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Spektrum, Bedeutung und Erfassung

Lebensqualität und Palliative Care

Lebensqualität ist einerseits ein komplexes Konstrukt, andererseits einfach das, was die betroffene Person für Lebensqualität hält. Was Lebensqualität konkret bedeutet, wird im Krankheitsverlauf immer wieder verändert und angepasst. In der Palliative Care steht die Lebensqualität im Fokus.



In der Schweiz entwickelt die Mehrheit der erwachsenen Personen eine oder mehrere chronische Krankheiten, mit denen sie für viele Jahre leben, bevor sie sterben. Die Zeit nach der Diagnosestellung ist häufig gekennzeichnet durch die Belastung durch physische und psychische Symptome, immer grösser werdende Abhängigkeit und Gebrechlichkeit sowie zunehmenden Unterstützungsbedarf. Palliative Care möchte die Lebensqualität von Patientinnen und Patienten, die mit einer lebensbedrohlichen und lebenslimitierenden Erkrankung konfrontiert sind, und ihren Angehörigen verbessern. Palliative Care ist ein interprofessioneller holistischer Ansatz: Die betroffene Person und ihr Netzwerk werden betreut und alle belastenden Symptome der vier Dimensionen (physisch, psychisch, sozial und spirituell) angegangen. Fachpersonen der Palliative Care vertreten die Haltung, dass jede Person einzigartig und autonom ist und das Recht hat, trotz lebensbedrohlicher und lebenslimitierender Erkrankung mit einer möglichst hohen Lebensqualität weiterzuleben (Bajwah Sabrina et al., 2020).

Lebensqualität

Der Begriff Lebensqualität wird im Alltag oft benutzt, eine einheitlich verwendete Definition gibt es aber nicht (Karimi Milad & Brazier John, 2016). Die Weltgesundheitsorganisation definiert die allgemeine Lebensqualität als subjektive Wahrnehmung einer Person: über ihre Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertesystemen, in denen die Person lebt, und in Bezug auf ihre Ziele, Erwartungen, Massstäbe und Anliegen. Es handelt sich um ein breites Konzept, das in komplexer Weise beeinflusst wird durch die körperliche Gesundheit, den psychischen Zustand, die sozialen Beziehungen, die persönlichen Überzeugungen etc. Eine oft zitierte Definition lautet: Lebensqualität ist das, was für die betroffene Person Lebensqualität ist.

Im Allgemeinen kann gesagt werden, dass Lebensqualität das gefühlte Wohlbefinden oder die Abwesenheit von Wohlbefinden umfasst. Dabei handelt es sich um ein Konstrukt, das verschiedene Bereiche wie etwa die körperliche, emotionale und soziale Domäne beinhaltet (Spranger Mirjam et al., 1993), wie es unter anderem im Total-Pain-Konzept nach Cicely Saunders beschrieben wird (Abb. 1).

Gesundheitsbezogene Lebensqualität

Auch keine allgemeine Definition gibt es für die gesundheitsbezogene Lebensqualität. Sie wird beschrieben als multidimensionales Konzept, das Einschätzungen für die physische und mentale Gesundheit sowie ihrer Korrelate enthält (Gesundheitsrisiken und -bedingungen, funktioneller Status, soziale Unterstützung und sozioökonomischer Status). Bei der Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität werden oft diese Dimensionen abgefragt. Viele schwer kranke Personen berichten über eine überraschend gute Lebensqualität; umgekehrt geben Personen mit einem guten therapeutischen Ergebnis nicht selten eine schlechte Lebensqualität an (Woopen Christiane, 2014). Hier besteht ein response shift, also eine Verschiebung der Bezugssysteme: Der Bewertungshintergrund wird laufend der neuen Situation angepasst.

Lebensqualität in der onkologischen Palliative Care

Therapieempfehlungen und Therapiezielfindung im onkologischen Kontext orientieren sich mehrheitlich an objektiven Befunden wie z. B. Tumoransprechen. Auch ist in onkologischen Studien meistens das Überleben die Zielgrösse, wohingegen in der Palliative Care die Lebensqualität im Fokus steht. Wenn diese beiden Perspektiven zusammengeführt werden, kann eine für die jeweilige Situation angemessene Therapieempfehlung abgegeben werden (AWMF, 2020). Eine frühe Integration der Palliative Care bei Personen mit Krebs kann ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität, Symptombelastung und Betreuungszufriedenheit verbessern (Bajwah Sabrina et al., 2020).

