- 28-jähriger Patient mit in den Kiefer ausstrahlenden Kopfschmerzen temporal links
Anamnese
Jetziges Leiden
Notfallmässige Selbstzuweisung des Patienten aufgrund starker Schmerzen an der linken Schläfe. Der Patient berichtet über linksseitige temporale Kopfschmerzen, welche bis in den Kiefer ausstrahlen und durch Berührung und Kauen verstärkt würden. Zudem verspürt er einen Druckschmerz hinter dem linken Auge. Diese Symptome bestehen seit zwei Wochen mit einer Schmerzstärke von acht von zehn auf der Visual Analogskala (VAS 8/10). In der Nacht kommt es zu einer Verstärkung der Schmerzsymptomatik, sodass er nicht mehr schlafen kann. Er habe zuvor noch nie eine ähnliche Schmerzsymptomatik gehabt. Zusätzlich berichtet der Patient über starke Übelkeit mit täglichem Nüchternerbrechen, was bereits seit sechs Monaten bestehe. Beim Patienten sind weder Migräne noch Cluster- oder andere spezifische Kopfschmerzformen bekannt. Es liegen keine relevanten Vorerkrankungen vor.
Systemanamnese
Der Patient verneint Fieber oder Nachtschweiss sowie nächtliches Zähneknirschen. Dyspnoe, Thoraxschmerzen und Husten, Gelenk- oder Muskelbeschwerden sowie Hautausschläge werden ebenfalls verneint. Miktions- und Stuhlanamnese ist unauffällig. Der Patient gibt Schwindel und Übelkeit mit Nüchternerbrechen an (14, 15).
Befunde
Status
28-jähriger Patient. Glasgow Coma Score (GCS) 15, allseits orientiert (Person, Ort, Zeit, Situation). Blutdruck 137/78 mm Hg, Puls 102/min, Temperatur 37° C, Sauerstoffsättigung unter Raumluft 90 %, Atemfrequenz 15/min, Grösse 180 cm, Gewicht 95 kg, Body-Mass-Index (BMI) 29.32 kg/m2. Enoral: Mundschleimhaut, Zunge, Rachen, Tonsillen reizlos. Der Zahnstatus und Okklusion sind unauffällig, ebenso die Palpation der Kiefergelenke über den äusseren Eingang des Gehörganges. Integument: altersentsprechend unauffällig, leichte Schwellung über der linken A. temporalis mit Druckdolenz.
Cor: reine Herztöne, Karotiden ohne Strömungsgeräusch, Halsvenen nicht gestaut, hepatojugulärer Reflux negativ, keine peripheren Ödeme. A. radialis +/+, A. tibialis posterior +/+, A. dorsalis pedis +/+. Rekapillarisationszeit normal.
Pulmonal: symmetrisch sonore Perkussion, vesikuläres Atemgeräusch über allen Lungenfeldern, keine Nebengeräusche.
Abdomen: normale Darmgeräusche in allen Quadranten, weiches Abdomen ohne Druckdolenzen, Nierenlogen: klopfindolent. Keine Hepato- oder Splenomegalie.
Wirbelsäule: klopf- und druckindolent. Kein axialer Stauchungsschmerz.
Neurologie: kein Meningismus, Pupillen isokor und beidseits prompt lichtreagibel, Visus und Gesichtsfeld in der Fingerperimetrie unauffällig, Hirnnerven III–XII unauffällig, Sensomotorik an allen Extremitäten unauffällig. BSR –/–, TSR +/+, PSR +/+, ASR +/+, Lasègue beidseits negativ, kein Absinken im Arm- und Beinvorhalteversuch, unauffällige Finger-Nase- und Knie-Hacken-Versuche, Gangbild normal.
Labordiagnostik
Basis klein: Differenzialblutbild, Kreatinin, Quick/International Normalized Ratio (INR), Glukose, Kalium, Natrium, Alanin-Aminotransferase, C-reaktives Protein zeigen sich normwertig.
Blutsenkungsgeschwindigkeit: 2 mm/h (< 15 mm/h), Calcium: 2.3 mmol/L (2.09–2.54 mmol/l).
