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Interprofessionelle Zusammenarbeit in der Darmkrebsfrüherkennung

Früh erkannter Darmkrebs ist meist heilbar. Doch wie erreicht man in der Früherkennung eine gelebte Interprofessiona­lität? Ein Projekt der Nationalen Strategie gegen Krebs zeigt konkrete Lösungsansätze.



Früherkennung ist sinnvoll

Experten sind sich einig: Da sich Darmkrebs nur langsam entwickelt, sind qualitätsgesicherte Früherkennungsmassnahmen wie Stuhltest und Koloskopie sinnvoll. Durch geeignete Screening-Tests zum Nachweis fortgeschrittener präneoplastischer Läsionen kann Dickdarmkrebs bereits in einem frühen, oft heilbaren Stadium diagnostiziert werden. Insbesondere die Koloskopie bietet die Chance, frühzeitig präkanzerogene Veränderungen zu erkennen. Polypen können während einer Koloskopie präventiv entfernt werden, bevor sie sich zu einem bösartigen Tumor entwickeln.
Darmkrebs ist in der Schweiz die dritthäufigste Krebsart. Jährlich werden rund 4300 Menschen mit der Diagnose Darmkrebs konfrontiert. 1700 Menschen sterben jedes Jahr an den Folgen der Krankheit. Systematische Vorsorgeuntersuchungen senken Mortalität und Morbidität durch Darmkrebs. Nicht umsonst propagieren die WHO-Leitlinien für die Krebsfrüherkennung daher die Entwicklung von Früherkennungsprogrammen und Einführung von Routine-Screening-Programmen zur Verringerung der Auswirkungen von Darmkrebs.

Allen Personen einen gleichwertigen Zugang bieten

Der Verband Swiss Cancer Screening (SCS) verantwortet den Aufbau, die Harmonisierung und die Qualitätssicherung von Krebsfrüherkennungsprogrammen in der Schweiz. Zusammen mit der Krebsliga Schweiz (KLS), die sich vor allem aus der Sicht der Krebsbetroffenen für eine gute Information, Beratung und Unterstützung im Thema einsetzt, haben die beiden Organisationen unter der Schirmherrschaft der Nationalen Strategie gegen Krebs (NSK) eine Projektgruppe gebildet und in enger Zusammenarbeit geleitet. Das Ziel des NSK-Projektes 2.1 ist es, der gesamten Zielgruppe in der Schweiz einen einfachen, chancengerechten Zugang zu einer gleichbleibenden, qualitativ hochstehenden Darmkrebs-Früherkennung zu ermöglichen. Im föderalen Umfeld gestaltet sich die Umsetzung eines solchen Vorhabens schwierig, liegt doch die Hoheit zur Umsetzung von Präventivmassnahmen in der Verantwortung der einzelnen Kantone.

Charta setzt auf drei Ebenen an: Information, Qualität und Vergütung

Den Initiatoren war klar, dass eine erfolgreiche Umsetzung dieser Idee nur durch eine enge, interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen allen an der Früherkennung Beteiligten möglich ist. Mit der Charta Interprofessionelle Zusammenarbeit in der Darmkrebsvorsorge ist dies gelungen. Nebst den genannten Organisationen SCS und KLS haben sich Haus- und Kinderärzte Schweiz (mfe), Pharmasuisse (phS), die Fachgesellschaften der Gastroenterologie (SGG) und der Pathologie (SGPath) zusammengetan.
Um das Angebot an qualitativ hochstehender Früherkennung von Darmkrebs auszubauen, haben sie folgende Ziele formuliert:

  • Schweizweit erhalten alle Personen, die zur Darmkrebsfrüherkennung gehen, eine Leistung mit gleichwertiger hoher Qualität. Die dazu einzuhaltenden Qualitätsstandards sind in einer einheitlichen Richtlinie festgelegt.
  • Alle Personen erhalten einheitliche und ausgewogene Informationen über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Massnahmen zur Darmkrebsfrüherkennung.
  • Durch die Bereitstellung wissenschaftlicher Dokumentation verfügen die beteiligten Fachpersonen über einen einheitlichen, aktuellen Wissensstand.
  • Ein reibungsloser Ablauf ist durch die Festlegung des Informations- und Kommunikationsflusses zwischen den beteiligten Akteuren garantiert.
  • Zum Bestimmen der Wirksamkeit hinsichtlich einer Senkung von Mortalität und Morbidität bei Darmkrebs wird das Angebot regelmässig überprüft und evaluiert.
  • Die Leistungen im Rahmen der Darmkrebsfrüherkennung werden zu einem Einheitstarif erbracht und möglichst franchisebefreit von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung übernommen.

