- Personalisierte Medizin in der Onkologie
Die heutige Personalisierte Medizin verschiebt den Fokus weg von der Krankheit hin zum Individuum: Der Patient wird in seiner privaten molekulargenetischen Signatur, deren Auswirkungen und seinem individuellen Verhalten und Lebensumständen erfasst und danach möglichst präzise behandelt. Die Chancen und Risiken dieser Entwicklung sind offen und zunehmend in der öffentlichen Diskussion.
La médecine personnalisée d’ aujourd’ hui déplace l’ attention de la maladie vers l’ individu : Le patient est saisi dans sa signature génétique moléculaire privée, ses effets et son comportement individuel et ses conditions de vie, puis traité de la manière la plus précise possible. Les opportunités et les risques de cette évolution sont ouverts et de plus en plus présents dans le débat public.
Einleitung
Von jeher versucht die Medizin, eine auf den individuellen Patienten ausgerichtete «personalisierte Medizin» mit dem zu der jeweiligen Zeit verfügbaren Wissen und Können anzuwenden. Dabei ist das aktuell vorherrschende Medizin-Modell abhängig vom Einfluss der zeitgleich dominierenden Ergebnisse der Wissenschaften. War in der 1. Hälfte des letzten Jahrhunderts die Psychoanalyse gross en vogue, so verhalf dies der psychosomatisch orientierten Medizin zu einem beachtlichen Aufschwung und in Erweiterung durch die soziologischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zum Model der bio-psycho-sozialen Medizin. Die Entdeckung und Entwicklung der Narkose, das erfolgreiche Konzept der Sterilität und antiinfektiösen Therapien, die Entdeckung der Blutgruppen und damit Etablierung der Transfusionsmedizin, sowie die apparative Bildgebung wiederum, haben der modernen operativ, pharmakologisch und technisch dominierten Medizin in der 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts zu eindrücklichen Höhenflügen verholfen.
Nun befinden wir uns seit der Entschlüsselung des genetischen Codes in den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts in der Zeit der biochemisch, molekulargenetisch und immunologisch dominierten Medizin – neuerdings ergänzt mit den grossen Versprechungen der intelligenten «Big Data» Analysen und künstlichen Intelligenz. Da ist nun potentiell jeder Mensch permanent Objekt und Subjekt in seiner Totalität, mit seiner ganz individuellen, vollständigen, molekulargenetischen Signatur und seinem Verhalten in Gesundheit und Krankheit. Wir sind erst gerade daran, die weitreichenden Chancen und Risiken dieser Entwicklung zu erfassen und verstehen. Eine breite öffentliche Diskussion ist nun notwendig, damit die einerseits – wohl zu Recht – grossen Chancen und andererseits die nicht zu unterschätzenden Risiken für den verletzlichen gläsernen Patienten verstanden werden. Das Bundesamt für Gesundheit hat ein eigenes Merkblatt zur Begrifflichkeit der Personalisierten Medizin verfasst, was die Bedeutung dieser Entwicklung für die hiesige Öffentlichkeit klar unterstreicht. In den USA hat sich in letzter Zeit der Begriff «Precision Medicine» vermehrt etabliert gegenüber von «Personalized Medicine», da hier mehr zum Ausdruck kommt, dass es sich um eine genau auf eine für den Patienten passende Zielstruktur gerichtete Medizin handelt. Es soll nicht übersehen werden, dass dieser Begriff auch bewusst manipulativ medial eingesetzt wird, um die teilweise exorbitant hohen Preise und Kosten neuer Therapien zu rechtfertigen.
Definitionen zu personalisierter Medizin und Gesundheit
1. Bundesamt für Gesundheit (BAG)
«Die personalisierte Medizin (auch Präzisionsmedizin oder individualisierte Medizin genannt) umfasst im Allgemeinen diagnostische, präventive und therapeutische Massnahmen, die auf ein Individuum optimal zugeschnitten sind. Die Person wird untersucht, insbesondere um genetische Merkmale zu bestimmen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen fliessen anschliessend in den Entscheidungsprozess für Therapie- und Präventionsmassnahmen zur Behandlung jener Person ein. Von solch massgeschneiderten Behandlungen erhofft man sich wirksamere Therapien und weniger Nebenwirkungen. Langfristig sollen sie somit auch positiv auf die Kostenentwicklung wirken.
