- Vaduzer Diabetes Symposium
Am 30. Oktober 2019 fand die Abendfortbildung für Hausärzte in Liechtenstein in Vaduz statt. Dabei wurden praxisrelevante Inhalte aus der Diabetologie für den klinischen Alltag besprochen. Prof. em. Dr. med. Giatgen Spinas führte durch den Abend.
Die Rolle der Ernährungsberatung bei der Diabetesbehandlung
Die Diabetesbehandlung fusst auf der interdisziplinären Zusammenarbeit der Ernährungsberatung, der Diabetesberatung, des Hausarztes und des Endokrinologen, wobei der Patient mit Diabetes im Mittelpunkt steht, stellte Frau Bettina Graber-Jehle, dipl. Ernährungsberaterin HF, Schaan, fest.
Die Ziele der ernährungstherapeutischen Intervention sind die Senkung des Blutzuckers in den Normalbereich, ein normales Blut-Lipid-Profil und ein Blutdruck im Normalbereich. Adipöse Patienten sollen das Zielgewicht erreichen und es halten. Spätkomplikationen gilt es zu vermeiden oder zu verzögern. Die Patienten sollen die Freude am Essen beibehalten und z.B. den massvollen Genuss von Süssigkeiten einplanen, so die Referentin.
Das ernährungstherapeutische Kurzprinzip DM2 besteht aus Gewichtsreduktion bei Adipositas. Kohlenhydratquantität: Kohlehydratmenge definieren, Zwischenmahlzeiten definieren, Kohlenhydratqualität: Glykämischer Index. Ausreichende Aufnahme von Nahrungsfasern anstreben. Zucker maximal 10% der Gesamtenergie, bei guter Blutzuckereinstellung. Alkohol bis zu 10 g/Tag (Frauen) bzw. bis zu 20 g/Tag (Männer).
Die Ernährungsberatung hat in Bezug auf Kohlenhydrate unterschiedliche Ziele, je nach Diabetestyp, Typ 1 oder Typ 2 , Typ 2 mit und ohne Insulin, Gestationsdiabetes mit und ohne Insulin, speziellen Formen von Diabetes und Diabetes mit Adipositas.
Die Schulungsmethoden umfassen das Tellermodell, Kohlenhydrat-Austauschtabellen, individuelle Ernährungspläne, Essprotokolle zum Anleiten, Auswerten und optimieren und zum Visualisieren der Kohlenhydrate. Das Tellermodell soll zusätzlich zu der gängigen Darstellung der Lebensmittel-Pyramide verdeutlichen, wie viel von welcher Lebensmittelgruppe verzehrt werden soll. Durch die einfache Darstellung in Form eines «gesunden Tellers» sollen die Verbraucher auf leicht verständliche Weise dabei unterstützt werden, ein gesundes Essverhalten zu entwickeln.
Die Referentin zeigte anhand von Illustrationen die Kohlenhydratmenge, die in verschiedenen Nahrungsmitteln enthalten sind: z.B. 10 g in 3 Würfeln Zucker oder 6 Erdbeeren, 20 g in 6 Würfeln Zucker oder einer Banane, 40g in 12 Würfeln Zucker oder einem Hamburger.
Bezüglich Auswirkungen von Kohlenhydraten auf den Blutzucker ist nicht nur wichtig, wie viel man davon einnimmt, sondern auch aus welcher Quelle sie stammen. Einige Nahrungsmittel verursachen einen schnellen Anstieg des Blutzuckers nach einer Mahlzeit, während andere einen langsameren Anstieg und eine gleichmässigere Abnahme verursachen. Zur Messung, wie schnell ein Nahrungsmittel einen Anstieg des Blutzuckers verursacht, dient der Glykämische Index. Beispiele für glykämische Indizes sind in der Tabelle 2 wiedergegeben.
Faktoren, die die Verdauungsgeschwindigkeit beeinflussen sind Fett und Eiweissgehalt der Nahrung, Alkohol, Gehalt und Art der Nahrungsfasern sowie Verarbeitungsgrad und Zubereitung.
