- Junge Angehörige
In der Schweiz betreuen 8% der Kinder und Jugendlichen zwischen 9 und 16 Jahren erkrankte Angehörige (Leu et al. 2019). Sie werden im internationalen Kontext «Young Carers» genannt. Welche Aufgaben, Herausforderungen und Bedürfnisse junge Menschen haben, die Angehörige mit Krebs betreuen, wird anhand internationaler Literatur und einer Sekundäranalyse von Interviews aus zwei Forschungsprojekten der Careum Hochschule Gesundheit nachgegangen.
Gibt es «Young Carers» in der Onkologie?
Menschen mit Krebs sind eine wachsende Bevölkerungsgruppe in der Schweiz. Laut Bundesamt für Statistik waren 2015-2019 rund 17% der ca. 45’000 Neudiagnosen pro Jahr in der Altersgruppe der 20 bis 54-jährigen. Laut internationalen bevölkerungsbasierten Studien haben 14-26 % der Erwachsenen mit Krebs Kinder unter 26 Jahren (Inhestern et al. 2021). Für die Schweiz gibt es keine Angaben. Zahlreiche Studien untersuchten die psychosozialen Auswirkungen der Krebserkrankung eines Elternteils oder Geschwister auf Kinder und Jugendliche (Walczak et al. 2018). Dabei stand jedoch selten der Betreuungsaspekt im Vordergrund, da kaum explizit nach Unterstützungsaufgaben von jungen Familienmitgliedern gefragt wurde. Eine systematische Übersichtsarbeit mehrheitlich qualitativer Studien zeigte jedoch auf, dass sich in vielen Studien Hinweise zu Betreuungsaufgaben finden (Justin et al. 2021). So übernehmen junge Menschen durch die Krebserkrankung des Familienmitglieds mehr Verantwortung und unterstützen diese in praktischer (z.B. einkaufen), organisatorischer (z.B. Arzttermine koordinieren), pflegerischer (z.B. Medikamentenverabreichung) und emotionaler Hinsicht (z.B. Trost spenden). Die Betreuung ging mit positiven Folgen wie mehr Reife, Unabhängigkeit, Einfühlungsvermögen oder Empathie einher, hatte aber auch negative Auswirkungen auf die körperliche und psychische Gesundheit, das soziale Leben und die Schule (Justin et al. 2021). Die Unterstützungsaufgaben sowie deren Konsequenzen sind also vergleichbar mit denjenigen, die aus der «Young Carers»-Forschung bekannt sind (Leu et al. 2019).
Was berichten junge Menschen krebskranker Angehöriger in der Schweiz?
Eine Sekundäranalyse von Interviews aus zwei abgeschlossenen «Young Carers»-Projekten in der Schweiz widerspiegelt die Erkenntnisse aus der Literatur. So zeigten neun Interviews mit jungen Menschen, die eine krebskranke Person betreuten, dass sie pflegerische Aufgaben übernehmen, emotionale Unterstützung leisten, im Haushalt und mit jüngeren Geschwistern helfen, mit Fachpersonen kommunizieren und administrative Aufgaben erledigen. Die jungen Betreuenden berichteten von hohen Anforderungen, die an sie gestellt werden, die sie an die Grenzen der eigenen Kompetenzen bringen und die Vereinbarkeit von Ausbildung oder Arbeit und Betreuung erschweren. Ihre Bedürfnisse nach Unterstützung in ihrer Rolle und Verständnis für ihre Situation richten sich daher an das persönliche Umfeld, an Arbeitgebende oder Ausbildende und an Gesundheitsfachpersonen. Sie äussern den Wunsch nach Austausch mit gleichgesinnten Gleichaltrigen und nach einer Auszeit, da durch Stress, Erschöpfung und Überforderung die eigenen Bedürfnisse oft zu kurz kommen. Eine allgemeine Anlaufstelle für Unterstützung verschiedenster Art (z. B. rechtliche Fragen) wäre gemäss den jungen Betreuenden ebenfalls hilfreich.
Welches sind die Herausforderungen in der Kommunikation mit Gesundheitsfachpersonen?