Die an der Früherkennung beteiligten Fachpersonen verpflichten sich, zur Realisierung dieser Ziele eng und koordiniert zusammenzuarbeiten. Die Verantwortung wird entsprechend den fachlichen Kompetenzen und in gemeinsamer Absprache wahrgenommen. Die gegenseitige Information ist jederzeit gewährleistet, die Arbeit basiert auf gegenseitigem Respekt und gemeinsam definierten, anerkannten Standards.

Erste Ziele erreicht

In enger Zusammenarbeit sowie unter Einbezug weiterer Fachkreise und Experten sind die ersten nationalen Qualitätsstandards in der Darmkrebsvorsoge entstanden. Patienteninformationen sind harmonisiert und zielgruppengerecht formuliert, eine schweizweit einheitliche Finanzierung der Untersuchungskosten ist weitestgehend erreicht. Zudem erscheint regelmässig der Newsletter zur Darmkrebsfrüherkennung. Er informiert über die laufenden Arbeiten und erreichten Ziele. Die während den letzten Jahren gemeinsam erarbeiteten Grundlagen sind den Initianten Hilfe genug, effizient und harmonisiert neue kantonale Programme zur Darmkrebsvorsorge zu lancieren. Im Jahr 2021 werden voraussichtlich über 50 Prozent der Schweizer Bevölkerung Zugang zur systematischen Darmkrebsvorsore erhalten.
Dieses Projekt zeigt, wie durch gemeinsame koordinierte Arbeit unter Fachpersonen im Interesse der Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention für die Bevölkerung viel erreicht werden kann.

Interview mit Prof. Marcel Zwahlen, Präsident des Expertengremiums Krebsfrüherkennung «Cancer Screening Committee»

«Krebs-Screening hat einen intuitiven Charme»

Herr Professor Zwahlen, was versteht man unter Krebsfrüherkennung?

Grundsätzlich ist das Ziel, eine Krebserkrankung in einem frühen Stadium, also noch bevor sie Beschwerden verursacht, zu entdecken. Früh erkannt, kann eine Erkrankung oft erfolgreicher behandelt werden. Es ist diese Idee, dass ein Problem frühzeitig erkannt und deshalb besser bewältigt werden kann, das den intuitiven Charme von Krebs-Screening ausmacht. Ich vermeide übrigens gerne den Begriff «Früherkennung» und spreche stattdessen lieber von «Screening».

Aus welchem Grund?

Man stellt in einem Vorsorgeuntersuch möglicherweise etwas fest, das weiter abgeklärt werden muss. Aber ob das Gefundene ein Problem darstellen wird– es sich also um eine Früherkennung handelt– ist damit nicht gesagt. Screening ist unaufgeregter und trifft den Vorgang besser. Ein Screening sagt: «Wir haben etwas beobachtet, das wir weiter untersuchen und abklären müssen. Vielleicht ist es kein Problem, vielleicht ist es eins. Ob es schlimm ist, lässt sich noch nicht sagen». Folgeuntersuchungen werden zeigen, ob es sich tatsächlich um Krebs handelt. Dann wird eine Behandlung begonnen. Wir reden hier also von einer ganzen Kette von Massnahmen, von denen die Screening-Untersuchung nur das erste Glied ist.

Sie haben vom «intuitiven Charme» der Idee der Früherkennung gesprochen. Sind die Erwartungen an Früherkennung bzw. Screenings zu hoch?

Screenings bringen – hoffentlich – den gewollten Nutzen, sie bringen aber immer auch ein Schadenpotential mit sich. Im Idealfall kann mit einem Screening die krebsbedingte Sterblichkeit gesenkt werden. Ein Screening hat aber auch immer unterwünschte Folgen, wie falsch-positive Befunde, die weitere Untersuchungen und Abklärungen nach sich ziehen. Solche Abklärungsphasen sind für die Betroffenen teilweise sehr belastend. Ein weiteres Problem sind Krebsdiagnosen, die zu Lebzeiten des Patienten keine Beschwerden verursachen. Da man das zum Zeitpunkt der Diagnose im Einzelfall nicht weiss, führen solche sogenannten Überdiagnosen zu Behandlungen, die im Prinzip unnötig sind. Ohne Screening könnte jede unerwünschte Folge vollständig vermieden werden.

Sie sind Präsident des Expertengremiums Krebsfrüherkennung «Cancer Screening Committee», einem NSK-Projekt. Weshalb braucht es dieses Gremium?

