- Entwicklungen, Beispiele und Perspektiven
Das Thema Künstliche Intelligenz (KI) ist omnipräsent. Der folgende Beitrag geht darauf ein, was KI ist, welche Rolle Pflegende bei der Entwicklung von KI spielen und welche KI-Anwendungen Potenzial für die Patientenversorgung haben. Pflegende sollten sich engagieren, aktiv KI-Lösungen mitgestalten und am kritischen Diskurs teilnehmen, damit sich die digitale Identität der Profession Pflege etablieren lässt.
Entwicklungen
KI ist bereits seit 70 Jahren in Entwicklung (1). Es gibt verschiedene Definitionen von KI, eine davon lautet: „Künstliche Intelligenz ist ein Oberbegriff für Methoden, Algorithmen und Systeme, um ein (scheinbar) intelligentes Verhalten in einem Computersystem zu implementieren.“ (2) Es geht also um Verfahren, mit denen Computersysteme instruiert werden, um ähnlich oder besser als Menschen wahrzunehmen, zu kommunizieren, zu folgern und Entscheide zu treffen (3). Eine Definition von KI für die Profession Pflege existiert bislang nicht (4). Zum exponentiellen Wachstum von KI-Lösungen in den letzten Jahren führte die stark gestiegene Rechengeschwindigkeit von Computern, die hohe Speicherkapazität und der Zugang zu grossen Datenmengen (5).
Seit 2019 ist die Anzahl von Publikationen im Bereich KI und Pflege sprunghaft angestiegen. Der Involvierungsgrad der Pflege reicht von aktiv über passiv bis zum Nicht-Einbezug. Der aktive Einbezug bedeutet, dass Pflegefachpersonen aus Forschung und/oder klinischer Praxis auf die inhaltliche Gestaltung von Studien einwirken. Passiver Einbezug bedeutet, dass Pflegefachpersonen lediglich als Teilnehmende von Studien partizipieren (6).
Die Nutzung von KI-Lösungen benötigt Wissen und Fertigkeiten. Es fällt auf, dass die meisten Pflegefachpersonen sich Wissen zu KI immer noch im Selbststudium aneignen (7). Nur eine Minderheit informiert sich über KI mittels Weiterbildungskursen. Somit überrascht es kaum, dass die Haltung und die Erwartungen unter Pflegefachpersonen hinsichtlich KI-Lösungen sehr heterogen sind (7,8). Es mischen sich wahrgenommene Chancen mit Befürchtungen und fehlendem Wissen. Es scheint, dass es vielen Pflegenden nicht nur an Wissen und Erfahrung im Umgang mit KI mangelt, sondern dass sie sich auch nicht darüber im Klaren sind, was das Thema KI für die Profession Pflege und die Patientenversorgung bedeutet.
Damit KI-Lösungen zuverlässig funktionieren, braucht es standardisierte und qualitativ gute Daten, genaue Algorithmen und eine gezielte Anwendung im definierten Handlungskontext. Auch KI-Lösungen sind nicht ohne Fehler, das gilt es stets zu berücksichtigen. KI-Lösungen sind als unterstützendes Werkzeug zu verstehen und zu verwenden, das Prozessschritte automatisiert, vereinfacht, effizienter gestaltet und zusätzliche Informationen für die Entscheidungsfindung liefert. Jedoch sollen und müssen Fach- und Kontextwissen, verfügbare Ressourcen, wissenschaftliche Evidenz und Patientenpräferenzen ihren wichtigen Stellenwert in der pflegerischen und klinischen Versorgung behalten (9).
Praxisbeispiele
Zu welchem Zweck können KI-Lösungen in der Praxis eingesetzt werden? Einige Beispiele:
• Mit Spracherkennung, basierend auf KI-Methoden, kann die Pflegedokumentation beschleunigt und deren Qualität gesteigert werden (10).
• Das Schreiben von Texten mit automatisch generierten Begriffsvorschlägen kann die Dokumentation effizienter und präziser machen (11).
• Zur Unterstützung der Pflegeplanung und zur Früherkennung von gesundheitlichen Risiken lassen sich mit sogenannten Text-Mining-Methoden (automatisierte Textanalytik unterschiedlicher Textquellen) umfangreiche Patientendokumentationen effizient durchsuchen, beispielsweise nach Sturzereignissen, Drogen- oder Alkoholkonsumstörungen (12,13).