Differenzialdiagnostische Überlegungen
Leitsymptome sind anhaltende, in den Kiefer ausstrahlende, temporale Kopfschmerzen mit lokaler Hyperästhesie und Kiefer-Claudicatio (differenzialdiagnostische Tab. 1).
a. Kiefergelenkarthrose
b. Trigeminusneuralgie
c. Arteriitis temporalis
d. Sinusvenenthrombose
e. Langerhans-Zell-Histiozytose
Weitere Abklärungsschritte,
Therapie und Verlauf
Computertomographie (CT) Neurokranium mit Kontrastmittel:
Es findet sich eine 14 x 11 x 11 mm grosse Osteolyse des Os temporale links ohne Randsklerose und ohne Orbitabeteiligung. Fokal randständig grenzt eine kontrastmittelaufnehmende Weichteilläsion von ca. 2 cm Durchmesser mit bikonvexer Vorwölbung der Weichteile an. Nach i. v.-Kontrastmittelgabe sonst kein pathologisches intraaxiales Enhancement des Hirnparenchyms. Keine intrakranielle Blutung. Normal kontrastierte intrakranielle grosse venöse Blutleiter (Abb. 1 A).
Magnetresonanztomographie (MRI) Neurokranium nativ und mit Kontrastmittel
Es zeigt sich eine kragenknopfartige Weichteilformation links-temporal mit Destruktion der lokoregionären Schädelkalotte, die breitbasig den meningealen Strukturen aufsitzt, eine zentrale Nekrose aufweist und den linken M. temporalis diffus infiltriert. Als mögliche bildmorphologische Differenzialdiagnosen werden ein Hämangioperizytom, ein hochgradiges Meningeom, eine Solitärmetastase bei unklarem Primarius oder ein eosinophiles Granulom diskutiert. Die übrige Schädelkalotte, Weichteile, zerebrale sowie intrakranielle Strukturen sind ohne pathologischen Befund (Abb. 1 B und C).
Weiteres diagnostisches Vorgehen und Therapie
Zur Diagnosesicherung ist eine histologische Aufarbeitung unumgänglich. Aufgrund des umschriebenen und chirurgisch gut zugänglichen Befundes wird der Entscheid zur mikrochirurgischen Komplettresektion der Läsion mit Rekonstruktion der Schädelkalotte gestellt. Der Eingriff kann komplikationslos durchgeführt und das Resektat der neuropathologischen Aufarbeitung zugeführt werden (Abb. 2 A).
Diagnose
Histologisch finden sich histiozytäre Zellen mit entzündlichen Infiltraten, sowie einzelnen mehrkernigen Riesenzellen. Immunhistochemisch sind die Langerhans-Zellen durch die Expression des CD1a-Antigens und Langerin (CD207) charakterisiert. Zudem können in den Langerhans-Zellen S100-Proteine nachgewiesen werden. Damit ist die Diagnose einer umschriebenen Langerhans-Zell-Histiozytose gestellt. Immunhistochemisch zeigte sich zusätzlich eine BRAFV600E-Mutation (Abb. 3 A–G). Während der endokrinologischen Untersuchungen wurden laborchemisch erniedrigtes Prolaktin, Testosteron sowie SHBG gemessen, jedoch ohne Substitutionsbedarf. Im MRI des Schädels zeigte sich kein hypophysäres Korrelat als Ursache des Hormonmangels. Der erniedrigte SHBG-Wert ist durch die Adipositas erklärbar. Internistisch zeigten sich keine pulmonalen sowie dermatologischen Auffälligkeiten.
Charakteristika der Langerhans-Zell-Histiozytose sind die akute und disseminierte Infiltration verschiedenster Organe wie Lunge, Knochenmark, Haut, Leber, Milz oder Lymphknoten. Generell kann die Erkrankung jedes Organ oder jede Körperregion befallen. Unbehandelt hat sie eine hohe Letalität. Am häufigsten beteiligte Organe sind das Skelettsystem (80 %), die Haut (33 %) und die Hypophyse (25 %). Tumoröse ZNS-Läsionen sind selten und nur in 6 % der Fälle vorhanden (9).
