- Verbesserungsbedarf in der Versorgung von Menschen mit seltenen Krankheiten
Die Versorgung und Integration von Menschen mit seltenen Krankheiten stellt das Schweizer Gesundheits- und Sozialversicherungssystem vor besondere Herausforderungen. Ein Bericht des Bundesrats zeigt nun auf, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um eine angemessene Gesundheitsversorgung im Bereich der seltenen Krankheiten sicherzustellen. Insbesondere in der Versorgung, der Vergütung und bei der Information von Menschen mit seltenen Krankheiten und Gesundheitsfachpersonen sieht der Bundesrat Handlungsbedarf.
In der Schweiz leiden mehr als eine halbe Million Menschen an einer seltenen Krankheit. Eine Krankheit gilt hierzulande als selten, wenn sie höchstens fünf von 10 000 Personen betrifft und lebensbedrohlich oder chronisch einschränkend ist. Allerdings ist zwar die Zahl der von einer einzelnen Krankheit betroffenen Menschen tief – alle seltenen Krankheiten zusammen sind zahlreich: Bisher sind weltweit 6 000 bis 8 000 seltene Krankheiten beschrieben worden. Die meisten von ihnen sind kaum erforscht und es kommen immer wieder neue dazu (1). Auch seltene Krebserkrankungen sind häufiger, als die Bezeichnung vermuten lässt: Zwischen 2008 und 2012 erkrankten jährlich rund 1250 Männer und 1230 Frauen an einer seltenen Krebsart. Gemäss dem Schweizerischen Krebsbericht 2015 machen sie damit 6% aller Krebserkrankungen bei Männern und 7% bei Frauen aus. Die häufigsten der seltenen Krebsarten sind Plasmozytome und bösartige Plasmazellen-Neubildungen sowie Krebs der Gallenblase und der Gallenwege. Weitere Beispiele sind Krebserkrankungen des Knochens und Knorpels, der Nebennieren und anderer endokriner Drüsen oder auch bösartige Erkrankungen ohne bekannten Ursprung. Zudem gelten alle Krebserkrankungen bei Kindern als selten (2).
Nicht nur Krankheiten sind selten, es gibt auch wenig Fachwissen
Eine seltene (Krebs-)Erkrankung bringt nicht nur Patient:innen, sondern auch medizinische Fachleute an ihre Grenzen. Diagnose und Therapie dieser Krankheiten gestalten sich oft schwierig. Neben den Betroffenen sind auch Gesundheitsfachpersonen auf medizinische, rechtliche, administrative, soziale, schulische und berufliche Informationen angewiesen. Im Hinblick auf eine Verbesserung in der Versorgung bedarf es deshalb einer Bündelung von Expertise und der verstärkten Verbreitung von Informationen. Entscheidend sind Teamwork und Vernetzung aller beteiligten Akteure: Patient:innen, Leistungserbringer, Sozialversicherungen, Forscher:innen etc. Um schnell die richtigen Diagnosen zu stellen und die Betroffenen angemessen zu versorgen ist zudem die landesweite und auch internationale Zusammenarbeit zentral.
Patientenorganisationen und verschiedene Interessensgemeinschaften verlangen schon länger, dass die Situation von Menschen mit seltenen Krankheiten in der Schweiz verbessert wird. Beispielsweise forderte bereits 2010 ein Postulat von Nationalrätin Ruth Humbel die Erarbeitung einer nationalen Strategie für seltene Krankheiten (3). Unter Berücksichtigung der gesundheitspolitischen Prioritäten seiner Strategie «Gesundheit 2020» hat der Bundesrat als Antwort darauf 2014 das «Nationale Konzept Seltene Krankheiten» (NKSK) und im Jahr darauf den dazugehörigen Umsetzungsplan verabschiedet. Angesichts der damaligen Situation und der Tatsache, dass 2014 auch die «Nationale Strategie gegen Krebs» lanciert wurde, wurden seltene Krebserkrankungen im Konzept nicht berücksichtigt.
Die Umsetzung des «Nationalen Konzepts Seltene Krankheiten» lief Ende 2019 aus, noch nicht abschliessend umgesetzte Massnahmen begleitet das BAG noch weiter. Bei vielen Massnahmen des NKSK fehlten allerdings ein gesetzlicher Auftrag oder die rechtlichen Voraussetzungen für die Durchführung der Projekte oder deren Finanzierung, wie die Unterstützung durch den Bund. Das Parlament hat deshalb 2018 den Bundesrat beauftragt, zu prüfen, wo gesetzlicher Handlungsbedarf besteht, um die Versorgung im Bereich der seltenen Krankheiten sicherzustellen.
