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Der richtige Zeitpunkt für die Palliative Care

Die Palliative Care will die Lebensqualität von Patienten mit fortgeschrittenen Krankheiten optimieren. Eine frühzeitige Integration zur bestehenden onkologischen und radioonkologischen Behandlung führt zu einem Benefit in Bezug auf Beschwerdelinderung, Umsetzung von Präferenzen bei der Therapie, der Vermeidung von Übertherapien sowie zur ­Kostenreduktion. Trotzdem erfolgt das Einschalten der Palliative Care häufig zu spät. Patienten mit einer onkologischen Behandlung profitieren von einer frühzeitigen parallelen palliativmedizinischen Behandlung, die spätestens 3 Monate nach Diagnosestellung aufgegleist werden sollte.



Einleitung

Das Ziel der Palliative Care lautet die Lebensqualität von Patienten mit fortgeschrittenen Krankheiten zu verbessern. Obwohl in diversen Studien ein Benefit bei der Beschwerdelinderung, dem Umsetzen von Präferenzen bei der Therapie, der Vermeidung von Übertherapien sowie eine Kostenreduktion nachgewiesen werden konnte, erfolgt häufig eine verzögerte Konsultation von spezialisierten Palliative Care Teams.

Die Palliative Care ist eine medizinische Disziplin, die immer wieder mit verschiedensten Missverständnissen konfrontiert wird. Häufig wird sie von Patienten, Angehörigen, aber auch von Fachpersonal, mit dem unmittelbaren Lebensende, höheren Kosten oder auch dem Stopp jeglicher krankheitsspezifischen Behandlungen assoziiert. Dieses Missverständnis führt dazu, dass wiederholt eine zu späte Integration erfolgt.

Neben einer tumorspezifischen Therapie, die insbesondere von Onkologen und Radioonkologen initiiert wird, sollte frühzeitig auch die Palliative Care hinzugezogen werden. Die Überlebenszeit von Betroffenen mit nicht heilbaren onkologischen Krankheiten hat sich in den letzten Jahren dank der verschiedensten Behandlungsoptionen deutlich gewandelt (1). Die Komplexität nimmt durch die verlängerte Dauer mit einer Erkrankung jedoch auch zu (2). Dieser Umstand führt beim Behandlungsteam zu einer zunehmenden Herausforderung und erhöhten Ansprüchen.

Eigenheiten der Palliative Care

Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt die Palliative Care möglichst frühzeitig zu involvieren und bezeichnet dies als Early Palliative Care. Dabei sollen Beschwerden der Betroffenen aus somatischen, psychischen, sozialen, spirituellen und kulturellen Aspekten erfasst und angegangen werden (3). Advanced Care Planing als vorausschauende Therapieplanung mit Erfassung der Wertvorstellungen und der Beachtung der Autonomie der Patienten ist ebenfalls ein wichtiger Bereich der Palliative Care.

Das bio-psycho-sozio-spirituelle & kulturelle Modell

Palliativpatienten können gemäss dem modifizierten bio-psycho-sozio-spirituellen und kulturellen Modell nach Engel beurteilt werden (4) (Abb. 1). Dabei werden die somatischen Beschwerden wie Schmerzen, Atemnot, Übelkeit und andere erfasst und behandelt. Eine fortgeschrittene Erkrankung zeichnet sich jedoch auch mit einer psychischen Belastung aus. Diesen Teil der Krankheit kann mit einer psychologischen bzw. psychiatrischen Unterstützung günstig beeinflusst werden. Daneben müssen soziale Eigenheiten wie der gewünschte Behandlungsort, das familiäre Umfeld, berufliche und finanzielle Fragen eruiert werden. Die spirituellen Ansichten mit Sinnfragen und religiös-existenziellen Aspekten sind eine wichtige Komponente bei fortgeschrittenen Krankheiten (5). Eine zusätzliche, das Leiden verstärkende Komponente kann bestehen, wenn die Betroffenen aus einer fremden Kultur stammt und das Behandlungsteam sich diesen Eigenheiten nicht bewusst wird (6). Eine Evaluation sämtlicher dieser Bereiche ist ein Merkmal der Palliative Care.