Weiterer Verlauf
Es zeigt sich ein perioperativer komplikationsloser Verlauf ohne fokal-neurologische Defizite. In der postoperativen MRI zeigt sich eine Komplettresektion, und der Patient ist beschwerdefrei (Abb. 1 D und E). Eine vier Monate nach der Operation durchgeführte F-18-Fluorethyltyrosin, Radionuklid (FET) Positronen-Emissions-Tomographie (PET) CT gibt keine Hinweise auf weitere Läsionen (Abb. 2 B)
GZO Spital Wetzikon
Spitalstrasse 66
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sena.oezkaratufan@gzo.ch
Oberärztin an der Klinik für Neurochirurgie
Universitätsspital Zürich
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Klinikdirektor. Klinik für Neurochirurgie
Universitätsspital Zürich
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Oberarzt, Institut für Neuropathologie
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Kaderärztin Endokrinologie
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Leitender Arzt Kardiologie
Chefarzt Medizin
Departementsvorsteher Medizin
GZO AG Spital Wetzikon
Spitalstrasse 66, 8620 Wetzikon
Die Autorinnen und Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
1. (Olesen) Die Internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen, 3. Auflage – ICHD-3 https://ichd-3.org/de/
2. Werner Hacke: Neurologie. 14. Auflage Springer 2016, ISBN: 978-3-662-46891-3
3. Göbel: Die Kopfschmerzen. 3. Auflage Springer 2012, ISBN: 978-3-642-20694-8.
4. Brandt et al.: Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen. 6. Auflage Kohlhammer 2012, ISBN: 3-170-21674-0
5. Herold et al.: Innere Medizin 2020. Herold 2020, ISBN: 978-3-981-46609-6
6. Schirmer et al.: S2k-Leitlinie: Management der Großgefäßvaskulitiden, Zeitschrift für Rheumatologie, Band: 79, Nummer: S3, 2020
7. Hellmich: Management der Polymyalgia rheumatica und der Großgefäßvaskulitiden, Der Internist, Band: 57, Nummer: 11, 2016
8. Einhäupl et al.: EFNS guideline on the treatment of cerebral venous and sinus thrombosis in adult patients, European Journal of Neurology, Band: 17, Nummer: 10
9. Velz et al.: Isolated intracerebral Langerhans cell histiocytosis with multifocal lesions, 2017
10. Dapprich J: Interdisziplinäre Funktionstherapie, Kiefergelenk und Wirbelsäule 2. Auflage 2018 Deutscher Ärzteverlag Köln
11. AMBOSS GmbH; Kapitel: Trigeminusneuralgie, [https://next.amboss.com/de/article/ii0Jrf?q=trigeminusneuralgie#Z728498cdd6c4f42bfbf97316943e12c0; Kapitel zuletzt aktualisiert am: 17.07.2023; Kapitel zitiert am: 05.10.2023]
12. AMBOSS GmbH; Kapitel: Riesenzellarteriitis, [https://next.amboss.com/de/article/1T02p2?q=arteriitis%20temporalis#Z9c9425c966e9c3d2f1c3e2571fe7c779; Kapitel zuletzt aktualisiert am: 26.07.2023; Kapitel zitiert am: 05.10.2023]
13. AMBOSS GmbH; Kapitel: Zerebrale Sinus- und Venenthrombose, [https://next.amboss.com/de/article/SR0ymf?q=sinusvenenthrombose%20-%20kodierung%20nach%20icd#Zbfde1da893cadee909c0ad94adb71e32; Kapitel zuletzt aktualisiert am: 16.05.2023; Kapitel zitiert am: 05.10.2023]
14. Datenbank Universitätsspital Zürich, Neurochirurgie, Neuropathologie
15. Krankenakte, Universitätsspital Zürich Neurochirurgie, GZO Spital Wetzikon Innere Medizin
PRAXIS
- Vol. 113
- Ausgabe 6-7
- Juli 2024