Zahlreiche Herausforderungen und Handlungsoptionen
Der Bericht «Gesetzliche Grundlage und finanzielle Rahmenbedingungen zur Sicherstellung der Versorgung im Bereich der seltenen Krankheiten» wurde im Februar 2021 publiziert (4). Er hält fest, dass der Handlungsbedarf – sowohl in legiferierender sowie in finanzieller Hinsicht – vor allem Aspekte der Versorgung, der Vergütung sowie der Information betrifft:
- Zur angemessenen Versorgung von Menschen mit seltenen Krankheiten braucht es spezialisierte Strukturen. In diesem Zusammenhang begrüsst der Bundesrat die bisher geleistete Arbeit der Nationalen Koordination seltene Krankheiten (kosek) sowie der zuständigen Leistungserbringer und der Kantone: Im Jahr 2020 wurde eine erste Liste mit anerkannten, krankheitsübergreifenden Diagnosezentren publiziert. Referenzzentren mit angeschlossenen Netzwerken werden hinzukommen. Es wird sich herausstellen, ob der auf Freiwilligkeit beruhende Prozess gelingt und langfristig sichergestellt werden kann. Falls nicht, muss geprüft werden, ob es einer gesetzlichen Grundlage auf Bundesebene bedarf.
- Diese Versorgungsstrukturen wären auch der richtige Ort, um spezifische Aus-, Weiter- und Fortbildungsangebote anzubieten.
- Eine einheitliche Erfassung der seltenen Krankheiten wäre wesentlich zur Identifikation von Versorgungslücken. Das Schweizer Register für seltene Krankheiten (SRSK) befindet sich derzeit im Aufbau und ist dem Institut für Sozial und Präventivmedizin in Bern angegliedert. Auf der Grundlage des Krebsregistrierungsgesetzes hat das BAG für den Betrieb des Registers eine Finanzhilfe von 250’000 CHF für 2020-2024 gewährt. Längerfristig nachhaltige Finanzierungsmechanismen müssen noch entwickelt werden.
- Anlässlich eines Stakeholdertreffens 2017 haben Forschende signalisiert, dass die heute bestehenden Möglichkeiten hinsichtlich der finanziellen Projekt- bzw. Personenförderung innerhalb der Schweiz für den Bereich der seltenen Krankheiten grundsätzlich ausreichen. Handlungsbedarf besteht aber neben dem Register auch hinsichtlich der Vernetzung (auf nationaler und internationaler Ebene). Neben der Unterstützung von nationalen Forschungsnetzwerken ist das Kernanliegen seitens Forschung die internationale Anbindung – beispielsweise die Teilnahme an Forschungsrahmenprogrammen der EU wie «Horizon Europe».
- Neben der schweizweiten ist die internationale Zusammenarbeit unerlässlich, um Menschen mit seltenen Krankheiten bestmöglich zu versorgen und effizient korrekte Diagnosen stellen zu können. Heute pflegen Schweizer Expert:innen und spezialisierte Zentren rege internationale Kontakte und verfolgen insbesondere die Entwicklungen der Europäischen Referenznetzwerke (ERNs). Leider gibt es heute keine formelle Möglichkeit für Schweizer Einrichtungen, sich diesen anzuschliessen. Das BAG arbeitet an einer Liste über bestehende Mechanismen auf internationaler Ebene, die Schweizer Forschende für die Mittelbeschaffung und Vernetzung nutzen können.
- Heute fehlen nachhaltige Finanzierungslösungen für den in der Versorgung von Patient:innen mit seltenen Krankheiten anfallenden Mehraufwand wie beispielsweise die koordinativen Leistungen durch Leistungserbringer. Einerseits sind hier die Tarifpartner gefordert, andererseits müssen bei Leistungen ausserhalb der Krankheitsbehandlungen oder durch nicht ärztliche Leistungserbringer andere Finanzierungsquellen gefunden werden.
- Die Herausforderungen bei der Vergütung von Arzneimitteln will der Bundesrat in laufenden Gesetzes- oder Verordnungs-Revisionen angehen, wie beispielsweise die Umsetzung von Preismodellen im Rahmen des zweiten Kostendämpfungspakets oder die Vergütung von Arzneimitteln im Einzelfall (off-label-use) in der geplanten KVV-Revision gemäss den Empfehlungen der kürzlich durchgeführten Evaluation von Art. 71a-71d.
- Im Rahmen der IV-Revision wird zurzeit die Geburtsgebrechenliste aktualisiert. Ausserdem soll diese häufiger und nach vorgängiger Anhörung der betroffenen Fachgesellschaften – und wünschenswert auch mit den Patientenorganisationen – angepasst werden.