Erfassung der Lebensqualität in der Palliative Care

Der «EORTC QLQ-C15-PAL» (European Organization for Research and Treatment of Cancer – quality of life questionnaire) ist eine kürzere Version des ursprünglichen «EORTC QLQ-C30». Der C15-PAL umfasst 15 Fragen und wurde speziell für Personen in palliativer Krankheitsphase entwickelt (Groenvold Mogens et al., 2006). Der Fragenbogen «FACT» (Functional Assessment of Cancer Therapy) erfasst die gesundheitsspezifische Lebensqualität von Personen, die an Krebs erkrankt sind, mit 32 Fragen (Cella David et al., 1993).
Es ist klar, dass diese Fragebögen wegen ihrer Länge im klinischen Alltag nicht standardisiert angewendet werden und bisher vor allem in der Forschung ihren Stellenwert haben. Im klinischen Alltag wird häufig der Fragebogen «IPOS» (Integrated Palliative Outcome Scale) eingesetzt. Er umfasst zehn Fragen zu physischen, psychosozialen und spirituellen Aspekten und die Selbsterfassung multidimensionaler Versorgungsaspekte. Es existiert eine Patienten- und eine Mitarbeitendenversion. Die Mitarbeitendenversion erreicht nie die gleiche Wertigkeit wie die direkte Patientenbefragung, ist aber besser als gar keine systematische Erfassung.

Digitale Erfassung

Zukünftig könnten Daten aus Symptomerfassungen mit klinischen Daten oder auch mit klinischen Leitlinien verbunden werden. Durch die Entwicklung intelligenter Systeme kann die Erfassung gleich mit einer computerbasierten Entscheidungshilfe für zu ergreifende diagnostische und/oder therapeutische Massnahmen gekoppelt werden. Das Programm erkennt also z. B. einen hohen Schmerzwert und blendet dann unmittelbar eine passende Leitlinie zur Schmerzbehandlung ein (Blum David et al., 2015). Dabei ist jedoch zu beachten, dass digitale und automatisierte Methoden auch Risiken beinhalten wie ungenügender Datenschutz, gefährliche Automatismen, systematische Fehler, Rationalisierung und Entmenschlichung.

selbst Auskunft geben können

Personen mit fortgeschrittener Erkrankung sind oft nicht in der Lage zu sprechen oder einen Fragebogen auszufüllen, etwa wegen kognitiver Einschränkungen oder zu stark reduziertem Allgemeinzustand. Je weiter die Krankheit voranschreitet, desto schwieriger kann die Kommunikation und somit die systematische Erfassung von Symptomen und Problemen (patient reported outcomes) werden. In diesen Situationen muss man sich auf alternative Erfassungsmethoden verlassen. Oft können Angehörige zur stellvertretenden Beurteilung herbeigezogen werden. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es dabei zu Verzerrungen in unterschiedliche Richtungen kommen kann. Auch Einschätzungen des Behandlungsteams können verzerrt sein, da dieses dazu neigt, Symptome in Zahl und Intensität zu unterschätzen (Laugsand Eivor et al., 2010). Oft hilft es, die doch sehr unterschiedlichen Bewertungen im Behandlungsteam zu diskutieren und zu einer gemeinsamen Einschätzung zusammenzubringen (Oechsle Karin et al., 2013). Des Weiteren sollte auf nonverbale Zeichen der Patientin oder des Patienten geachtet werden. Pflegefachpersonen entwickeln da sehr häufig eine grosse Expertise.

Lebensqualität und Sterbewunsch

Manche Menschen mit einer lebenslimitierenden, progressiven Erkrankung wünschen sich ein baldiges Sterben resp. haben den Wunsch, tot zu sein (AWMF, 2020). 12-45% von an Krebs erkrankten Personen in palliativer Krankheitsphase äussern einen temporären und 10-18% einen stetigen Sterbewunsch. Ein Sterbewunsch ist nicht einfach mit suizidalen Tendenzen oder dem Wunsch nach assistiertem Tod gleichzusetzen (Voltz Raymond et al., 2021). Ein Sterbewunsch einer Person sollte erkannt, wahrgenommen und verstanden werden (AWMF, 2020). Voraussetzung dafür ist, dass danach aktiv gefragt wird. Das Ansprechen von suizidalen Gedanken führt nicht zu deren Entstehung oder Steigerung, sondern wirkt im Gegenteil für die Betroffenen entlastend und kann die Patient-Fachperson-Beziehung stärken (AWMF, 2020 & Voltz Raymond et al., 2021). In manchen komplexen Situationen verspüren Betroffene gleichzeitig einen Sterbewunsch und den Wunsch nach Heilung. Interprofessionell soll mit den betroffenen Personen zusammen eruiert werden, wie man die Lebensqualität im Kontext des Sterbewunsches bestmöglich verbessern kann.

