- Teilrevision der Kernenergieverordnung mit Fragezeichen
Ionisierende Strahlung kann Krebs beim Menschen verursachen. Ein konsequenter Strahlenschutz ist deshalb zwingend. Dieser muss auch bei Störfällen von Kernkraftwerken gewährleistet sein. Die vorgesehene
Teilrevision der Kernenergieverordnung wirft diesbezüglich Fragen auf.
Ionisierende Strahlung verfügt über genügend Energie, um Atome und Moleküle zu verändern. Sie kann das Erbgut schädigen und dadurch beim Menschen Krebs verursachen. Das Abschätzen eines dosisabhängigen Krebsrisikos ist allerdings herausfordernd. Entsprechende Grundlagen stammen grösstenteils aus Studien mit relativ kleinen Populationen, welche einer Dosis weit über der gewöhnlichen Strahlenbelastung ausgesetzt waren (1). Gerade das Krebsrisiko bei niedrigen Strahlendosen ist deshalb schwierig abzuschätzen. Es gilt deshalb der Grundsatz, dass es keinen Grenzwert gibt, unterhalb welchem kein Effekt zu erwarten ist. Wenn immer möglich, ist die persönliche Strahlenbelastung durch ionisierende Strahlung zu minimieren.
Risikominimierung durch Strahlenschutz
Die Strahlenschutzverordnung (StSV) schreibt vor, dass die effektive Dosis für eine Person aus der Bevölkerung den Grenzwert von 1 mSv (Millisievert) pro Kalenderjahr nicht überschreiten darf. Spezielle Dosiswerte gelten beispielsweise bei der Exposition gegenüber natürlich vorkommender ionisierender Strahlung, für strahlenexponierte Berufe, bei medizinischen Anwendungen oder bei Stör- und Notfällen. Aber auch hier gilt der Grundsatz der Risikominimierung. Bei Störfällen von Anlagen darf beispielsweise, je nach Wahrscheinlichkeit des Störfalls, eine bestimmte Dosis für Personen aus der Bevölkerung nicht überschritten werden. Bei einem Störfall mit einer Häufigkeit zwischen 10-2 und 10-4 pro Jahr ist dies beispielsweise 1 mSv, bei einem Störfall mit einer Häufigkeit zwischen 10-4 und 10-6 pro Jahr darf die resultierende Dosis maximal 100 mSv betragen. Auch Kernkraftwerke (KKW) müssen so ausgelegt sein, dass die mit der Störfallhäufigkeit verbundenen maximalen Dosiswerte nicht überschritten werden. Kann dieser Nachweis nicht erbracht werden, muss ein KKW vorläufig ausser Betrieb genommen werden. Die damit verbundene Störfallanalyse ist in der Kernenergieverordnung (KEV) geregelt.
Eine Frage der Auslegung
Die KEV weist derzeit eine gewisse Unschärfe in Bezug auf die Störfallanalyse und die damit verbundenen maximalen Dosiswerte auf. Mit einer Teilrevision der KEV soll dieser Interpretationsspielraum aufgehoben werden. Eine entsprechende Vernehmlassung zu den vorgesehenen Änderungen fand Anfang Jahr statt. Klar definierte Ausserbetriebnahmekriterien zur Vorbeugung von Störfällen mit dem Austritt von ionisierender Strahlung in die Umwelt sind in diesem Zusammenhang begrüssenswert und zwingend. Mit der vorgesehenen Teilrevision soll aber neu für Störfälle mit einer Häufigkeit von 10-4 pro Jahr (ein Ereignis in 10 000 Jahren, z.B. ein Erdbeben) ein Dosiswert von 100 mSv als Ausserbetriebnahmekriterium gelten. Eine solche Revision hätte zur Folge, dass die zulässige Strahlendosis für Störfälle mit einer Häufigkeit von bis zu 10-4 pro Jahr gegenüber heute um bis zu einem Faktor 100 steigt. Die Bevölkerung würde so einem zusätzlichen Strahlenrisiko ausgesetzt.
Konsequenter Strahlenschutz, auch bei Störfällen
Störfälle sind keine Alltagsereignisse. Die damit verbundenen Dosiswerte, die nicht überschritten werden dürfen, stellen aber gleichzeitig auch keine Trennlinie zwischen gefährlicher und ungefährlicher Strahlenexposition dar. Auch hier gilt der Grundsatz, dass es keinen Dosiswert gibt, unterhalb dessen ionisierende Strahlung mit Sicherheit keine gesundheitlichen Risiken birgt. Mit diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob ein Dosiswert von 100 mSv für Störfälle mit einer Häufigkeit von 10-4 pro Jahr tatsächlich geeignet bzw. verhältnismässig ist. Zumindest bräuchte es eine klare wissenschaftliche und medizinische Begründung, weshalb der entsprechende Dosiswert neu so hoch angesetzt werden soll. Dabei müsste auch bedacht werden, dass die Bevölkerung nicht homogen ist. Gerade Kinder sind gegenüber einer Strahlenbelastung empfindlicher als Erwachsene (1).
In einer solch heiklen Thematik sind Transparenz und Glaubwürdigkeit die höchsten Güter. Eine entsprechende Rückstellung der vorgesehenen Teilrevision und eine unabhängige Klärung des Sachverhalts wären an dieser Stelle deshalb angebracht.
Fachspezialist Prävention und Umwelt
Krebsliga Schweiz
1. Mazzei-Abba, A., Folly, C. L., & Spycher, B. D. Krebsrisiko bei Kindern durch Exposition gegenüber ionisierender S,trahlung. Paediatrica 2018, 29.
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- Dezember 2018