- Weiterhin nicht zur Diskussion steht für den Bundesrat dagegen eine gesetzliche Grundlage für die Vergütung der Kosten genetischer Analysen, die der Bestätigung einer klinischen Diagnose bzw. gemeinsam mit einer Präimplantationsdiagnostik (PID) einer Trägerabklärung im Hinblick auf eine Schwangerschaft dienen.
- Zur dringend notwendigen Orientierungshilfe ist die Schaffung einer schweizweiten Informationsplattform Seltene Krankheiten in Diskussion, die sowohl medizinische Informationen wie auch Zugang zu geeigneten Beratungsangeboten, Selbsthilfegruppen etc. umfassen könnte. Ausgestaltung und Finanzierung ist allerdings noch offen.
Eine Schlüsselrolle bezüglich fachkompetenter Informationsvermittlung spielen die bestehenden Helplines, die von Universitätsspitälern in Zusammenarbeit mit anderen (beispielsweise Patientenorganisationen) betrieben werden. Ihre nachhaltige Finanzierung gilt es zu sichern. Kantone (GDK), die Betreiber und die kosek sollten einen gemeinsamen Betrieb prüfen.
Das Referenzportal von dem aus 40 Partnerländern bestehende Konsortium «Orphanet» sammelt Informationen zu seltenen Krankheiten und Orphan Drugs, aber auch zu Expertenzentren, Diagnoselabors, zu Forschung und klinischen Studien, zu Patientenorganisationen sowie Fachleuten und Zentren. Bislang finanziert das Universitätsspital Genf (und bis Ende 2020 auch die kosek) die Leistung von «Orphanet Schweiz». Auch hier gilt es, eine nachhaltige Finanzierungsquelle zu erschliessen.
Der Bericht hält zudem fest, dass die Expertise der Patientenorganisationen nicht nur bei der Information und Beratung unerlässlich ist, sondern auch in der Versorgung. Gleichzeitig fehlen ihnen aber oft nachhaltige finanzielle Mittel, um die Informationen aufzubereiten und zu verbreiten. Deshalb wäre die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage (analog zum Konsumentenschutz oder bei Gleichstellungsfragen) erforderlich, die finanzielle Unterstützung zulassen würde. Der Bundesrat hat deshalb das EDI (BAG) beauftragt, bis Ende 2022 dem Bundesrat Bericht zu erstatten, ob und wie eine rechtliche Grundlage für die subsidiäre Finanzierung der Beratungs- und Informationstätigkeit von Patientenorganisationen geschaffen werden soll. Dies ist begrüssenswert, weil Fach- und Patientenorganisationen wie beispielsweise die regionalen und kantonalen Krebsligen bereits heute mit der einfach zugänglichen Beratung und Unterstützung von Betroffenen und Angehörigen sowie den Informationen für Interessierte und Fachleuten einen wesentlichen Beitrag leisten – heute nur ermöglicht durch Spendengelder.
Die aufgezeigten Handlungsoptionen sind auch im Hinblick auf die Herausforderungen der Versorgung von seltenen Krebserkrankungen und insbesondere in der pädiatrischen Onkologie zentral. Es gilt nun, die Bestrebungen zur Verbesserung der gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen bestmöglich zu unterstützen, damit Menschen mit seltenen Krankheiten langfristig optimal versorgt werden können.
Leiterin Politik und Public Affairs Krebsliga Schweiz
1. Website BAG Seltene Krankheiten: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/krankheiten-im-ueberblick/viele-seltene-krankheiten.html
2. Schweizerischer Krebsbericht 2015 des EDI/BFS, NICER und SKKR: https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/nat-gesundheitspolitik/krebs/krebserkrankungen-schweiz/schweizerischer-krebsbericht-2015-stand.pdf.download.pdf/schweizerischer-krebsbericht-2015-stand.pdf
3. Website BAG Nationales Konzept Seltene Krankheiten: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/politische-auftraege-und-aktionsplaene/nationales-konzept-seltene-krankheiten.html
4. Bericht des Bundesrates vom 17. Februar 2021: https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/kuv-leistungen/seltene-krankheiten/bericht-des-br-gesetzliche-grundlage-sicherstellung-versorgung-seltene-krankheiten.pdf.download.pdf/Gesetzliche%20Grundlage%20und%20finanzielle%20Rahmenbedingungen%20zur%20Sicherstellung%20der%20Versorgung%20im%20Bereich%20seltene%20Krankheiten.pdf und Medienmitteilung: https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-82361.html