Wie die Eidgenössische Kommission für Impffragen (EKIF), die uns als Vorbild dient, sind wir eine unabhängige Expertenkommission und vermitteln zwischen Behörden und Fachkreisen. Wir erarbeiten in der Hauptsache wissenschaftlich gut begründete, ausgewogene und von Partikularinteressen unabhängige Empfehlungen zu Krebs-Screenings. Da beim Krebs-Screening, falls empfohlen, grosse Teile der Bevölkerung von diesen Empfehlungen betroffen sind, ist es sehr sinnvoll, dass die Empfehlungen auf diese Art zustande kommen. Gewisse andere Länder haben auch solche Gremien oder Institutionen, etwa Grossbritannien, die USA und Deutschland. Zum Teil behandeln sie thematisch sogar mehr als nur Fragen zu Krebs-Screenings.

Aktuell bearbeiten Sie die Frage, ob ein Lungenkrebs-Screening mit niedrigdosierter Computer-Tomographie in der Schweiz eingeführt werden soll.

Ja. Wir machen das lege artis und werden schätzungsweise im Herbst nächsten Jahres eine fundierte Antwort haben. Unsere Trägerschaft wünscht hier eine Antwort, die insbesondere die vor ein paar Monaten publizierten Resultate der niederländisch-belgischen NELSON-Studie mit einbezieht.

Lungenkrebs gehört in der Schweiz zu den fünf häufigsten Krebsarten und ist mit 3200 Todesfällen die häufigste Krebs-todesursache. Gemäss der NELSON-Studie verringert eine low-dose-Computer-Tomographie-Untersuchung (LDCT) die Mortalität bei Männern mit hohem Lungenkrebs-Risiko um 26 Prozent und bei Frauen mit hohem Risiko um bis zu 61 Prozent über einen Zeitraum von 10 Jahren. Was gibt es da noch zu diskutieren?

In der Tat berichteten gewisse Medien euphorisch über diese Reduktion der Mortalität. Allerdings beziehen sich diese Prozentsätze nur auf die Todesfälle an Lungenkrebs. Betrachtet man, wie viele Todesfälle insgesamt aufgetreten sind, existiert zwischen den beiden Gruppen – mit oder ohne LDCT – kein klarer Unterschied. Die Beurteilung wird also nicht so einfach sein, wie einige erwarten. Zudem müssen wir allfällige Folgeuntersuchungen nach einem LDCT genau betrachten. Wie häufig und invasiv sind solche Untersuchungen? Wie hoch ist das Risiko für Komplikationen aufgrund der Folgeuntersuchungen? Und so weiter.
Ob ein LDCT-Screening tatsächlich breitflächig empfehlenswert ist, muss daher noch sorgfältig abgewogen werden. Und genau das ist die Aufgabe des Komitees.

Was geschieht mit der im Jahr 2021 zu erwartenden Empfehlung?

Wir nehmen mit unserer Empfehlung – ob für oder gegen ein Screening – nur eine Vermittlerrolle ein für die wissenschaftliche Beratung der Behörden. Die Entscheidung, ob ein LDCT-Screening in den obligatorischen Leistungskatalog der Krankenversicherer aufgenommen werden soll oder nicht, liegt bei den Behörden. Unsere Kommission hat ihr Ziel erreicht, wenn das Eidgenössische Departement des Innern und das Bundesamt für Gesundheit unsere Arbeit verwenden. Und wenn wir für die Behörden als wichtiges und vertrauenswürdiges Organ betrachtet werden, wenn es um Fragen zu Krebs-Screenings geht.

ZUR PERSON

Prof. Dr. phil. Marcel Zwahlen ist in der Region Bern aufgewachsen und lebt in Bern. Er studierte Physik und Mathematik in Bern, doktorierte in Epidemiologie an der Johns Hopkins University in Baltimore, USA (die kürzlich mit oft zitierten Zahlen zu den Corona-Fällen bekannt wurde). Seit 2003 ist er am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern tätig und seit 2017 dessen stellvertretender Direktor. Ausser während des USA-Aufenthalts hat er nie ein Auto besessen; er ist ein Fan des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz. Nebst dem öV benutzt er ausschliesslich das Fahrrad, um von A nach B zu kommen.

Dr. Claudia Weiss

Geschäftsführerin Swiss Cancer Screening

Dr. jur. Catherine Gasser

Co-Gesamtprojektleiterin NSK

catherine.gasser@krebsliga.ch

info@onco-suisse

  • Vol. 10
  • Ausgabe 5
  • September 2020