• Verschiedene KI-Methoden werden bei akut-kritischen Zuständen dazu eingesetzt, Schmerzen oder physisch gesundheitliche Verschlechterungen vorherzusagen (14,15).
Im interprofessionellen Kontext sind auch KI-Lösungen in folgenden Bereichen von Interesse: Vorhersage der 30-Tage-Mortalität bzw. der Überlebenswahrscheinlichkeit (16), Früherkennung einer Urininfektion (17), Früherkennung einer Wundinfektion (18) oder Voraussage eines ungeplanten Wiedereintritts ins Spital (19), um nur einige zu nennen.
KI-Lösungen finden auch den Weg in die Patientenbefähigung, beispielsweise mit virtuellen Schulungen von Patientinnen und Patienten. Gut bekannt ist bereits die Nutzung von KI-Methoden in der Überwachung von Epidemien oder in der Analyse medizinischer Bildgebungen (20).
Perspektiven
Pflegefachpersonen bilden die grösste Berufsgruppe im Gesundheitswesen (21). Folglich generieren und sammeln Pflegefachpersonen riesige Mengen an Daten. Die Profession Pflege ist in allen Versorgungssettings präsent – nicht nur während des gesamten Lebenskontinuums von Patientinnen und Patienten, sondern auch bei allen gesundheitlichen Anliegen in Prävention, Kuration und Palliation. Das ist eine ideale Voraussetzung dafür, dass die anfallenden Daten settingübergreifend für die Entwicklung möglicher KI-Lösungen ziel- und fragegeleitet erarbeitet, geprüft, evaluiert und gegebenenfalls implementiert werden können. KI-Lösungen können dabei helfen, die Komplexität von Patientensituationen gut zu bewältigen und im interprofessionellen Kontext sowie mit Patientinnen, Patienten und Angehörigen effizienter zu kommunizieren. KI-Lösungen sollen sich bewähren und einen mess- und wahrnehmbaren Nutzen generieren, und zwar auf den Ebenen Organisation, Pflege sowie Patientinnen und Patienten.
Damit KI-Lösungen der pflegerischen Versorgung nützen können, müssen sich Pflegende involvieren, Wissen aufbauen und Erfahrungen sammeln. Die Forschungsliteratur zeigt, dass Pflegende noch kaum in die Entwicklung, Testung und Anwendung von KI-Lösungen aktiv involviert sind (6). Deshalb fordert ein internationaler Think-Tank berechtigterweise, dass Pflegefachpersonen verstehen sollten, welche Beziehung zwischen den von ihnen gesammelten Daten und den von ihnen nutzbaren KI-Lösungen besteht. Die Profession Pflege muss in alle Phasen der KI-Entwicklung bis hin zur Implementierung sinnvoll eingebunden sein. Weiter wird dazu aufgerufen, das enorme, ungenutzte und wenig erforschte Potenzial von KI-Methoden für die Pflege zu prüfen, zu nutzen und zur Entwicklung von KI-Lösungen kritisch beizutragen (22).
KI-Lösungen sollen selbstverständlich nicht unkritisch entwickelt werden. Sie sind kein „Allheilmittel“, sondern nur als ein unterstützendes zusätzliches Werkzeug zu verstehen. Berechtigte Zweifel bestehen, inwiefern die durch KI induzierte Effizienzsteigerung von Prozessen zu mehr menschlichem Kontakt zwischen Pflegenden sowie Patientinnen und Patienten führt (23). Offen bleibt auch, inwiefern KI-Lösungen soziale Interaktionen reduzieren können (24). Ein informierter kritischer Diskurs im Kontext von KI und Pflege kann jedoch erst dann erfolgen, wenn Wissen und Erfahrungen vorhanden sind. Dafür müssen Pflegende sich involvieren (25), sich systematisch Wissen aneignen sowie ziel- und problemorientiert KI-Lösungen entwickeln und prüfen. Pflegende sollen und müssen Teil des Entwicklungsteams sein. Die Ziele, die mit einer KI-Lösung erreicht werden sollen, kommen von den Patientinnen und Patienten, den Pflegenden oder Organisationen. Herausforderung ist und bleibt, dass KI-Lösungen kontinuierlich evaluiert werden, um eine längerfristige, nachhaltige, nutzenbringende und patientenzentrierte Implementierung zu sichern (4). Wir Pflegenden sollten uns engagieren, aktiv KI-Lösungen und Einsatzmöglichkeiten gestalten und am kritischen Diskurs teilnehmen, damit sich die digitale Identität der Profession Pflege nach und nach etablieren lässt.
