Lernen von jedem Patienten – über das Stopfen von Evidenzlücken



Die Entwicklung der Methodologien zur Evidenzgenerierung in der Medizin war getrieben von einem aufklärerischen Grundgedanken, der unter Zuhilfenahme von Mathematik und Statistik und unter Ausgrenzung von Einzelerfahrungen die Königstreppe der Evidenz zimmerte: Vom dunklen Keller der Expertenmeinung bis zum gleissend hellen Leuchtturm der Meta-Analysen randomisierter Studien.

Nun, wir wissen alle, wie aufwändig und hürdenreich die Durch­führung klinischer Studien ist. An der Anzahl pfiffiger und relevanter Studienideen mangelt es nicht, hingegen bilden die Rekrutierung genügend grosser Patientenzahlen und die Finanzierung all der notwendigen Ressourcen schon deutlich höhere, mitunter unüberwindbare Barrieren. So ist der Euphorie beim Anblick des methodologischen Turmwerks medizinischer Evidenz schon bald die bittere Erkenntnis gefolgt, dass die Wissensgenerierung in der Medizin Ressourcen-, sprich Interessens-abhängig ist und somit immer relevante Lücken aufweisen wird.

Für Fragestellungen, für deren Beantwortung wenig finanzstarkes industrielles Interesse besteht, sind die Lücken tendenziell grösser. Es mag daher kein Zufall sein, dass die Thematik «Learning from every patient» zentrales Leitmotiv war an einem Kongress der Radio-Onkologie, nämlich am Jahreskongresses der ESTRO 2022 in Kopenhagen. In verschiedenen Keynote Vorträgen und Spezialsessions wurde der Frage nachgegangen, welche zusätzlichen Wege der Wissensgenerierung gegangen werden können. Neben der Integration der PREMs und PROMs in die Routine-Nachsorge, wurde der Diskussion von grossen Patientenkohorten breiten Raum gegeben. So gesammelte Daten können umso besser ausgewertet werden, je höher der Anteil Guideline-konformer Behandlungs­konzepte ist und je einheitlicher die zur Dokumentation verwendete Begrifflichkeit gehandhabt wird. Im Feld der Radio-Onkologie sind grosse internationale Initiativen unter Miteinschluss der industriellen Keyplayers unterwegs, diese sogenannte semantische Inter­operabilität zu erarbeiten.

Im Rahmen der Digitalisierung der Medizin wird zuweilen inflationär mit Schlagworten wie «real world data», «data science», «machine learning» und «artificial intelligence» hantiert. Als Sahnehäubchen wird dann noch «natural language processing» dazugegeben, eine Technologie, die uns je nach Grad der Heilsversprechung vom mühsamen Geschäft der Patientendokumentation, wenn nicht ganz befreien, so doch wesentlich darin unterstützen soll. Nun – es wird kein Weg daran vorbeiführen, dass wir uns der unabdingbaren Voraussetzung für die Ernte all der versprochenen Daten-Früchte annehmen müssen: die systematische, qualitativ hochstehende, semantisch konsensuell vereinbarte und technisch interoperable Dokumentation von Patientendaten. Das ist mühsam – und das kostet Geld. Aber nur dann wird es uns gelingen, subsidiär zu prospektiven Interventionsstudien von jedem einzelnen Patienten Evidenz-generierend zu lernen und so zum Stopfen von Wissens­lücken beizutragen.

 

Prof. Dr. med. Daniel Aebersold
daniel.aebersold@insel.ch

Prof. Dr. med.Daniel M. Aebersold

Inselspital
Universitätsspital Bern
Universitätsklinik für Radio-Onkologie
Freiburgstrasse
3010 Bern

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  • Vol. 12
  • Ausgabe 5
  • August 2022