Die American Society of Clinical Oncology (ASCO) empfiehlt, die Palliative Care innerhalb von 8 bis 12 Wochen nach Diagnosestellung eines fortgeschrittenen Tumorleidens hinzuzuziehen (7). Trotzdem haben nur wenige Patienten im letzten Lebensjahr Zugang zur Palliative Care und dies, obwohl eine frühzeitige Involvierung als sehr wichtig angesehen wird. Die wegbereitende Studie von Temel et al. konnte einen signifikanten Benefit in Bezug auf Beschwerdelinderung, reduziertem Ausmass an Therapien sowie Kostenrückgang bei einer frühzeitigen Integration der Palliative Care dokumentieren (8). Aufgrund der lange bestehenden sehr guten Lebensqualität mit einer raschen Verschlechterung in einer kurzen Zeit wird der Bedarf nach palliativmedizinischer Betreuung unterschätzt. Falls die Palliative Care erst dann involviert wird, wenn sich der Allgemeinzustand rapide verschlechtert, können wichtige Aspekte vernachlässigt werden.

Der richtige Zeitpunkt

Es zeigt sich, dass die Identifikation von Patienten, welche von Early Palliative Care profitieren können, schwierig sein kann. Dies insbesondere, weil sich die Behandlungsoptionen und die Prognose in den letzten Jahren gewandelt haben. Der geeignete Zeitpunkt für eine frühzeitige Palliative Care wird kontrovers beurteilt. Mögliche Trigger werden eine erwartete Lebenszeit von weniger als 12 Monaten, ein Progress nach palliativer Erstlinientherapie sowie ein ECOG (Eastern Cooperative Oncology Group) Status Grad 2 oder höher definiert (1). Ebenso kann eine Belastung von Angehörigen ein sinnvoller Zeitpunkt sein. Da die Definition eines genauen Zeitpunktes schwierig ist, soll bereits bei der Diagnosestellung daran gedacht werden, die Palliative Care hinzuziehen und in die Behandlung zu integrieren.

Hauptmerkmal

Das Ziel einer palliativen Betreuung besteht darin, die verbleibende Lebenszeit günstig beeinflussen zu können. Dies soll nicht erst nach Abschluss der krankheitsspezifischen Behandlung erfolgen. Es handelt sich deshalb um eine parallele Behandlung und nicht um eine sequentielle Behandlung. Dieser Umstand muss einerseits dem Team der Palliative Care bewusst sein, denn eine tumorspezifische Behandlung wie Immuntherapie, Chemotherapie oder Bestrahlung wird trotz der Integration der Palliative Care weiterhin eingesetzt. Andererseits muss auch von Onkologen und Radioonkologen ein frühzeitiger Einsatz der Palliative Care als Ergänzung der Behandlung angesehen werden.

Nutzen

Der Benefit einer frühen Involvierung der Palliative Care zeigt sich mit einer Verbesserung der somatischen Beschwerden, des Gemütszustandes sowie einer früheren Besprechung von Wünschen betreffend der Gestaltung des Lebensendes. Weiter kann eine bessere Therapie der Beschwerden sowie einer höheren Zufriedenheit bei der Behandlung im Allgemeinen beobachtet werden. Da die Palliative Care ebenfalls die Angehörigen miteinbeziehen will, kann auch bei diesen eine Reduktion von Stress und psychischer Belastung nachgewiesen werden. Aufgrund der Fortschritte der Therapien werden längere Überlebenszeiten jedoch auf vermehrte Nebenwirkungen beobachtet, deren Behandlung auch eine Domäne der Palliative Care sein kann. In der heutigen Zeit, mit nicht zu vernachlässigender Achtung der finanziellen Ressourcen, konnte gezeigt werden, dass eine frühe Mitbetreuung durch ein palliativmedizinisches Team sowohl zu einer Kostenreduktion als auch zu einer Verkürzung der Hospitalisationsdauer und zur Reduktion von Überbehandlungen führt (9, 10).