Das Konzept der Personalisierten Gesundheit geht über dasjenige der Personalisierten Medizin hinaus und spielt insbesondere für die Prävention eine wichtige Rolle. Für die Personalisierte Gesundheit stehen nicht nur die Patientinnen und Patienten im Fokus, sondern auch gesunde Personen. Es werden neben Informationen zur «Biologie» der Person weitere gesundheitsbezogene Daten aus unterschiedlichen Quellen berücksichtigt.»
2. USA National Cancer Institut (NCI-Dictionnary)
«Personalized Medicine: A form of medicine that uses information about a person’ s genes, proteins, and environment to prevent, diagnose, and treat disease. In cancer, personalized medicine uses specific information about a person’ s tumor to help diagnose, plan treatment, find out how well treatment is working, or make a prognosis. Examples of personalized medicine include using targeted therapies to treat specific types of cancer cells, such as HER2-positive breast cancer cells, or using tumor marker testing to help diagnose cancer. Also called precision medicine.»
Die personalisierte Medizin und die moderne Onkologie
Die onkologische Hämatologie und Onkologie haben sich als klare medizinische Frontdisziplin dieser rasanten Entwicklung in den letzten 3 Jahrzehnten etabliert und sind somit mit vielen neuen offenen Fragen jeweils als Erste konfrontiert. Schon alleine durch die heute immer rascher verfügbare und auch zunehmend bezahlbare Entschlüsselung der molekulargenetischen Signatur der individuellen Tumorerkrankung unterscheiden wir von Monat zu Monat neue Untergruppen von bisher als einheitlich verstandenen Tumorentitäten. So haben wir es bereits heute mit über 1000 Untergruppen von Malignomen zu tun; letztlich ist jeder Tumor eines individuellen Patienten sogar einzigartig in seinem Muster von Mutationen und weiteren genetischen und epigenetischen Veränderungen. Diese genetischen Signaturen verändern sich dann noch weiter im Verlauf der Erkrankung mit den vielen Generationen an weiteren fehlerhaften Zellteilungen und sind vom Primärtumor zu der verschiedenen Metastase dazu noch weiter variabel. Auch die Therapien verändern die genetischen Informationen zusätzlich und können die malignen Zellen mit insbesondere die Resistenz unterstützenden Mutationen selektionieren. Für die therapeutische Nutzung dieser Daten ist es entscheidend, für den jeweiligen Patienten herauszufinden, welche der vielen genetischen Veränderungen den Krankheitsprozess bestimmen («driver mutations») und welche nicht («passenger mutations»), um die dafür wirksame, hochpräzise Therapie für das aktuelle Krankheitsstadium des jeweiligen Patienten zu entwickeln und einzusetzen.
Hohe Erwartungen an Big Data
Das heutige Konzept der «Personalisierten Medizin» ist also im «Management» der einzelnen Patienten mit sehr grossen komplexen Datenmengen konfrontiert, die weit über die Erfahrung des einzelnen Arztes oder eines lokalen Spezialisten Teams hinausgehen. Der unmittelbare Austausch dieser Daten unter den Experten in grossen nationalen und internationalen Netzwerken erlaubt es grundsätzlich, die Ergebnisse bisheriger und neuer diagnostischer und therapeutischer Verfahrenszeit zu erfassen, zu vergleichen und auszuwerten. Damit wird der Nutzen der neuen Erkenntnisse enorm gesteigert und die jeweils beste diagnostische und therapeutische Vorgehensweise für den aktuellen und den nächsten individuellen Patienten wird damit viel schneller verfügbar. Der Weg dahin ist aber lang und teuer und hat noch viele ethische sowie politische Hürden zu nehmen (wie z.B. Datenschutz, Versicherungsrecht und grenzüberschreitende Nutzung).
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat mit dem Swiss Personalized Health Network (SPHN) die Infrastrukturen geschaffen, um die vielen Gesundheitsdaten in der Schweiz für die Forschung und letztlich die Patientinnen und Patienten nutzbar zu machen. Das vom Forum Genforschung betriebene Themenportal «Personalisierte Gesundheit» und das Dialogprojekt «Mensch nach Mass» der Stiftung Science et Cit. sind weitere Aktivitäten, die von der SAMW mitgetragen werden. In einem eigenen Positionspapier überprüft die SAMW zudem den Nutzen und die Risiken des medizinischen Fortschritts für die nachhaltige Entwicklung des Gesundheitssystems insgesamt. Bei allen Erwartungen, welche die Personalisierte Medizin weckt, ist es auch eine Aufgabe der SAMW und anderer nationaler und internationaler unabhängiger Organisationen, diese im Kontext eines nachhaltigen Gesundheitssystems kritisch zu hinterfragen.
