- Gesundheitskompetenz stärken!
Die Stärkung der Gesundheitskompetenz erleichtert es Menschen mit einer Tumorerkrankung, Informationen zu Diagnose und Therapie zu verarbeiten. Dadurch wird die informierte und partizipative Entscheidungsfindung unterstützt. Im pflegerischen Alltag ist es wichtig, die Gesundheitskompetenz von Betroffenen einzuschätzen. So können Pflegende entsprechend reagieren und das Risiko einer Unterversorgung oder einer ungleichen Versorgung minimieren.
Gesundheitskompetenz bedeutet das Wissen, die Motivation und die Fähigkeit von Individuen, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und darauf basierend Entscheidungen zu treffen, um Gesundheit und Lebensqualität zu erhalten oder zu verbessern (1). Das Thema Gesundheitskompetenz gewinnt zunehmend an Bedeutung. Einige Gründe dafür sind, dass die Bevölkerung immer älter wird und die Multimorbidität zunimmt, dass Behandlungsoptionen immer komplexer werden und die digitale Transformation im Gang ist (1). Menschen mit einer Tumorerkrankung sind in ihrer Gesundheitskompetenz zusätzlich dadurch herausgefordert, dass sie in emotional stark belastenden Situationen viele Informationen aufnehmen und beurteilen sowie weitreichende Entscheidungen treffen müssen. Deshalb hat die individuelle Gesundheitskompetenz eine zentrale Rolle in der Versorgung von onkologischen Patientinnen und Patienten. Die krebsspezifische Gesundheitskompetenz, die Krebsbetroffene benötigen, wird auch als «Cancer Literacy» bezeichnet (2).
Eine hohe Gesundheitskompetenz ist oft mit einem gesünderen Lebensstil und besserer Gesundheit assoziiert. Personen mit hoher Gesundheitskompetenz verhalten sich im Allgemeinen gesundheitsförderlicher und nehmen das Gesundheitssystem seltener in Anspruch (1). Wenn die Kompetenzen der Betroffenen gestärkt werden, mit Informationen zu Prävention, Diagnose und Therapie richtig umzugehen, unterstützt dies die informierte und partizipative Entscheidungsfindung (3).
Gesundheitskompetenz im pflegerischen Alltag
Für eine personzentrierte Gesundheitsversorgung ist es wichtig, die Werte und Überzeugungen von Patientinnen und Patienten zu erfahren, sie aktiv einzubeziehen, ihre Bedürfnisse einzuschätzen und diesen nachzukommen. Hierfür bedarf es einer individuellen Einschätzung der Gesundheitskompetenz. So können gesundheitsbezogene Informationen adressatengerecht vermittelt werden, was Betroffene befähigt, eine aktive Rolle zu übernehmen. Allerdings gehört die systematische, routinierte Erfassung der Gesundheitskompetenz mittels Screening- oder Assessmentinstrumenten bisher noch nicht zum pflegerischen Alltag.
In das interdisziplinäre und interprofessionelle Behandlungsteam des Zentrums für Knochen- und Weichteiltumore Basel (KWUB) ist eine Advanced Practice Nurse (APN) integriert. Die zentralen Aufgaben der APN sind die Begleitung, Beratung und Betreuung von Personen mit einem Sarkom während des Behandlungspfads. Für die systematische, strukturierte Erfassung von Bedürfnissen (z. B. körperlich, emotional, sozial) dieser Betroffenen wurden «Patient-reported Outcome Measures (PROM)» implementiert. Die Erhebung von PROM erfolgt digital und setzt somit voraus, dass Betroffene digitale Medien nutzen, die Fragen verstehen und sie beantworten können. Doch wie gestaltet sich die Versorgung von Betroffenen, bei denen diese Kompetenzen nicht (ausreichend) vorhanden sind? Wie können diese Betroffenen von der APN unterstützt werden? Diese Fragen werden anhand der nachfolgenden Fallvignette erläutert.
Fallvignette Herr S.