Erstpublikation in der Zeitschrift Onkologiepflege 01-2024
Friederike J. S. Thilo, Prof. Dr., dipl. Pflegefachfrau, PhD,
Professorin und Leiterin Innovationsfeld Digitale Gesundheit
Berner Fachhochschule, aF&E Pflege
3008 Bern
friederike.thilo@bfh.ch
1. Topol EJ. Deep medicine: how artificial intelligence can make healthcare human again. First edition. New York: Basic Books; 2019. 378 p.
2. Auer C, Hollenstein N, Reumann M. Künstliche Intelligenz im Gesundheitswesen. In: Haring R, editor. Gesundheit digital: Perspektiven zur Digitalisierung im Gesundheitswesen [Internet]. Berlin, Heidelberg: Springer; 2019 [cited 2024 Jan 23]. p. 33–46. Available from: https://doi.org/10.1007/978-3-662-57611-3_3
3. Castellanos S. What Exactly Is Artificial Intelligence? Wall Street Journal [Internet]. 2018 Dec 6 [cited 2024 Jan 23]; Available from: https://www.wsj.com/articles/what-exactly-is-artificial-intelligence-1544120887
4. Shang Z. A Concept Analysis on the Use of Artificial Intelligence in Nursing. Cureus. 2021 May 5;13(5):e14857.
5. Pfannstiel MA, editor. Künstliche Intelligenz im Gesundheitswesen: Entwicklungen, Beispiele und Perspektiven [Internet]. Wiesbaden: Springer Fachmedien; 2022 [cited 2024 Jan 23]. Available from: https://link.springer.com/10.1007/978-3-658-33597-7
6. O’Connor S, Yan Y, Thilo FJS, Felzmann H, Dowding D, Lee JJ. Artificial intelligence in nursing and midwifery: A systematic review. J Clin Nurs. 2022 Jul 31;32(13–14):2951–68.
7. Abuzaid MM, Elshami W, Fadden SM. Integration of artificial intelligence into nursing practice. Health Technol (Berl). 2022;12(6):1109–15.
8. Schenk L, Gröble S, Thilo FJS. SocietyByte. 2023 [cited 2024 Jan 23]. Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Pflege – eine ambivalente Haltung. Available from: https://www.societybyte.swiss/2023/11/29/einsatz-von-kuenstlicher-intelligenz-in-der-pflege-eine-ambivalente-haltung/
9. Thilo FJS, Ranegger R, Hackl W. Künstliche Intelligenz für die Pflege. Krankenpflege Soins Infirmiers [Internet]. 2024 Jan 18 [cited 2024 Jan 23];2024(1). Available from: https://app.carelit.de/detail?doc_id=306977
10. Monica K. Rama On Healthcare. 2018 [cited 2024 Jan 23]. Using EHR Voice Recognition to Improve Clinical Documentation, Usability. Available from: https://ramaonhealthcare.com/using-ehr-voice-recognition-to-improve-clinical-documentation-usability/
11. Moen H, Hakala K, Peltonen LM, Matinolli HM, Suhonen H, Terho K, et al. Assisting nurses in care documentation: from automated sentence classification to coherent document structures with subject headings. J Biomed Semantics. 2020 Sep 1;11:10.
12. Topaz M, Murga L, Bar-Bachar O, Cato K, Collins S. Extracting Alcohol and Substance Abuse Status from Clinical Notes: The Added Value of Nursing Data. Stud Health Technol Inform. 2019 Aug 21;264:1056–60.
13. Topaz M, Murga L, Gaddis KM, McDonald MV, Bar-Bachar O, Goldberg Y, et al. Mining fall-related information in clinical notes: Comparison of rule-based and novel word embedding-based machine learning approaches. J Biomed Inform.