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Welche Rolle spielt die Gesundheitskompetenz?

Medikamentenadhärenz in der Onkologie

Gesundheitskompetenz besteht aus dem Wissen, den Fähigkeiten und den Fertigkeiten einer Person, Informationen über Gesundheit zu verstehen, zu bewerten und anzuwenden. Bei modernen Krebstherapien mit oralen Medikamenten wird die Gesundheitskompetenz immer relevanter.



Krebstherapien werden immer häufiger mit oralen Medikamenten durchgeführt. Adhärenz, Kompetenzen, Selbstwirksamkeit sowie Selbstmanagement der Patientinnen und Patienten werden deshalb auch bei der Krebsbehandlung immer bedeutender (1). Der Begriff Adhärenz – anders als der ältere Begriff Compliance – impliziert, dass die Betroffenen eine aktive Rolle im Selbstmanagement einnehmen, vor allem im Zusammenhang mit der korrekten Einnahme der oralen Tumortherapien und deren unerwünschten Wirkungen. Adhärent zu sein bedeutet auch, dass die Betroffenen aktiv mit dem Gesundheitspersonal Bedürfnisse und Wünsche, aber auch Sorgen und Befürchtungen diskutieren und in komplexen Situationen aktiv entscheiden (1, 2).

Adhärenz bei einer Krebskrankheit

Adhärenz ist ein multidimensionaler Prozess mit unterschiedlichen Aspekten und Auswirkungen. Während einer Krebserkrankung wird die Medikamentenadhärenz durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst, was zu verschiedenen Stufen der Adhärenz führt: hohe, mittlere oder geringe Adhärenz und Non-Adhärenz (2, 3). Um sicherzustellen, dass Patientinnen und Patienten ihre aktive Rolle in der Therapie wahrnehmen können, benötigen sie individuell massgeschneiderte Informationen, Beratung und Betreuung (1). Dazu gehört eine umfassende Edukation, die die Betroffenen befähigt, die Krebskrankheit sowie das Medikamenten- und Symptommanagement zu bewältigen. Ziel ist es, die Adhärenz zu fördern und zu stärken und den Betroffenen Sicherheit im Umgang mit den Medikamenten zu vermitteln (4).

Akkurate, individuell abgestimmte Informationen, die den Fähigkeiten und den Ressourcen der Patientinnen und Patienten entsprechen, gilt es zu definieren. Obwohl es viele digitale Angebote gibt, bestimmen immer noch hauptsächlich schriftliche Informationen die Kommunikation. Informationen müssen zeitnah, nachhaltig und einfach übermittelt werden und den Gesundheitskompetenzen der Betroffenen entsprechen.

Krebskompetenz («Cancer Literacy»)

Laut Sörensen (2012) umfasst die Gesundheitskompetenz das Wissen, die Motivation und die Kompetenzen eines Menschen, gesundheitsrelevante Informationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und sich in diesem Kontinuum gesundheitsbezogen zu entscheiden.

«Cancer Literacy» (Krebskompetenz) bezieht sich auf die Gesundheitskompetenz im Zusammenhang mit einer Krebserkrankung. Im Verlauf der Krankheit, gilt es zeitkritische Entscheidungen zu treffen. Ein Agieren oder Nichtagieren der Patientinnen und Patienten oder Gesundheitspersonen kann kritische Auswirkungen haben, unter anderem auf den Outcome und die Lebensqualität der Betroffenen (5, 6). Zur Gesundheitskompetenz gehören auch kommunikative und kognitive Fähigkeiten resp. Fertigkeiten (7). Diese sind gerade im Zusammenhang mit der Medikamentenadhärenz relevant.

Lese- und Schreibfähigkeit

Damit sich eine Person im Gesundheitssystem zurechtfinden kann, ist es essenziell, dass sie Geschriebenes lesen, verstehen und anwenden kann. «Literalität Literacy ist die Fähigkeit, das geschriebene Wort zu nutzen, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, eigene Ziele zu erreichen und das eigene Wissen und Potenzial weiter zu entwickeln.» (8, S. 6).

In Mitteleuropa gehen die meisten Menschen davon aus, dass alle der schriftlichen Sprache mächtig sind. Doch häufig ist die Lese- und Schreibfähigkeit auch in Industrieländern unzureichend (9).