Beispiele der «Personalisierten Onkologie»
Das wohl berühmteste und auch erste Beispiel zielgerichteter Therapie stammt aus der Onkologie, nämlich die Behandlung der chronischen myeloischen Leukämie (CML). Es konnte gezeigt werden, dass sie durch eine einzigartige pathognomonische Translokation zwischen den Chromosomen 9 und 22 verursacht wird, welche zytogenetisch und molekularbiologisch nachgewiesen werden kann. Aus dieser Translokation entsteht ein neues Protein mit einer veränderten Funktion, das BCR-ABL-Eiweiss, welches ein ungebremstes Wachstum und damit die Leukämie auslöst. Diese Funktion kann durch neue Krebsmedikamente, sogenannte Kinase-Inhibitoren wie Imatinib, geblockt werden – mit dramatischer Verbesserung des Überlebens von CML-Patienten. BCR-ABL ist in der CML somit ein diagnostischer Biomarker, wie auch ein prädiktiver Test – er sagt die Wirkung von Kinase-Inhibitoren voraus.
Eine weitere onkologische Erkrankung, bei der zielgerichtete Therapien das Überleben deutlich verlängern konnten, ist das maligne Melanom. Es konnte gezeigt werden, dass rund 60% der metastasierten Melanome der Haut eine Punktmutation im BRAF-Gen aufweisen. BRAF-Kinase- Inhibitoren (wie Vemurafenib, Dabrafenib oder Encorafenib) sind in dieser Situation sehr gut wirksam; allerdings entwickelt sich meist rasch eine Resistenz, was die Gabe weiterer Medikamente bedingt.
Als Beispiel wie heute die personalisierte Onkologie praktiziert wird, sei hier das Nichtkleinzellige Lungenkarzinom NSCLC angeführt.
Hatten wir noch vor 20 Jahren im Wesentlichen die Nichtkleinzelligen Lungenkarzinome unterschieden in die Plattenepithel- und Adeno-Karzinome, so unterschieden wir heute circa 20 molekulargenetisch verschiedene Typen und diese Zahl nimmt laufend zu. So wurde kürzlich Dacomitinib (Vizimpro) als Monotherapie zur Erstlinienbehandlung von Patienten mit lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem NSCLC mit aktivierenden Exon 19 Deletionen oder Exon 21 (L858R) Substitutionsmutationen des epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor (EGFR) zugelassen. Das mediane Überleben zeigte für Dacomitinib einen signifikanten Vorteil gegenüber dem Vergleichsarm (Gefitinib) mit 34.1 Monaten gegenüber 26.8 Monaten. Ein aktueller Behandlungsalgorithmus für Patienten mit NSCLC und nachweisbaren bekannten Driver-Mutationen ist in Abbildung 1 angeführt.
Trotz den rasanten und sehr kostspieligen Fortschritten in der Onkologie und onkologischen Hämatologie muss festgehalten werden, dass die bisherige konventionelle Chemotherapie und Radiotherapie keineswegs ausgedient haben. In vielen Situationen ergänzen sich die verschiedenen bewährten und neuen Therapieformen und bei noch vielen Patienten haben wir noch keine zielgerichteten Therapien verfügbar oder sie sind noch nicht ausreichend oder nur kurzfristig wirksam.
Es ist aber auch legitim, die bereits absehbaren enormen Erfolge insbesondere auch der Immuntherapien z.B. in der jetzt möglichen kurativen Behandlung der Patienten mit metastasierendem malignen Melanom oder mit bisher therapie-refraktären akuten Leukämien oder Lymphomen und anderen mehr zu erwähnen. Wir stehen hier wirklich erst am Anfang eines weiten Weges.
In einer breit angelegten Studie in den USA wurde kürzlich untersucht, wie viele der 94 157 zielgerichteten behandelten Patienten im Zeitraum 2006-2018 profitiert haben (Abb. 2) und wie das Ansprechen («response rate») und die Dauer des Ansprechens («Duration of Response») aussieht (Abb. 3; Marquart 2018).