Konklusion

Eine frühzeitige Involvierung der Palliative Care kann die Lebensqualität von Patienten mit einer fortgeschrittenen, malignen Erkrankung günstig beeinflussen. Gemäss Empfehlung der ASCO sollen neben Patienten mit soliden Tumoren und Patienten mit hämatologischen malignen Erkrankungen auch die Angehörigen bereits frühzeitig, das heisst während einer krankheitsspezifischen Therapie einem multiprofessionellen palliativmedizinischen Behandlungsteam zugewiesen werden.

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. MSc Cristian Camartin

Leiter Palliative Care
Kantonsspital Graubünden
Loëstrasse 170 Chur
7000 Chur

cristian.camartin@ksgr.ch

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Das Palliative Care Team soll frühzeitig, idealerweise innerhalb 8 bis 12 Wochen nach der Diagnosestellung, hinzugezogen werden.
  • Bei der Palliative Care handelt es sich um eine multiprofessionelle Behandlung.
  • Die Krankheitsbeurteilung erfolgt nach bio-psycho-sozio-spirituellen und kulturellen Aspekten.
  • Die Palliative Care ist eine parallele und nicht eine sequentielle Behandlung zur tumorspezifischen Therapie.
  • Eine frühzeitige Integration der Palliative Care führt zu einer verbesserten Lebensqualität, Erhöhung des prognostischen Bewusstseins, verbesserten Betreuung in der Sterbephase und zur Kostenreduktion.

1. Alt-Epping B. Frühzeitige Integration von Palliativmedizin. Forum 2020. 35: 206-211
2. Vitorino JV, Duarte BV, Laranjeira C. When to initiate early palliative care? Challenges faced by healthcare providers. Front Med (Lausanne). 2023 Oct 2;10:1220370. doi: 10.3389/fmed.2023.1220370. PMID: 37849489; PMCID: PMC10577203.
3. Nadolny S, Schildmann E, Gassmann ES, Schildmann J. What is an «early palliative care» intervention? A scoping review of controlled studies in oncology. Cancer Medicine 2023; 12: 21335-53
4. Engel GL. The need for a new medical model: a challenge for biomedicine. Science 1977; 196(4286): 129-36
5. Michael NG, Bobevski I, Georgousopoulou E, O‘Callaghan CC, Clayton JM, Seah D, Kissane D. Unmet spiritual needs in palliative care: psychometrics of a screening checklist. BMJ Support Palliat Care. 2020 Dec 1:bmjspcare-2020-002636. doi: 10.1136/bmjspcare-2020-002636. Epub ahead of print. PMID: 33262122.
6. Monette EM. Cultural Considerations in Palliative Care Provision: A Scoping Review of Canadian Literature. Palliat Med Rep. 2021 May 20;2(1):146-156. doi: 10.1089/pmr.2020.0124. PMID: 34223514; PMCID: PMC8241395.
7. Sanders JJ, Temin S, Ghoshal A, Alesi ER, Ali ZV, Chauhan C, Cleary JF, Epstein AS, Firn JI, Jones JA, Litzow MR, Lundquist D, Mardones MA, Nipp RD, Rabow MW, Rosa WE, Zimmermann C, Ferrell BR. Palliative Care for Patients With Cancer: ASCO Guideline Update. J Clin Oncol. 2024 Jul 1;42(19):2336-2357. doi: 10.1200/JCO.24.00542. Epub 2024 May 15. PMID: 38748941.
8. Temel JS, Greer JA, Muzikansky A, Gallagher ER, Admane S, Jackson VA, Dahlin CM, Blinderman CD, Jacobsen J, Pirl WF, Billings JA, Lynch TJ. Early palliative care for patients with metastatic non-small-cell lung cancer. N Engl J Med. 2010 Aug 19;363(8):733-42. doi: 10.1056/NEJMoa1000678. PMID: 20818875.
9. Zaborowski N, Scheu A, Glowacki N et al. Early Palliative Care Consults Reduce Patients‘ Length of Stay and Overall Hospital Costs. Am J Hosp Palliat Care 2022; Jan 21;10499091211067811. doi: 10.1177/10499091211067811.
10. Davis MP, Van Enkevort EA, Elder A et al. The Influence of Palliative Care in Hospital Length of Stay and the Timing of Consultation. Am J Hosp Palliat Care 2022; Jan 24;10499091211073328. doi: 10.1177/10499091211073328.