Die personenzentrierte Betreuung stellt die erkrankte Person in den Mittelpunkt – mit der Folge, dass die Betreuungsrolle von jungen Angehörigen oft unzureichend erkannt wird. Die Befragten fühlen sich vom Informationsfluss ausgeschlossen und erleben sogar bewusstes Nicht-Kommunizieren durch Fachpersonen. Offene und ehrliche Gespräche über den Krankheitszustand sind ihnen insbesondere in palliativen Situationen ein Anliegen. Die Befragten berichteten von zu viel wie auch zu wenig Verantwortung, die ihnen übertragen wird. Sie erfuhren aber auch Entlastung durch die Spitex oder Angebote wie die Cancerline der Krebsliga Schweiz. Die Sensibilisierung für die Situation von jungen Angehörigen ist der erste Schritt, um Unterstützung anbieten zu können (Leu et al. 2020). Dennoch fehlt es Fachpersonen im hektischen Alltag häufig an Zeit und Ruhe, die Anliegen von jungen Angehörigen anzuhören bzw. sie zu involvieren. «In der üblichen professionellen Praxis der Onkologiepflege sind sie nicht vorgesehen», «in der häuslichen Pflege bleiben sie im Hintergrund» oder «Kinder wollen von den Eltern durch nicht Einbezug geschützt werden» sind Aussagen in Fokusgruppen mit Fachpersonen im Rahmen der erwähnten Studien. Für interessierte Gesundheitsfachpersonen gibt es unterdessen verschiedene Möglichkeiten, sich über Angebote für junge betreuende Angehörige zu informieren: Der Ratgeber «Young Carers – erkennen und unterstützen», der im Februar 2023 beim Careum Verlag erschienen ist (www.careum-verlag.ch/Young-Carers/A-3196), oder über www.young-carers.ch und www.feel-ok.ch.
Karin Ribi, PhD, MPH 1
Anja Orschulko, M.A. 2
Alwin Abegg, M.A. 3
1 Senior Researcher, Careum Hochschule Gesundheit, Zürich, karin.ribi@careum-hochschule.ch
2 Forschungspraktikantin, Careum Hochschule Gesundheit, Zürich bis Ende September 2022, seit Oktober 2022 Project Associate, Swiss Centre for International Health (SCIH), Schweizerisches Tropen- und Public Health Institut, Allschwil, anja.orschulko@swisstph.ch
3 Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Careum Hochschule Gesundheit, Zürich bis Ende 2022
Erstpublikation des Artikels in der Zeitschrift Onkologiepflege 1/2023
Bundesamt für Statistik: Krebs: Anzahl und jährliche Rate der Neuerkrankungen und Todesfälle nach Sprachregion, Krebslokalisation, Geschlecht und Altersklasse. PxWeb (admin.ch)
Cancerline: https://www.krebsliga.ch/beratung-unterstuetzung/chat/cancerline-der-chat-fuer-kinder-und-jugendliche-zu-krebs
Inhestern, L.; Bultmann, J. C.; Johannsen, L. M.; Beierlein, V.; Möller, B.; Romer, G. et al. (2021): Estimates of Prevalence Rates of Cancer Patients With Children and Well-Being in Affected Children. A Systematic Review on Population-Based Findings. In: Frontiers in psychology 12 (Article 765314). DOI: 10.3389/fpsyt.2021.765314.
Justin, Pauline; Lamore, Kristopher; Dorard, Géraldine; Untas, Aurélie (2021): Are there young carers in oncology? A systematic review. In: Psycho-Oncology, S. 1–12. DOI: 10.1002/pon.5708.
Leu, Agnes; Frech, Marianne; Wepf, Hannah; Sempik, Joe; Joseph, Stephen; Helbling, Laura et al. (2019): Counting Young Carers in Switzerland – A Study of Prevalence. In: Children & Society 33 (1), S. 53–67. DOI: 10.1111/chso.12296.
Leu, Agnes; Wepf, Hannah; Sempik, Joe; Nagl-Cupal, Martin; Becker, Saul; Jung, Corinna; Frech, Marianne (2020): Caring in mind? Professionals’ awareness of young carers and young adult carers in Switzerland. In: Health Soc Care Community 28 (6), S. 2390–2398. DOI: 10.1111/hsc.13061.
Long KA, Lehmann V, Gerhardt CA, Carpenter AL, Marsland AL, Alderfer MA. Psychosocial functioning and risk factors among siblings of children with cancer: An updated systematic review. Psychooncology. 2018 Jun;27(6):1467-1479. doi: 10.1002/pon.4669. Epub 2018 Mar 15. PMID: 29441699.
Walczak, Adam; McDonald, Fiona; Pattersona, Pandora; Dobinsona, Deborah, Allison, Kimberley (2018): How does parental cancer affect adolescent and young adult offspring? A systematic review. In: International Journal of Nursing Studies (77), S. 54–80. DOI: 10.1016/j.ijnurstu.2017.08.017.
Waters AR, Gren LH, Rogers CR, Kirchhoff AC, Warner EL. Qualitative inquiry of cancer caregiving during young adulthood: responsibilities, challenges, teamwork, and social support. J Psychosoc Oncol Res Pract. 2021 Oct-Dec;3(4): e062. doi: 10.1097/or9.0000000000000062.
Erwähnte Studien der Careum Hochschule Gesundheit:
«Pflegende Jugendliche und junge Erwachsene – Vereinbarkeit von Ausbildung und Pflegerolle als Herausforderung in der Übergangsphase Schule-Beruf»: bisher unveröffentlicht.
«Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene als pflegende Angehörige in der Schweiz»: Leu A, Frech M, Jung C. Young carers and young adult carers in Switzerland: Caring roles, ways into care and the meaning of communication. Health Soc Care Community. 2018 Nov;26(6):925-934. doi: 10.1111/hsc.12622