clinical frailty score (CFS) in French language. BMC Geriatrics 2019; 19:322.
25. Mattace-Raso F, Rajkumar C. Medicine is a science of uncertainty and an art of probability. Blood pressure management in older people. Age and Ageing 2021; 50:59-61
info@herz+gefäss
- Vol. 14
- Ausgabe 1
- Februar 2024