Lebensqualität versus Sterbequalität

Palliative Care endet nicht mit dem Tod einer Patientin oder eines Patienten, da die Angehörigen weiterleben. Die Sterbe- resp. Todesqualität wird von den Angehörigen erfragt. Dabei überschätzen die Angehörigen oft das Leid der verstorbenen Person, weil sie oft selbst sehr leiden und trauern.

Studien darüber, wie ein «guter Tod» sein soll, haben ergeben, dass die Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen auf das Sterben vorbereitet und gut behandelt und gepflegt werden möchten. Sie möchten ein Gefühl von Erfüllung erlangen, in Bezug auf sich, die Familie, Gesellschaft und Transzendenz. Zudem äussern alle die Wichtigkeit einer guten Patient-Fachperson-Beziehung.
Es gibt wie bei der Lebensqualität keine allgemeingültige Definition eines guten Sterbens. Gute Betreuung am Lebensende ist höchst individuell und sollte durch gemeinsame Entscheidungsfindung entstehen, welche die Werte und Präferenzen der betroffenen Personen mit einbezieht. Alle Personen, die in die Pflege am Lebensende involviert sind, werden in die Entscheidungsfindung einbezogen (Steinhauser Karen et al., 2000).

Schlussfolgerung

  • Leiden ist immer subjektiv und soll daher aktiv erfragt werden.
  • Lebensqualität ist ein mehrdimensionales Konstrukt, bei dem es im Krankheitsverlauf immer wieder zu Anpassungen kommen kann.
  • Angehörige und das Behandlungsteam sollen miteinbezogen werden, aber die Patientinnen und Patienten stehen im Zentrum, da nur sie genau sagen können, wie es ihnen geht.

Fanny Wolfensberger, MScN, Prof. Dr. med. David Blum

Kompetenzzentrum Palliative Care USZ und Abteilung für Palliative Care STZ

Erstpublikation des Artikels in der Zeitschrift Onkologiepflege 3/22.

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. AWMF. (2020). Erweiterte S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht-heilbaren Krebserkrankung. Abgerufen von https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/128-001OLl_S3_Palliativmedizin_2020-09_02.pdf
Bajwah, S., Oluyase, A.O,, Yi, D., Gao, W., Evans, C.J., Grande, G., Todd, C., Costantini, M., Murtagh, F.E. & Higginson, I.J. (2020). The effectiveness and cost-effectiveness of hospital-based specialist palliative care for adults with advanced illness and their caregivers. Cochrane Database of Systematic Reviews, 9.
Blum D, Raj SX, Oberholzer R, Riphagen II, Strasser F, Kaasa S, EURO IMPACT, European Intersectorial Multidisciplinary Palliative Care Research Training (2015) Computer-Based Clinical Decision Support Systems and Patient-Reported Outcomes: A Systematic Review. Patient 8:397–409. doi: 10.1007/s40271-014-0100-1
Groenvold, M., Petersen, M.A., Aaronson, N.K., Arraras, J.I., Blazeby, J.M., Bottomley, A., Fayers, P.M., de Graeff, A., Hammerlid, E., Kaasa, S., Sprangers, M.A.G. & Bjorner, J.B. [EORTC Quality of Life Group]. (2006). The development of the EORTC QLQ-C15-PAL: a shortened questionnaire for cancer patients in palliative care. European Journal of Cancer, 42, 55–64.
Steinhauser, K.E., Christakis, N.A., Clipp, E.C., McNeilly, M., McIntyre, L. & Tulsky, J.A. (2000). Factors Considered Important at the End of Life by Patients, Family, Physicians, and Other Care Providers. JAMA, 284(19), 2476–2482.

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  • Vol. 12
  • Ausgabe 6
  • September 2022