Bei Herrn S., 80-jährig, wurde ein undifferenziertes pleomorphes Sarkom am rechten Oberschenkel diagnostiziert. Herr S., ein ehemaliger Automechaniker, ist alleinstehend und hat keine Kinder. Seine Muttersprache ist Tschechisch, er spricht aber auch Schriftdeutsch. Die erste APN-Konsultation erfolgte nach dem ärztlichen Diagnosegespräch und dem Festlegen der Therapie (neoadjuvante Radiotherapie, anschliessend Tumorresektion). Herr S. wirkte gefasst und ruhig. Im Gespräch wurden sein psychisches Befinden und seine Bedürfnisse besprochen. In der Kommunikation wurde besonderes Augenmerk auf das Sprachniveau gerichtet, und die APN überprüfte, ob Herr S. die vermittelten Informationen (Diagnose, Therapieplan, unerwünschte Wirkungen) verstanden hatte. So konnten Informationen wiederholt und ergänzt werden, wobei auch bedarfsgerecht Informationsmaterialien eingesetzt wurden.
Herr S. hat keine E-Mail-Adresse, sodass sich eine digitale Erfassung von PROM erübrigte. Die APN besprach mit ihm die Alternativen: ein Fragebogen, den Herr S. zuhause ausfüllen konnte, oder die Benutzung eines Tablets unmittelbar vor der nächsten Konsultation. Herr S. bevorzugte den Fragebogen. Es wurde besprochen, dass er bei Bedarf ein Wörterbuch benutzen kann, um für ihn unklare Wörter nachzuschlagen. In der Folgekonsultation wurden seine Antworten gesichtet, und die APN fragte nach, wie es ihm beim Ausfüllen des Fragebogens ergangen sei. Die APN stellte fokussierte Fragen zu einzelnen Antworten von Herrn S., sodass personzentriert Interventionen eingeleitet werden konnten. Die nächste Konsultation wurde zum Startzeitpunkt der Radiotherapie festgelegt. Die APN übertrug die Antworten von Herrn S. anschliessend ins digitale Format, um den weiteren Verlauf bei Folgebefragungen beobachten zu können.
Gesundheitskompetenz richtig einschätzen
Die Fallvignette zeigt, dass die Gesundheitskompetenz mit all ihren Facetten nicht bei jeder Person als gegeben vorausgesetzt werden kann, und wie wichtig die pflegerische Einschätzung der Gesundheitskompetenz ist. Neben den standardisierten Prozessen braucht es Alternativen, um das mögliche Risiko einer Unterversorgung oder einer ungleichen Versorgung zu minimieren. Diese Alternativen können einen höheren Aufwand für die Fachperson bedeuten, beispielsweise durch Wiederholung von Informationen, längere Konsultationen, das Benutzen von Hilfsmitteln wie Übersetzungstools, visuelle Medien etc.
Die Gesundheitskompetenz ist eine zentrale Ressource für den Umgang mit der eigenen Gesundheit und sollte entsprechend gestärkt werden. Pflegende übernehmen hierbei eine Schlüsselrolle. Kenntnisse über die Bedeutung der Gesundheitskompetenz sind Voraussetzung, damit Pflegende diese im pflegerischen Alltag wahrnehmen und stärken können.
Mayuri Sivanathan
MScN, Pflegeexpertin
Departementsfachleiterin Pflege/MTT und APN Sarkome
Mitglied Leitungsgremium im Zentrum für Knochen- und Weichteiltumore Basel (KWUB) Departement Muskuloskelettales System
Universitätsspital Basel
mayuri.sivanathan@usb.ch
Erstpublikation des Artikels in der Zeitschrift Onkologiepflege 3/2023
1. De Gani, S. M., Jaks, R., Bieri, U., & Kocher, J. Ph. (2021). Health Literacy Survey Schweiz 2019-2021. Schlussbericht im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit BAG. Zürich, Careum Stiftung
2. Diviani, N., & Schulz, P. J. (2011). What should laypersons know about cancer? Towards an operational definition of cancer literacy. Patient education and counseling, 85(3), 487–492. https://doi.org/10.1016/j.pec.2010.08.017
3. Buyens, G., van Balken, M., Oliver, K., Price, R., Venegoni, E., Lawler, M., Battisti, N. M. L., & Van Poppel, H. (2023). Cancer literacy – Informing patients and implementing shared decision making. Journal of Cancer Policy, 35, 100375. https://doi.org/10.1016/j.jcpo.2022.100375