Frau Graber-Jehle zeigte anschliessend das Beispiel einer 61-jährigen Patientin mit frisch diagnostiziertem Diabetes Typ 2, Hypercholesterinämie und Hypertonie, Adipositas Grad I (BMI 34), 100 kg bei 172 cm, HbA1c 7.8%, 100% berufstätig. Die Patientin hat in den letzten 20 Jahren 30 kg zugenommen. Bewegungsanamnese: sitzender Beruf, 3 x pro Woche Tennis, Grundumsatz liegt bei 1600 kcal. Ernährungsanamnese: Frühstück: 2 dl Orangensaft, 1 Gipfeli. Mittagessen: unregelmässig Menu im Personalrestaurant, Wasser, Espresso. Zvieri: 1 Nussgipfel oder 1 Brancheli. Abendessen: 1 grosse Portion Spaghetti Bolognese oder 3 Scheiben Brot mit Käse. Getränke tagsüber: Wasser und Espresso, Wochenende 1 Glas Rotwein. Die Ernährung ist kohlenhydratreich und nahrungsfaserarm. Die Ernährungsdiagose zeigt eine übermässige Aufnahme ungeeigneter Kohlenhydrate aufgrund mangelnden Ernährungswissens, wie die HbA1c-Entgleisung und die Adipositas anzeigen.
Als ernährungstherapeutisches Kurzprinzip bei Diabetes Typ 2 nannte die Referentin: Gewichtsreduktion bei Adipositas mit moderner Low-carb-Ernährung. Kohlenhydrat-Qualität: Glykämischen Index beachten, flüssige Kohlenhydrate stoppen, ausreichende Aufnahme von Nahrungsfasern anstreben, maximal 10% der Gesamtenergie in Form von Zucker bei guter Blutzuckereinstellung einnehmen und Alkohol bis 10 g pro Tag (Diabetes Care 2008; 31: Suppl 1: 61-78, Diabetes Care 2014; 37: Suppl. 1: 14-80 ).
Die Patienten sollen den Umgang mit Süssigkeiten bei Diabetes lernen. Im Anschluss an eine Mahlzeit sollte nur eine Hand voll zuckerhaltiges Dessert eingenommen werden. Die weitere Ernährungsintervention umfasst auswärtige Mahlzeiten, deren Fettqualität und -quantität, das Weiterführen von Essprotokollen, Menügestaltung, Blutzuckerselbstmessungen, Vermeidung von Stress- und Frustessen.
Standortsituation der Patientin vier Monate nach Ernährungsintervention: HbA1c von 7.8% auf 6.8% verbessert, Körpergewicht um 8kg gesenkt (Low-carb-Diät mit 1-2 KH-haltigen MZ/Tag). Die Patientin geht neu zu Fuss zur Arbeit (1/2 bis 1h Bewegung pro Tag).
Low-carb-Diäten sind Kohlenhydratquellen mit niedrigem glykämischem Index (Vollkornbrot und Hülsenfrüchte), Fisch, Meeresfrüchte, Raps- und Olivenöl. Menschen mit Diabetes profitieren von Low-carb-Diäten, mit denen die Gewichtsreduktion erfolgreicher ist als mit Low-fat-Diäten, betonte die Referentin.
Typ 2 Diabetes 2019
Zur Definition des Diabetes nannte Dr. med. Niklaus Kamber, Chur, die Glukose (Nüchternglukose, Zufallsglukose, HbA1c, Glukosewerte über einer statistisch ermittelten statistischen Normgrenze nach oraler Belastung). Diabetes kann aber auch aufgrund der Ätiologie klassifiziert werden: Diabetes mellitus Typ 1 :Immunologisch (Typ 1A), Sondertyp: LADA, Idiopathisch (Typ 1B), Diabetes mellitus Typ 2, weitere spezifische Diabetestypen (Typ 3): Genetische Defekte der β-Zellfunktion: MODY Gestationsdiabetes (Typ 4) sowie Diabetes unbekannter Ätiologie (Kombination von Insulinsekretionsdefekt und Insulinresistenz). Der Referent zeigte, dass in den letzten Dekaden die Mortalitätsraten in der Allgemeinbevölkerung substanziell abgenommen haben, dass dies aber für Patienten mit Diabetes weniger der Fall ist. Er erwähnte die wichtigsten Studien vor den Gliflozinen, die UKPDS-Studie, die zeigte, dass unter Blutzuckersenkung die mikro- und makrovaskulären Komplikationen bei Typ 2 Diabetes gesenkt werden. In den nachfolgenden Studien ACCORD, ADVANCE und VADT stellte sich allerdings kein Unterschied zwischen intensiver und Standardtherapie im Hinblick auf makrovaskuläre Ereignisse ein. Im Jahr 2009 empfahl die Expertengruppe der Schweiz .Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) zur Behandlung des Typ 2 Diabetes ein zweistufiges Schema mit einer Lifestylemodifikation plus Metformin in der ersten Stufe und Sulfonylharnstoff oder Glinid in der zweiten Stufe. Wenn HbA1c immer noch > 7 zusätzlich Glitazon oder DPP-4 Hemmer oder ein GLP-1 Analogon. Falls HbA1c immer noch > 7 wird zusätzlich lang wirksames Insulin empfohlen und falls HbA1c noch > 7 soll eine intensivierte Insulintherapie (Basis Bolus) angewendet werden. Der Referent erwähnte die Empfehlung der American Diabetes Association (ADA) und der European Association for the Study of Diabetes (EASD) aus dem Jahr 2012, die ebenfalls Metformin und Lifestyleänderungen als erste Stufe vorschlagen, danach eine Zweierkombinationstherapie (Metformin + Sulfonylharnsoff, Metformin + Thiazolidindione, Metformin + DPP-4 Inhibitoren, Metformin + GLP-1 RA, Metformin + Insulin (gewöhnlich basal) und falls notwendig eine Kombination aus 3 Medikamenten.