Der Begriff Illettrismus umschreibt das soziale Phänomen, dass Menschen nicht über die nötige Lese- und Schreibkompetenz verfügen, um das gesellschaftliche Leben und den Alltag zu meistern (www.lesen-schreiben-schweiz.ch). Geschätzt leben in der Schweiz 800000 Menschen mit einer Lese- und Schreibschwäche (10). Bei der Anwendung von oralen Tumormedikamenten und der Adhärenz sind Lese- und Schreibkompetenzen aber von grosser Bedeutung. Um sicherzustellen, dass Informationen über Tumormedikamente von den Patientinnen und Patienten verstanden werden, ist es wichtig, unterschiedliche Kanäle und Ressourcen anzusprechen und zu aktivieren (5). Schriftliche Informationen, insbesondere diejenigen für die Patientenedukation, müssen komplexe gesundheits- und medikamentenbezogene Informationen in einer verständlichen Sprache vermitteln. Dies minimiert das Risiko negativer Behandlungsergebnisse und fördert eine patientenzentrierte Gesundheitsversorgung (11). Wichtige Aspekte für das Empowerment der Patientinnen und Patienten sind eine einfache Sprache ohne medizinische Terminologie, kurze Sätze und eine grosse, gut leserliche Schrift (11). Um die Lesbarkeit von Texten zu prüfen, kann eine Textanalyse durchgeführt werden (www.leichtlesbar.ch). Damit wird der Flesch-Wert berechnet (Lesbarkeitsgrad), der angibt, wie leicht ein Text aufgrund seiner Struktur lesbar und verständlich ist.

Fazit

Gesundheitskompetenz ist ein entscheidender Faktor, um die bestmöglichen Ergebnisse einer Krebstherapie zu erzielen. «Health» oder «Cancer Literacy» hat einen starken Bezug zur Medikamentenadhärenz und vice versa (12). Menschen mit einer Krebserkrankung sind vulnerabel. Die Progression der Krankheit oder die unerwünschten Wirkungen der Tumortherapien können die Gesundheitskompetenz negativ beeinflussen. Insbesondere bei krebs- oder therapie-induzierter Fatigue oder «Chemo-Brain» können die kognitiven Fähigkeiten stark beeinträchtigt sein. Dies kann die Fähigkeit zur Informationsaufnahme, -verarbeitung und -anwendung einschränken. Diese Aspekte müssen zwingend berücksichtigt werden, wenn man Patientinnen und Patienten dazu befähigen möchte, während der Krankheit adhärent zu sein.

Evelyn Rieder
Master of Nursing Science, Universität Basel
Dozentin und Beratung
Vorstand Verein Orale Tumortherapie
https://oraletumortherapie.ch
evelyn.rieder@riev.ch

Erstpublikation des Artikels in der Zeitschrift Onkologiepflege 3/2023

1. Papadakos J, Barnsley J, Berta W, Rowlands G, Samoil D, Howell D. The association of self-efficacy and health literacy to chemotherapy self-management behaviors and health service utilization. Support Care Cancer. 2022;30(1):603-13.
2. Haag M, Lehmann A, Hersberger KE, Schneider MP, Gauchet A, Vrijens B, et al. The ABC taxonomy for medication adherence translated into French and German. British Journal of Clinical Pharmacology. 2020;86(4):734-44.
3. Vrijens B, De Geest S, Hughes DA, Przemyslaw K, Demonceau J, Ruppar T, et al. A new taxonomy for describing and defining adherence to medications. British Journal of Clinical Pharmacology. 2012;73(5):691-705.
4. Zerillo JA, Goldenberg BA, Kotecha RR, Tewari AK, Jacobson JO, Krzyzanowska MK. Interventions to improve oral chemotherapy safety and quality: a systematic review. JAMA oncology. 2018;4(1):105-17.
5. Morris NS, Field TS, Wagner JL, Cutrona SL, Roblin DW, Gaglio B, et al. The association between health literacy and cancer-related attitudes, behaviors, and knowledge. Journal of health communication. 2013;18(sup1):223-41.
6. Sørensen K, Makaroff LE, Myers L, Robinson P, Henning GJ, Gunther CE, et al. The call for a strategic framework to improve cancer literacy in Europe. Arch Public Health. 2020;78:60.
7. Sørensen K, Van Den Broucke S, Fullam J, Doyle G, Pelikan J, Slonska Z, et al. Health literacy and public health: A systematic review and integration of definitions and models. BMC Public Health. 2012;12(1):80.
8. Bundesamt für Statistik (BFS). Lesen und Rechnen im Alltag. Grundkompetenzen von Erwachsenen in der Schweiz. Nationaler Bericht zu der Erhebung Adult Literacy & Lifeskills Survey. In: BFS, editor. Neuenburg 2006.
9. Nutbeam D. The evolving concept of health literacy. Soc Sci Med. 2008;67(12):2072-8.
10. Arnold F. “Oft hiess es dann, ich sie halt der Idiot”: Hunderttausende Schweizer haben Mühe mit Lesen oder Schreiben. Neue Zürcher Zeitung,. 2023, 11.01.
11. Foster J, Idossa L, Mau LW, Murphy E. Applying Health Literacy Principles: Strategies and Tools to Develop Easy-to-Read Patient Education Resources. Clin J Oncol Nurs. 2016;20(4):433-6.
12. Cakmak HSG, Uncu D. Relationship between health literacy and medication adherence of Turkish cancer patients receiving oral chemotherapy. Asia-Pacific journal of oncology nursing. 2020;7(4):365-9.

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  • Vol. 13
  • Ausgabe 6
  • Oktober 2023