Ausblick
Es wird entscheidend sein, dass der Nutzen der personalisierten Medizin als Resultat der weitgehend von der Öffentlichkeit getragenen Billionen schweren Grundlagen- und Klinischen Forschung der breiten Bevölkerung auch umfassend und zu fairen Bedingungen zu Gute kommt. Die bisherige zu einseitige Kommerzialisierung des medizinischen Fortschritts – insbesondere durch die zu grosszügige Monopolisierung durch privatisierte Patente aus der öffentlichen Forschung – muss den heutigen Realitäten wieder gerecht werden und die Preise der innovativen Medikamente in ein nachvollziehbares, transparentes und faires Verhältnis von Aufwand und Ertrag gesetzt werden. Eine freie Preissetzung neuer Medikamente, wie es die USA zulässt, ist nicht mehr haltbar in solidarisch getragenen Gesundheitssystemen wie in Europa.
Wir als Experten der Medizin sind nun mitten im Aufbruch dieser medizinischen Revolution, welche in sehr raschem Tempo voranschreitet, enorm gefordert. Die therapeutischen, diagnostischen und präventiven Optionen der nahen Zukunft sind noch kaum absehbar gross und haben enorme Konsequenzen für die ganze Gesellschaft. Die Inzidenz und Prävalenz der Erkrankungen sind in raschem Wandel mit grossen wirtschaftlichen und demographischen Auswirkungen auf die Gesellschaft. Die Möglichkeiten ins Genom des Menschen, insbesondere auch in die Keimbahn einzugreifen, wie z.B. durch die CRISPR-Cas9 Methoden, sind gerade erst in der Initialphase der öffentlichen Diskussion – ebenso wie die Optionen der Verschmelzung von Mensch und Technik im «Transhumanismus», wo der einzelne Mensch durch technische Implantate «verbessert» werden soll.
Prof. Daniel Scheidegger, bis Ende 2019 Präsident der SAMW schreibt:
«Alle Gesundheitsfachleute müssen sich heute mit diesen neuen Trends auseinandersetzen. Da die Medizin sich in Zukunft nur noch multi- und interprofessionell weiterentwickeln kann, sind die Inhalte nicht nur auf alle Berufsgruppen ausgerichtet, sondern auch interprofessionell entstanden. Die Personalisierte Medizin wird in den nächsten Jahren rasant an Bedeutung gewinnen. Ob sich die grossen Hoffnungen bewahrheiten, wird die Zukunft zeigen».
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Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.
- Der Begriff «Personalisierte Medizin» wird heute in der Onkologie/Hämatologie gleichbedeutend mit molekulargenetisch basierter
Präzisionsmedizin («Precision Medicine») gebraucht. - Im weiteren Sinn werden auch das individuelle Verhalten und die aktuellen Lebensumstände als Teil der Personalisierten Medizin einbezogen.
- Die Personalisierte Gesundheit fokussiert auf Prävention und damit ebenso auf die gesunde Bevölkerung und Risikogruppen.
- Fortlaufende Analysen von Big Data werden als Schlüssel für den erhofften Erfolg der personalisierten Medizin und Gesundheit gesehen.
Messages à retenir
- Le terme « médecine personnalisée » est utilisé aujourd’ hui en oncologie/hématologie comme synonyme de médecine de haute précision
à base de génétique moléculaire (« Precision Medicine »). - Dans un sens plus large, les comportements individuels et les conditions de vie actuelles sont également inclus dans le cadre de la médecine personnalisée
- La santé personnalisée se concentre sur la prévention et donc aussi sur la population en bonne santé et les groupes à risque
- Les analyses en cours du Big Data sont considérées comme la clé du succès espéré de la médecine et de la santé personnalisées
1. «Personalisierte Medizin» der SAMW: www.samw.ch unter Publikationen
2. Faktenblatt Personalisierte Medizin des BAG: unter www.bag.admin.ch eingeben: Faktenblatt Personalisierte Medizin
3. Swiss Personalized Health Network (SPHN) Initiative: www.sphn.ch
4. Onkopedia Leitlinien: www.onkopedia.com
5. Marquart J, Chen EY, Prasad V. Estimation of the percentage of US patients with cancer who benefit from genome-driven oncology JAMA Oncol. 2018;4:1093-1098
info@onco-suisse
- Vol. 10
- Ausgabe 2
- April 2020