Im März 2014 wurde der erste SGLT2-Hemmer verfügbar, Canagliflozin (Invokana®). Inzwischen sind mit Empagliflozin (Jardiance®) und Dapagliflozin (Forxiga®) weitere SGLT2-Hemmer zugelassen. Sie führen über die Hemmung der Rückresorption aus dem Tubulus zu Glukosurie. Die Patienten verlieren substantiell Glukose über den Urin. Der glukosesenkende Effekt ist mässig, aber in der EMPA-REG-Studie mit Empagliflozin konnte nicht nur eine Senkung der kardiovaskulären Mortalität, sondern erstmals auch eine Senkung der Gesamtmortalität um 32% gezeigt werden.
Eine weitere wichtige Etappe in der Diabetesbehandlung war die Einführung der GLP-1 Rezeptoragonisten Semaglutid, Liraglutid und Exenatid. Sie senken nicht nur den Blutzucker, sondern auch das Körpergewicht und sowie die kardiovaskuläre Mortalität. Entsprechend sind sie in die Guidelines der SGED 2015 aufgenommen worden. Die Empfehlungen setzen auf individualisierte HbA1c-Ziele, die spezifische Behandlung empfiehlt SGLT2-Hemmer bei Herz- und Niereninsuffizienz und GLP-1 RA nach Metformin bei Übergewicht.
Der Referent schloss mit einem Fallbeispiel:
Fallvignette: Herr A*1975
Diagnose 2001. Zufallsbefund bei «Routineuntersuchung». Gewicht 119 kg (Grösse 1.76m, BMI 38.42 kg/m2). Behandlung mit Metformin (2x 1000 mg/Tag). 2003 zusätzlich Glibenclamid bei HbA1c von 8.2%. Gewicht 118 kg. Bis 2008 HbA1c unter unveränderter Therapie 7.5% und 8.6% (keine Dokumentation des Gewichts). Neu ab 2008 Sitagliptin. 2010 HbA1c unter obiger Therapie 10.2%. 97 kg. Kein Krankheitsbewusstsein. Er sei vielleicht etwas müde, vielleicht müsse er nachts etwas mehr aufs Klo, vielleicht sehe er etwas schlechter.
Oktober 2010 Beginn mit Insulin Glargin (Lantus®) Sitagliptin und weiterhin Metformin. April 2011 HbA1c 7.5%. Gewicht 94 kg, November 2011 HbA1c 8.3%, Gewicht 98kg. Sitagliptin-Stopp. Beginn mit Liraglutid (Victoza®). Dezember 2012 HbA1c 6.6%, Gewicht 91 kg, Liraglutid (Victoza®) 1.8mg/Tag). Bis März 2015 Gewichtszunahme auf 95 kg, HbA1c 7.9%.
Massnahmen:
Entsprechend den Guidelines vermehrte körperliche Aktivität, Metformin, bei Herz- und Niereninsuffizienz SGLT2-Inhibitor, bei BMI > 28 und hohem kardiovaskulärem Risiko GLP-1-RA , unterstützt durch körperliche Aktivität und diätetische Massnahmen, so die Empfehlungen des Referenten.
Diabetes Typ 1 unterwegs
Über Altbewährtes und Neues zu Epidemiologie, Diagnose, Blutzuckermessung und Therapie referierte Frau Dr. med. Silvia Schmid, Chur. Der Typ 1 Diabetes entsteht durch Zerstörung der insulinproduzierenden Zellen des Pankreas infolge von Autoimmunprozessen, begünstigt durch eine genetische Prädisposition und Umweltfaktoren. Dank der Entdeckung des Insulins durch Fredrick Grant Banting und Charles Best im Jahre 1921 kann diese vorher tödliche Krankheit behandelt werden. Typ 1 Diabetes ist die häufigste Stoffwechselkrankheit und nach Asthma die zweithäufigste chronische Krankheit bei Kindern (8 Kinder pro 100 000 Personenjahre im Jahr 1990 und 15 Kinder im Jahr 2015). In der Schweiz werden jährlich 220 neue Fälle bei Kindern und Jugendlichen festgestellt. Bei Erwachsenen beträgt die Inzidenz 7 pro 100 000 Personenjahre, und rund 500-600 Erwachsene mit Typ 1 Diabetes werden pro Jahr in der Schweiz entdeckt. Die klinische Diagnose fusst auf Durst, Harndrang, Gewichtsverlust und Müdigkeit. Neben der Klinik umfasst die Diagnose den Blutzuckerwert, HbA1c und die diabetesspezifischen Autoantikörper. Die diagnostischen Kriterien sind Blutzuckerwerte nüchtern ≥7mmol/l oder ≥ 11.1mmol/l im oGTT oder HbA1c ≥ 6.5% oder Plasmaglukose 11.1 mmol/l zu einem beliebigen Zeitpunkt plus die klassischen Hyperglykämiesymptome. Autoimmunitätsmarker sind Autoantikörper gegen Glutamatdecarboxylase (GAD), Antikörper gegen Tyrosin-Phosphatase (IA2), Antikörper gegen Zinktransporter-8 (ZnT8), Insulin-Autoantikörper (IAA). Wichtig bei Kleinkindern: Inselzell-Antikörper (ICA)-Sensitivität von 96%.
Eine spezielle Form ist der LADA (Late onset autoimmune diabetes in the adult): Zuerst wird ein Diabetes mellitus Typ 2 diagnostiziert. Vermutlich haben ca. 10% der Typ 2 Diabetiker Typ 1 Diabetes (kein Übergewicht, Alter < 50 Jahre, weitere Autoimmunerkrankungen beim Patienten oder in Familie, rascher Wirkverlust der oralen Antidiabetika, gutes Ansprechen auf Insulin).
Der Goldstandard in der Therapie ist die funktionelle Insulintherapie (FIT), dabei ist das Ziel, die Insulinsekretion eines Gesunden möglichst genau nachzuahmen. Die Therapie erfolgt mit schnell wirkenden und langwirkenden Insulinanaloga (Tab. 2).
Therapieziel HbA1c
HbA1c widerspiegelt indirekt den Blutzuckerspiegel der letzten 3 Monate. Es zeigt einen hohen Vorhersagewert für diabetesbedingte mikro- und makrovaskuläre Komplikationen. Es gibt aber keine Auskunft über die Schwankungsbreite des Blutzuckers. Das HbA1c-Ziel ist < 7.5% für alle pädiatrischen Altersgruppen, bei Erwachsenen ist es < 7.9%.
Die kombinierte Beurteilung der Blutzuckerkontrolle erfolgt mit Blutzuckerprofilen (CGMS), durch die Zeit im Zielbereich (3.9-10 mmol/l). Diese sollte so hoch wie möglich sein.
Messmethoden von Gewebezucker
- Flash-Glucosemesssystem (FGM)
- Continuous Glucose Monitoring System (CGMS)
Therapie mit Insulinpumpen
Das G670-System
- Verbesserung der BZ Einstellung: leichte Abnahme des HbA1c um etwa 0.3 %; deutliche Abnahme der Blutzuckerschwankungen und der Hypoglykämiefrequenz; viel bessere Blutzuckerkontrolle in der Nüchternphase (Nacht)
- Vereinfachung im Alltag: Ja (Nacht, nach Pizza und Sport einfacher einzustellen); Nein: Viele Alarme brauchen anfänglich viel Nerven); Geeignet sind Personen, die die Pumpe mit Katheter und CGMS (100%) akzeptieren, die bereit sind VOR jeder Mahlzeit Bolus abzugeben + Kohlenhydratmenge bestmöglich zu beurteilen.
- Neueste Daten mit einem nicht an den Fc-Rezeptor bindenden monoklonalen CD3-Antikörper (Teplizumab) zeigten, dass diese Therapie die Progression zu klinischem Diabetes Typ 1 bei Hochrisikopersonen verzögert.
- Das Therapiesetting erfolgt bei Kindern eher stationär, bei Erwachsenen eher ambulant: Die ambulante Ersteinstellung wird bei Kindern in Zürich seit 2006 durchgeführt. Aus medizinischer Sicht sind über 90% ambulant einstellbar.
Bezüglich Diabetes Typ 1 schloss die Referentin mit der Ermahnung: Denkt dran!
Quelle: Abendfortbildung für Hausärzte in Lichtenstein. Vaduz, 30. Oktober 2019
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